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Sonja Silberhorn, Jahrgang 1979, ist in Regensburg geboren und aufgewachsen. Sie arbeitete mehrere Jahre in der Hotellerie, unter anderem auf den Kanaren und in Berlin, doch dann überwog die Liebe zu ihrer Heimatstadt. Heute lebt sie dort mit ihrer Familie und schickt seit 2011 ihre Kriminalkommissare erbarmungslos durchs lokale Verbrecherdickicht.

www.sonja-silberhorn.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Rudolf Rinner

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-291-5

Originalausgabe

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Prolog

Er lag auf der Pritsche, starrte an die Decke, von der ein schmuckloser, vergilbter Kegel-Lampenschirm hing. Er regte sich nicht, nur in seiner linken Hand spürte er manchmal ein nervöses Zucken, das er zu unterdrücken suchte. In seinem Inneren jedoch schlug der alles verzehrende Hass wilde Kapriolen, drehte, wendete und schlängelte sich, heute genau wie an jedem anderen Tag des vergangenen Jahres. Vierzehn Monate und zwölf Tage, um genau zu sein, die er nun schon in diesem verdammten Loch hauste. Zu hausen gezwungen war. Er, ausgerechnet.

Zu Beginn hatte er noch versucht, sich an die neuen Spielregeln zu gewöhnen. Jedes verfluchte Buch dieser jämmerlichen Bibliothek hatte er gelesen, jede Dokumentation auf den Öffentlich-Rechtlichen genutzt, um dazuzulernen – um was auch immer dazuzulernen. Es hatte eine Weile gedauert, doch irgendwann fühlte sich jede Doku wie eine Wiederholung an, bei jedem Roman hatte er das Gefühl, ihn schon zigmal gelesen zu haben, alles erzählte ihm nur von Dingen, die ihn langweilten oder die er längst wusste.

Der knasteigene Psychotherapeut hatte von einer milden Depression gesprochen und ihm Tabletten verordnet, doch er verzichtete auf Chemie und fand schließlich etwas anderes, das half. Erst war es nur ein Fünkchen gewesen, klein, lodernd, das aber schnell an Kraft gewann und schließlich alles andere versengte. Rache.

Er flüsterte es in die Stille: »Rache.« Allein das Wort schmeckte scharf und süß zugleich, würzig und heiß, und vertrieb den faden Geschmack des Gefängnisalltags aus seinem Mund.

Rache. Sie würden bezahlen, adäquat, jeder auf seine Weise.

Der armselige kleine Penner dafür, dass seine Gier den Stein erst ins Rollen gebracht hatte. Diese Gier würde er sich zunutze machen.

Der Verräter dafür, dass er sie alle hingehängt hatte, um den eigenen Arsch zu retten.

Und schließlich der gottverdammte Bulle dafür, dass er sie alle hinters Licht geführt und in den Knast gebracht hatte. Er trug die Schuld an der verlorenen Zeit und der bodenlosen Eintönigkeit, an den zerstörten Chancen und diesem Leben, das ihm nicht bestimmt war.

Er presste die Zähne aufeinander, bis sie knirschten, und schmeckte Galle in seinem Mund. Der Gedanke an das verfluchte Bullenschwein zerfraß ihn vor Wut. Hab Geduld, beschwor er sich selbst. Es ist nur eine Frage der Zeit. Er würde alles daransetzen, ihn zu finden. Und dann, endlich. Dann würde diese Ratte büßen. Unsagbar leiden. Und bitterlich bereuen.

EINS

Zwei Jahre später, Januar

»Wie findest du Ole?«

Kriminaloberkommissar Raphael Jordan schreckte auf. Das nur mäßig unterhaltsame Montagabend-Fernsehprogramm hatte seine Gedanken abschweifen lassen. Er versuchte, das mulmige Gefühl, irgendwo zwischen Brust und Magengrube gelegen, auszublenden, und sah Sarah verständnislos an. »Welchen Ole? Heißt so der neue Kollege aus dem K3?« Der Mittfünfziger war ihm heute Vormittag vorgestellt worden, hatte aber keinen nennenswerten Eindruck hinterlassen.

»Natürlich nicht.« Sarah seufzte und deutete auf ihren mittlerweile nicht mehr zu leugnenden Kugelbauch. »Etwas mehr Engagement, wenn ich bitten darf. Immerhin besteht Murkel zu fünfzig Prozent aus deinen Genen. Also, wie findest du Ole?«

»Das wird ja immer kurioser«, erwiderte Raphael kopfschüttelnd und hoffte, dass es sich nicht um einen ernstgemeinten Vorschlag handelte. Er beugte sich vor und wandte sich an Sarahs Bauchdecke. »Und dann nennen wir dein Brüderchen Lasse und ziehen nach Bullerbü, was meinst du?«

»Scherzkeks. Wenigstens habe ich ein paar Ideen.« Sarah schmollte, und angesichts seines eigenen Mangels an Vorschlägen konnte er es ihr noch nicht einmal verdenken.

Andererseits blieben für die erfolgreiche Namensfindung noch rund vier Monate Zeit. »Ja, aber was für welche. Fällt dir nichts … na ja … irgendwie Normales ein?«

»Nö. Ole Sonnenberg …«, sinnierte sie. »Finde ich eigentlich ganz gut.«

»Oder Ole Jordan?«

»Das Thema hatten wir doch schon.« Sie winkte ab – auch das nicht zum ersten Mal. »Das Kind heißt wie die Mama, basta.«

»Auch die Mama kann Jordan heißen«, erwiderte Raphael automatisch und musste dann doch schmunzeln angesichts dieses ständig wiederkehrenden Dialogs.

»Das kann sie aber auch hübsch bleiben lassen«, fuhr er fort, im gleichen spröden Tonfall, in dem auch Sarah es in diesem Augenblick sagte, und fing sich dafür einen sachten Knuff in die Rippen und einen liebevollen Kuss ein.

Er hatte akzeptiert, dass Sarah weder gedachte, ihn zu heiraten, noch in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Insgeheim vertraute er aber darauf, dass sie spätestens nach der Geburt doch noch zur Vernunft kommen würde, wenigstens was die gemeinsame Wohnung anging. In ihrer Vierzig-Quadratmeter-Bude würde sie Murkel sowieso auf der Herdplatte wickeln müssen.

»Also dann wohl eher kein Ole?«, fragte sie noch der Form halber, schrieb den Namen aber bereits auf ihre So-soll-unser-Kind-nicht-heißen-Liste, direkt unter »Brutus« und »Philomena« – zum allgemeinen Bedauern war sich die Gynäkologin aufgrund Murkels verklemmter Beinhaltung bezüglich des Geschlechts noch nicht sicher.

»Du hast recht, immerhin haben wir Murkel auf den Seychellen gezeugt. Was Nordisches passt da sowieso nicht.« Mit einem zufriedenen Lächeln sah sie auf. »Aber wir kommen dem Ergebnis stetig näher. Irgendwann haben wir alle Namen bis auf den Einen, den Richtigen, den Hundertprozentigen ausgeschlossen.«

»Bestimmt«, antwortete Raphael.

»Vielleicht wäre ja auch was ganz Ausgefallenes toll.« Mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln legte sie die Liste wieder beiseite.

Noch ausgefallener? Raphael schluckte.

»Vielleicht nach der Art der Entstehung oder so«, sinnierte Sarah weiter.

»Du willst unser Kind ›Geschlechtsverkehr‹ nennen?«, fragte er entgeistert. Himmel noch mal, langsam bekam er es wirklich mit der Angst zu tun.

»Vielleicht nicht ganz so direkt«, antwortete sie missbilligend. »Vielleicht ein bisschen romantischer? Und irgendwie … verschlüsselt? In einer fremden Sprache?«

»Tolle Idee. Ich google gleich mal, was ›Angeschickertes Paar im Jacuzzi‹ auf Suaheli heißt.«

Mit einem entschiedenen Kopfschütteln lehnte Sarah sich zurück. Glück gehabt. Diese Idee schien sogar ihr zu abgefahren zu sein.

Immerhin, Sarahs neueste Geschmacksverirrungen hatten ihn wenigstens für ein paar Minuten abgelenkt. Dabei konnte er noch nicht einmal konkret sagen, wovon. Das bedrückende Gefühl, das ihn seit ein paar Tagen begleitete, hatte kein Gesicht und keinen Namen, prickelte nur ab und an in seinem Nacken wie eine unbekannte Bedrohung, die er erahnte, aber nicht greifen konnte.

Wahrscheinlich nur die übliche Angst, beruhigte er sich selbst. Die Angst, die sich immer in ihm breitmachte, wenn alles ein bisschen zu glatt lief, wenn er einfach nur glücklich sein sollte. Die Furcht davor, alles zu verlieren, was ihm wichtig war, wie schon einmal, damals, vor fast sechs Jahren.

Die Situation war einfach zu ähnlich. Sicher war es ganz normal, sich jetzt davor zu fürchten, den gleichen Alptraum noch einmal durchleben zu müssen.

Verdammt, wie er diese ganze Psychokacke hasste! Wieder einmal wünschte er sich nichts mehr zurück als seine frühere Unbeschwertheit. Aber die war damals wohl ein für alle Mal aus seinem Leben verschwunden.

***

Normalerweise hätte ich dem Kollegen vom Kriminaldauerdienst, der es wagte, mich um fünf Uhr morgens anzurufen und zu einem Tatort zu beordern, in den darauffolgenden Tagen mit einem eiskalten Lächeln Salz in den Kaffee geschüttet, das letzte Stück Geburtstagskuchen auf dem Büfett in der Teeküche vor der Nase weggeschnappt und das Tipp-Ex-Fläschchen auf dem Schreibtisch mit knallrotem Nagellack aufgefüllt.

Und auch das Wissen darum, dass der KDD wie immer überlastet war und der Fall im Laufe des Tages sowieso bei uns gelandet wäre, hätte daran nichts geändert. Unter anderen Umständen hätte besagter Kollege seinen frühen Anruf also sicherlich bereut.

In anderen Umständen aber, und in denen befand ich mich schließlich, hatte ich um fünf Uhr morgens den Kampf gegen die allnächtliche Schlaflosigkeit längst auf- und mich stattdessen der Langeweile ergeben, saß auf der Couch vor dem – aus Rücksicht auf den im Nebenzimmer selig schlummernden zukünftigen Herrn Papa – lautlos gestellten Fernseher und starrte Löcher in die Luft.

Ich hatte also gerade wirklich nichts Besseres vor, flüsterte deshalb nach Ende des Telefonats tatsächlich »Yippie, eine Leiche!«, sprang unter die Dusche, schlüpfte dann in formlose Jeans mit Gummibund und einen Pulli, den ich nach der Geburt guten Gewissens auf der nächsten Campingbörse als geräumiges Großraumzelt anbieten würde, und schickte mich an, Raphaels süßen Träumen um zwanzig nach fünf den Garaus zu machen.

Liebe Leserin, lieber Leser, es ist nicht so, dass ich ihm seinen Schlaf missgönne. Wirklich nicht. Na gut, ein bisschen vielleicht … Schließlich ist er zu fünfzig Prozent dafür verantwortlich, dass ich mir derzeit die Nächte um die Ohren schlage, während ich die Tage aufgrund permanenter Müdigkeit und Erschöpfung nur noch hinter einem gefühlten Grauschleier erlebe. Andererseits: Soll er jetzt ruhig noch schlafen. Wenigstens einer muss ja fit und ausgeruht sein, wenn Murkel endlich fertig ausgebrütet ist. Und da ich mich dann verdientermaßen für ein halbes Jahr ins Bett verziehen werde, brauche ich einen belastbaren Mann ohne auch nur den geringsten Hauch eines Burn-outs.

Im Übrigen: Schön, dass Sie zu dieser Lektüre gegriffen haben! Sie möchten wissen, wer genau Sie hier mit diesen skurrilen Zukunftsplänen belästigt? Ja, ich bin es wieder: Sarah Sonnenberg, Kriminaloberkommissarin im K1 der Regensburger Kripo, dreißig Jahre alt und liiert mit meinem Kollegen Raphael Jordan, was in unserer Beziehung rund um die Uhr für echte Mordsstimmung sorgt. So auch jetzt, natürlich. Höchste Zeit, die Schnarchnase aus dem Bett zu werfen.

Eine halbe Stunde später trafen wir auf dem schmalen, in der Nähe des Wasserkraftwerks gelegenen Ende der Donauinsel ein, das Andy vom KDD mir am Telefon genannt hatte. Trotz der frühen Stunde dröhnten die Motoren von der darüber verlaufenden Autobahnbrücke; die Blaulichter und Scheinwerfer tauchten die Szenerie in ein gespenstisches Licht, erhellten aber immerhin so viel von diesem Stückchen Erde, dass man erkennen konnte: Dieser hinter einem leichten Anstieg versteckte Teil der Insel gehörte nicht zu den bestgepflegten Ecken unserer ansonsten für die Touristen auf Hochglanz polierten Stadt. Reichlich Müll säumte unseren Weg – zertrampelte Tetra Paks, Plastiktüten, leere Zigarettenschachteln, teils so verrottet, als hätte sich hier jahrelang niemand für die Müllentsorgung interessiert.

Es lag kaum noch Schnee, nur Matsch schmatzte unter unseren Schuhsohlen. Mit Schlamm durchsetztes Gras und wild wachsende Sträucher neben den bröckelnden Betonfliesen taten ihr Übriges, um den Eindruck völliger Verwahrlosung zu manifestieren. Der perfekte Drogenumschlagplatz, fiel mir spontan ein. Hier hielt sich nachts bestimmt kein gesetzestreuer Bürger freiwillig auf.

Aufgrund des Autobahnlärms hatte wohl niemand unsere Ankunft bemerkt, aber als wir den Abhang hinuntereilten, löste sich ein Schatten aus der hektisch wirkenden Gruppe, die sich zwischen den beiden Brückenpfeilern versammelt hatte.

»Morgen«, murmelte Andy knapp, als er uns erreicht hatte. »Wir haben eine männliche Leiche, knapp über dreißig, mit massiven Verletzungen. Sieht nicht schön aus. Aber immerhin noch frisch.«

»Von der Brücke gesprungen?«, fragte Raphael und warf einen Blick hinauf zu dem dröhnenden Asphalt über uns.

»Unwahrscheinlich.« Andy schüttelte den Kopf. »Er ist noch in einem Stück. Außerdem liegt er neben einem Pfeiler unter der Brücke.«

»Wie ist er gefunden worden?«

»Zufall«, antwortete Andy. »Zwei Kollegen von der Streife haben eine Runde am Ufer entlang gedreht und sich dann für eine Zigarettenpause auf die Anhöhe gestellt. Der Autoscheinwerfer war noch an, und so haben sie ihn dann liegen sehen.«

Ich brachte die letzten Meter hinter mich und quetschte meine Wampe beherzt zwischen zwei Kollegen von der Spurensicherung hindurch.

Nein, schön anzusehen war der Mann, der da seltsam verrenkt vor mir auf dem schmutzigen Boden lag, wahrlich nicht. Er lag auf der Seite, das obere Bein haltsuchend nach hinten gebogen, das untere abgewinkelt, der Fuß seltsam verdreht. Neben seinem Kopf, an dem das dunkle Haar blutverschmiert klebte, lag eine dunkelblaue Kappe. Zahlreiche blutige Wunden verunstalteten sein Gesicht, sodass von seiner linken Gesichtshälfte kaum etwas zu erkennen war. Im Gegensatz dazu war die rechte Hälfte bis auf eine Schramme auf Höhe des Wangenknochens weitgehend unversehrt. Sein Oberkörper lag nach vorn gekrümmt, die Hände waren schützend um den Bauch geschlungen. Seine schwarze Steppjacke starrte vor Dreck und wies einen Riss auf, aus dem das Futter quoll, und auch die Jeans und Turnschuhe sahen reichlich lädiert aus.

»Wir sollten weiträumiger absperren«, sagte ich, nur um irgendwie in Gang zu kommen und einen Anfang zu finden. »Am besten direkt dort oben«, wies ich zum Scheitelpunkt der Anhöhe hinauf, »damit wir ungestört den ganzen Teil der Insel durchkämmen können, wenn wir endlich Tageslicht haben. Oder?«, fragte ich an Raphael gewandt, der Position neben mir bezogen hatte und aus seinen grünen Augen wie paralysiert auf die Leiche starrte.

Ich fasste die ausbleibende Antwort als Zustimmung auf und wandte mich wieder an Andy. »Haben wir Personalien?«

»Ja«, antwortete er und wies mit dem Kopf auf die Leiche. »Sein Geldbeutel mit Ausweis lag neben ihm. Ist ihm wohl aus der Tasche gefallen. Johannes …« Der Nachname schien ihm nicht mehr einzufallen.

Raphael hatte zischend eingeatmet, als der Vorname des Toten gefallen war, jetzt fixierte er ihn immer noch mit unverwandtem Blick. Täuschte die ungünstige Beleuchtung, oder war er plötzlich schrecklich blass?

Er schüttelte den Kopf, als bemühte er sich, wieder zu sich zu kommen. Eine lange dunkelblonde Strähne löste sich aus seinem schlampig zurückgebundenen Haar. »Bengler«, sagte er tonlos.

»Genau.« Andy bedachte Raphael mit einem irritierten Blick. »Johannes Bengler. Aus Wolnzach.«

»Joe«, flüsterte Raphael kaum hörbar.

Joe? »Ihr kennt euch?«

***

Ja, sie kannten sich. Aus einem früheren Leben, mit dem Raphael nichts mehr zu tun haben wollte.

»Alter, du bist genau sein Fall«, hatte Joe damals gesagt und sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagert, immer und immer wieder. Sein Gesicht war verzerrt, trotz der kühlen Temperaturen bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn, die er im Sekundentakt mit zitternden Händen fortwischte. Der Entzug fing an, wehzutun.

»Und was macht dich da so sicher?« Raphael klang schroff, sein Ton verriet nichts von seiner inneren Anspannung. Nur die Verachtung war zu hören, die Verachtung für das armselige Würstchen vor ihm, das für ein bisschen Stoff seine eigene Mutter verkaufen würde.

»Er braucht immer fähige Leute. Macher. Wie dich.«

Zu gern hätte Raphael höhnisch aufgelacht angesichts der Durchschaubarkeit, mit der dieser Drecksjunkie ihm Honig ums Maul schmierte, aber er beherrschte sich. »Und du bist dir sicher, dass du den Kontakt herstellen kannst?«

»Klar.« Joes Großmäuligkeit stand in krassem Kontrast zu der krummen Körperhaltung, in die ihn die Schmerzen zwangen.

»Wann?«

»Morgen«, keuchte Joe mehr, als dass er es sagte. »Selbe Zeit, selber Ort.«

»Okay.« Raphael schnippte seine Zigarette weg, holte das kleine Papierbriefchen aus der Hintertasche seiner Jeans, hielt es Joe vor die Nase und zog es blitzschnell weg, als Joe danach griff. »Komm nicht auf die Idee, mich zu verarschen.«

Joe nickte, zu keinen Worten mehr fähig, und Raphael drückte ihm das Papierbriefchen in die schweißnasse Hand.

»Krepier bis morgen Abend nicht an dem Zeug.« Grußlos drehte er sich um und ging davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Er hatte den Penner dort, wo er ihn haben wollte. Wenn Joe sein Wort hielte, wäre er seinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.

»Woher, Raphael?« Sarah bedachte ihn mit einem teils prüfenden, teils besorgten Blick. Angesichts ihres dezent genervten Tonfalls war klar, dass sie diese Frage nicht zum ersten Mal stellte.

Raphael atmete tief ein. Du bist im Hier und Jetzt, Jordan! Du bist in Regensburg und stehst unter der Autobahnbrücke, neben dir die Frau, die du liebst und die euer Baby in sich trägt. Und dass ausgerechnet Joe vor dir liegt, und zwar mausetot, ist nichts anderes als ein dummer Zufall. War doch klar, dass er die Finger nicht von den Drogen lassen kann, und ebenso klar war, dass er nicht mit achtzig Jahren friedlich in seinem Bett eines natürlichen Todes stirbt. Oder was hast du von diesem armen Schwein erwartet? »Aus München«, antwortete er knapp.

»Deine Antworten waren schon mal informativer.« Jetzt blickten ihre goldbraunen, im Scheinwerferlicht funkelnden Augen mit leisem Vorwurf zu ihm auf.

Auch Andys Blick war auf ihn gerichtet, die Neugier nur schlecht verborgen. Kam schließlich nicht alle Tage vor, dass ein Kollege auf Du und Du mit dem aktuellen Opfer stand.

Raphael winkte ab, auch wenn es ihn große Beherrschung kostete, sich seinen innerlichen Aufruhr nicht anmerken zu lassen. »Drogen«, sagte er nur, als sei das Erklärung genug.

Für Andy schien die Angelegenheit damit erledigt, er wandte sich einem Kollegen vom Erkennungsdienst zu. Sarah hingegen ließ ihn nicht so leicht davonkommen. »Hast du gegen ihn ermittelt?«

»Nicht direkt«, antwortete Raphael zögerlich, während er überlegte, wie viel er erzählen konnte, ohne ihre Besorgnis zu wecken. Andererseits: Weshalb Besorgnis? München lag gerade einmal gute hundert Kilometer entfernt. Dass einer wie Joe im Laufe seiner Drogenkarriere die Runde durch sämtliche nahe gelegenen Großstädte machte, war nicht so ungewöhnlich, und Regensburg war ohnehin schon allein aufgrund der Nähe zu Tschechien ein Hotspot für die Szene. Also blieb er am besten bei der Wahrheit. »Er war nur ein kleiner Junkie, der sich mit den falschen Leuten eingelassen hatte. Dass er im Knast gelandet ist, war eher …«

»Ein Kollateralschaden«, vollendete Sarah den Satz folgerichtig. »Trotzdem, du hast damals verdeckt ermittelt. Das ist doch scheiße, wenn hier plötzlich einer auftaucht, der wegen dir in den Bau gewandert ist.«

Ja, das fand Raphael auch. Und in Kombination mit dem seltsamen Gefühl, das er in den letzten Tagen einfach nicht losgeworden war, beunruhigte ihn Joes Erscheinen noch weit mehr. »Aber nicht zu vermeiden«, entgegnete er bemüht beiläufig und streifte Sarah eine störrische braune Strähne zurück unter die Mütze.

»Und was soll schon passieren? Leute wie Joe und ich haben nicht unbedingt den gleichen Wirkungskreis. Wäre er nicht tot, wäre er mir hier garantiert nicht begegnet. Und wenn doch: Auf der Straße im Vorbeigehen hätte er mich sowieso nicht erkannt, um Jahre gealtert und mit dem hier.« Er griff sich grinsend in den Bart, den er trug, seit Sarah sich nach der letzten Anwandlung von Rasierfaulheit dafür ausgesprochen hatte. »Also keine Panik. Wir müssen nicht nach Thailand auswandern.«

Unweigerlich erinnerte er sich daran, dass ihn sein Chef damals, nach dem Ende dieses Falles, der zugleich sein letzter als verdeckter Ermittler bei der Drogenfahndung gewesen war, für zweieinhalb Monate genau dorthin verbannt hatte, eben weil das Pflaster in München zu heiß geworden war.

Sarah zuckte mit den Achseln, als wüsste sie nicht, ob sie ihm glauben sollte. Seine Beschwichtigungen waren wohl schon mal überzeugender gewesen.

***

Auch wenn es mir nicht gefiel, dass ausgerechnet einer von Raphaels Junkies tot auf dieser Donauinsel lag, so beanspruchte die Arbeit meinen übernächtigten Geist und den von einem äußerst lebhaften Murkel malträtierten Körper so sehr, dass ich kaum Zeit hatte, darüber nachzudenken.

Ich hatte die Personalien des Toten überprüft, die Kollegen bei der Absperrung instruiert und die Pressestelle informiert. Erst als Dr. Melchior, der zuständige Rechtsmediziner des Instituts in Erlangen, eingetroffen war, fand ich mich wieder bei der Leiche ein. Bedauerlicherweise war sie durch das trübe Tageslicht unter einem dunkelgrauen Morgenhimmel nicht hübscher geworden.

»Das sieht mir doch stark danach aus, als wäre der Dode erschlagen worden.« Melchior beugte sich wie üblich freudig erregt über den Grund seiner Anwesenheit. »Der Zustand der Kleidung, die starken Einblutungen im Gesichts- und Kopfbereich … Das sind Spuren eines brutalen tätlichen Angriffs.«

»Also gibt es mit ein bisschen Glück Gewebeproben vom Täter«, folgerte Moritz, Kollege Nummer drei im Bunde, der zwischenzeitlich eingetroffen war und sich – nachdem wir (oder besser gesagt, sein großer Held Raphael) ihn vor ein paar Monaten aus dem tödlich langweiligen K3 gerettet hatten – wie üblich zu Beginn der Ermittlungen vor Eifer und echtem Interesse überschlug. Leider flaute sein Enthusiasmus ebenso rasch wieder ab, wenn sich keine schnellen Ermittlungserfolge abzeichneten.

»Immer langsam«, bremste ihn Melchior. »Erst einmal müssen wir uns um den Doden selbst kümmern, bevor wir zum Täter kommen.«

Mit zuckenden Mundwinkeln sah ich zu Raphael, der sich über Melchiors »fränggische Dode« grundsätzlich scheckig lachte. Heute verzog er jedoch keine Miene. »Können Sie uns schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«, fragte er stattdessen.

»Eine Temperaturmessung macht keinen Sinn«, erklärte Melchior und begann, ein Hosenbein des Toten aufzuschneiden. »Dafür ist es zu kalt, da kühlt auch die Leiche schneller aus. Aber sehen Sie hier.« Er wies auf das nackte Bein des Opfers. »Es sind bereits Dodenflecke entstanden.«

Er drückte mit seinen behandschuhten Händen beherzt auf die dunkelroten Verfärbungen, die sich auf der zum Boden zeigenden Seite des Beines gebildet hatten. »Die Flecken lassen sich aber noch gut wegdrücken. Außerdem …« Er knickte das Bein am Kniegelenk ab oder versuchte es zumindest – das Bein gab kaum nach. »Ja, außerdem hat die Dodenstarre eingesetzt.«

Triumphierend blickte er zu uns nach oben. »Gehen Sie davon aus, dass der Dodeszeitpunkt etwa sechs bis zehn Stunden zurückliegt. Genaueres kann ich Ihnen eventuell nach der Sektion und der Untersuchung des Mageninhalts sagen.«

»Guten Appetit«, flüsterte Moritz, und ich zwinkerte ihm zu, aber Raphael ignorierte den Kommentar seines Schützlings und zog sein iPhone aus der Tasche. »Also zwischen elf Uhr abends und drei Uhr morgens. Meinen Sie, der Tod ist unmittelbar eingetreten?«

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir die genaue Dodesursache kennen.« Melchior tätschelte beinahe liebevoll das Bein der Leiche. »Dann mal ab mit dir nach Erlangen, mein Kleiner.«

ZWEI

Raphael und ich hatten Moritz dazu verdonnert, Dr. Melchior nach Erlangen zu begleiten und der Sektion beizuwohnen, sodass wir uns darum kümmern konnten, Informationen über das Opfer einzuholen. Raphael konnte sich nicht mehr an die Details erinnern, schließlich war Joe nur ein kleines Licht gewesen. Außerdem schien es Raphael unangenehm zu sein, darüber zu sprechen, und so forderte ich stillschweigend Joes Akte an, auch wenn es mich insgeheim ärgerte, dass mein Freund aus seiner Zeit als verdeckter Ermittler immer noch ein solches Geheimnis machte.

Bereits am Telefon gab mir Sekretärin Erna einen kurzen Überblick über Joes »Karriere«. Zahlreiche Vorstrafen wegen Drogenbesitzes und verschiedener Raubüberfälle, allerdings der weniger schweren Art, ließen darauf schließen, dass er der Sucht seit mindestens fünfzehn Jahren verfallen war. Und dass Raphael recht gehabt hatte: Joe war kein Alphatier gewesen, sondern ein kleiner glückloser Junkie, dem auch diverse Therapien nicht helfen konnten.

Joe war in Wolnzach gemeldet, einem Zehntausend-Seelen-Ort an der A 93. Wir fuhren regelmäßig daran vorbei, wenn wir Raphaels Eltern oder Freunde in München besuchten, und normalerweise genoss ich diesen Teil der Fahrt, der durch die Hallertau, das größte zusammenhängende Hopfenanbaugebiet der Welt, führte. Mit ihren sanften Hügeln, den kleinen Orten und den im Sommer mit Hopfen überwucherten, unzähligen in absoluter Gleichmäßigkeit aufgestellten Stangen, die die Autobahn wie ein Heer Soldaten säumten, strahlte die Hallertau auf mich eine angenehme ländliche Ruhe aus.

Jetzt, im trüben Januar jedoch, wirkte sie so grau, verlassen und trist, wie es dem Anlass unserer Fahrt entsprach.

Zügig fuhr Raphael von der Autobahn ab, ignorierte die an prominenter Stelle angebrachten Schilder, die werbewirksam auf das Hopfenhotel, das Hopfenmuseum und die Pension Hopfengold hinwiesen, und fuhr stattdessen, den Anweisungen des Navis entsprechend, folgsam geradeaus weiter auf die Hopfenstraße.

»Da sehnt man sich zur Abwechslung direkt mal nach ein wenig Malz«, murmelte ich vor mich hin.

»Hm.« Raphael hatte die Stirn krausgezogen, schon die ganze Fahrt über, und lenkte den Wagen geistesabwesend und weitgehend schweigend durch das trüb-graue Januarwetter.

»Ich hasse es«, sagte ich wahrheitsgemäß und konnte mir ein kleines Seufzen nicht verkneifen. Tatsächlich graute es mir über alle Maßen vor dem anstehenden Besuch bei Joes Mutter, bei der er zuletzt wieder gewohnt hatte.

»Hm.« Ohne nennenswerte weitere Reaktion bog Raphael nach rechts ab.

»Wenn du weiter so viel quasselst, bluten mir bald die Ohren, mein Schatz«, sagte ich mit einem schnellen Seitenblick.

»Hm«, antwortete er unbeeindruckt.

»Deine Großtante Adelgunde hat gestern angerufen«, setzte ich noch eins drauf. »Sie hat beschlossen, dir die Termitenzucht in Tansania zu überlassen und stattdessen als Flötistin mit der Kelly Family aufzutreten.«

»Hm.«

Jetzt war es amtlich. »Du hörst nicht zu«, folgerte ich messerscharf.

»Was sagst du?« Raphael schreckte auf und rang sich zu einem Lächeln durch. »Sorry. Ich habe nachgedacht.« Mit einer zärtlichen Geste griff er nach meiner Hand.

»Über Joe?«, fragte ich behutsam.

»Auch«, antwortete er ohne weitere Erklärungen.

***

Er hatte es geahnt, aber die Gewissheit fühlte sich trotzdem bitter an. Joe hatte den Absprung also nicht geschafft. Bis zuletzt hatte es für ihn nichts gegeben, was die Mühe wert gewesen wäre, auf Drogen zu verzichten. Denn davon war Raphael überzeugt: In irgendeiner Weise hatten Drogen mit seinem Tod zu tun.

Hatte er sich nach einer Schlägerei versehentlich den goldenen Schuss gesetzt? Sich aus Gier auf Stoff mit jemandem so in die Haare gekriegt, dass diese Person nicht zögerte, Joes Leben gewaltsam zu beenden? Wie auch immer, rückblickend tat Joe ihm leid. Es musste schrecklich sein, nur von der Sehnsucht nach dem nächsten Drogenrausch durchs Leben getrieben zu werden.

Damals allerdings, als er selbst nichts als Hass und Wut gefühlt hatte, hatte er für Joe nur eines übriggehabt: Verachtung.

Joe hatte Wort gehalten, nächster Tag, selbe Zeit, selber Ort, aber das änderte nichts an dem Bild, das sich Raphael von ihm gemacht hatte. Der kriecherische, unterwürfige Ton, den Joe anschlug, als sie sich auf den Weg zu der in einem Hinterhof in Schwabing gelegenen Werkstatt machten, widerte ihn an. Natürlich hoffte dieser Penner darauf, dass Raphael ihm in seiner Dankbarkeit noch ein wenig Stoff zusteckte. Dabei war klar, dass diese Hoffnung nicht erfüllt würde. Raphael hatte sich ohnehin schon zu weit aus dem Fenster gelehnt.

Immerhin, solange er mit seinen Methoden Erfolg hatte, griff sein Chef nicht ein. Oder besser gesagt: fragte gar nicht erst nach. Schließlich wollten sie beide das Phantom, das selbst in Polizeikreisen nur »der Boss« genannt wurde, endlich drankriegen. Der Boss, dieses miese Russenschwein, das einen Großteil des Münchner Drogenhandels kontrollierte, dabei aber so um- und vorsichtig agierte, dass er bisher einfach nicht zu fassen gewesen war. Es war an der Zeit, diesem verdammten Wichser und seinen Machenschaften ein Ende zu setzen.

Als Joe den Klingelknopf der Werkstatt betätigte, fühlte Raphael sein Herz zum ersten Mal seit Langem wieder hart gegen den Brustkorb schlagen. Immerhin, er hatte also noch ein Herz, stellte er beinahe amüsiert fest und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette.

Dank Joe war er seinem Ziel so nah wie noch nie.

Raphael verscheuchte die Erinnerung aus seinem Kopf und wandte sich wieder Sarah zu. »Mich beschäftigt der Gedanke an Joes Mutter«, flunkerte er. »Es muss schrecklich sein, dem Absturz des eigenen Kindes so lange hilflos zuzusehen. Und am Schluss …«

»Die Beerdigung zu organisieren.« Sarah schluckte. »Das will ich mir gar nicht erst vorstellen.« Intuitiv hatte sie ihre Hand schützend auf den Bauch gelegt.

»Wir lassen Murkel einfach keine Sekunde aus den Augen«, sagte Raphael mit einem Zwinkern und legte seine Hand neben Sarahs. Auch wenn sie von ihrem kleinen Kugelbauch leider ziemlich genervt war, er fand ihn jetzt schon umwerfend.

»Murkel wird begeistert sein, wenn du in achtzehn Jahren mit im Club stehst und Bodyguard spielst.« Sarah grinste.

»Mein Kind geht nicht in Clubs«, entgegnete Raphael im Brustton der Überzeugung.

»Natürlich nicht. Bei solchermaßen stockkonservativen Eltern bleibt es mit Sicherheit jeden Abend zu Hause, liest in der Bibel und spielt Geige.« Nun war es an ihr, zu zwinkern. »So wie du mit achtzehn.«

Raphael war beinahe dankbar, nicht weiter über seine damaligen Aktivitäten nachdenken zu müssen, sondern stattdessen in die schmale Auffahrt zu Joes erstem – und letztem – Zuhause einzubiegen.

Das kleine Einfamilienhaus am Ende einer schmalen Gasse hob sich farblich kaum vom schlammgrauen Winterhimmel ab. Hie und da bröckelte der Putz, und neben dem hölzernen Treppenaufgang zur Eingangstür hatte ein Schmierfink in roter Farbe seinen unleserlichen Namenszug hinterlassen. Anscheinend hatte es niemand der Mühe wert befunden, das Werk dieses mindertalentierten Sprayers zu übermalen.

Raphael parkte den Wagen auf der geschotterten Einfahrt und fing einen aufmunternden Blick von Sarah auf, bevor er ausstieg.

Eine grau getigerte Katze sprang fauchend von der untersten Treppenstufe. Sarah zuckte zusammen. Widerwillig sah sie auf die verwitterte Holztür, und Raphael konnte es ihr nicht verdenken. Die Szenerie passte zu ihrer traurigen Mission – durch und durch beklemmend.

»Wie im Horrorfilm«, murmelte Sarah leise und vergrub ihre Hände tief in den Taschen ihres Parkas.

In Ermangelung eines Klingelknopfs klopfte Raphael zweimal hart gegen die Tür. Im Inneren des Hauses regte sich nichts, aber die Tür sprang knarrend einen Spaltbreit auf und gab den Blick auf einen schmalen Flur mit staubigem Dielenboden und Heiligenbildern an den vergilbten Wänden frei. »Hallo? Frau Bengler?«, rief er.

Statt einer Antwort klapperte eine unsichtbare Tür, dann näherten sich schlurfende Schritte.

Nun versuchte Sarah ihr Glück. »Frau Bengler?«

»Ja«, krächzte es, dann – endlich – folgte der Stimme ein Gesicht. Ein verwittertes, runzliges Gesicht. Unter schütterem grauen Haar. Über einer zerschlissenen braunen Kittelschürze. Himmel noch mal.

Joe war einunddreißig gewesen, zwei Jahre jünger als Raphael selbst. Unweigerlich dachte er an seine eigene Mutter, die mit ihren feinen Lachfalten, ihrer geraden Haltung und dem vollen blonden Haar immer noch jugendlich wirkte. Frau Bengler hingegen ging gebückt, wie ein altes Mütterchen, das den Rollator vergessen hatte.

»Bittschön?«, fragte sie und räusperte sich ausgiebig. Ihr Frosch im Hals schien dort schon seit einiger Zeit zu verweilen.

»Kripo Regensburg, Sonnenberg und Jordan«, stellte Sarah sie beide knapp vor. »Sind Sie die Mutter von Johannes Bengler?«

Die Frau war bleich geworden, ihr Blick glitt zum Bild eines ausgemergelten Heiligen, das direkt neben der Tür hing. »Ja«, antwortete sie leise, aber endlich mit klarer Stimme. »Die bin ich. Hat der Bub wieder was ang’stellt?«

Raphael brachte es nicht übers Herz, ihr hier auf dem Flur die traurige Nachricht zu überbringen, trotz der Anwesenheit zahlreicher tröstender Heiliger (von deren hilfreicher Wirkung er nicht unbedingt überzeugt war). »Dürfen wir reinkommen?«

Frau Bengler nickte schicksalsergeben, anscheinend war ihr diese Situation bereits bekannt, und schlurfte ihnen voraus um eine Ecke in einen noch schlechter beleuchteten Teil des Flurs, der schließlich in einer altertümlichen Wohnküche endete. Es roch nach gebratenen Zwiebeln, abgestandener Luft und Staub, und Raphael wunderte sich, dass Sarah nicht mit Übelkeit zu kämpfen hatte. Ihm drehte sich auch ohne Schwangerschaft der Magen um. Lüften schien nicht Frau Benglers bevorzugtes Hobby zu sein.

»Bittschön«, sagte sie wieder, diesmal auffordernd, und deutete auf die Eckbank.

Raphael quetschte sich zwischen dem blanken Holztisch und der Bank hindurch und bewunderte die Eleganz, mit der auch Sarah ihren Bauch hinter den Tisch bugsierte.

Er ertappte sich dabei, durch den Mund zu atmen. Am liebsten hätte er allerdings nicht nur die Nase, sondern auch die Augen verschlossen. Alles, was er von Joes Zuhause bisher gesehen hatte, wirkte ärmlich. Nicht unbedingt verwahrlost, aber trist, verbraucht, angeschlagen. Sogar die Teller, die Raphael in einem offen stehenden Küchenschrank entdeckte, schienen ausschließlich über abgeschlagene, ramponierte Ränder zu verfügen. Vielleicht hätte er an Joes Stelle auch lieber das Weite gesucht, als in dieser bedrückenden Umgebung zu leben.

»Also«, fragte Frau Bengler und nahm stöhnend auf einem Holzstuhl gegenüber Platz, »was wollen Sie?«

Einen anderen Job, schoss es Raphael durch den Kopf. Beinahe fiel es ihm schwer, das für sich zu behalten.

»Frau Bengler, es tut mir leid«, setzte Sarah an und bedachte ihr Gegenüber mit einem teilnahmsvollen Blick, »aber Ihr Sohn ist heute Morgen in Regensburg tot aufgefunden worden.«

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Raphael sah die Bombe detonieren, dachte an den Augenblick zurück, als ihm damals Isas viel zu früher Tod so schonend wie möglich beigebracht wurde, wusste, dass es in einem solchen Augenblick nichts Schonendes gab, schließlich war niemand nur ein bisschen tot, alles war unwiederbringlich vorbei, es gab keinen Trost und keinen Lichtblick, nur das Gefühl, als würde einem das Herz aus der Brust gerissen … vierundzwanzig, fünfundzwanzig.

»Nein«, sagte Frau Bengler mit ruhiger Stimme, stand auf und schloss die Tür des Küchenschranks. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch, als wäre nichts geschehen. Nur die Furchen um ihren Mund hatten sich noch weiter vertieft, ihre Gesichtsfarbe changierte leicht ins Graue. »Nein«, sagte sie noch einmal und zuckte schwach mit den Schultern. »Das kann nicht sein.« Ihr Blick richtete sich auf den Holztisch.

Wie üblich war Raphael wieder einmal völlig überfordert mit dieser Situation. Was blieb schon zu sagen? Am besten, er überließ das Sarah, wie üblich.

»Frau Bengler …«, setzte Sarah erneut vorsichtig an, brach aber ab, als Joes Mutter abwehrend die Hand hob.

Sie seufzte, tief und kummervoll, dann sah sie mit ausdruckslosen Augen von Sarah zu Raphael. Leer geweint, schoss es Raphael durch den Kopf. Das waren ihre Augen wohl schon lange. »Wie?«, fragte sie. »Wie ist es passiert?«

Sarah räusperte sich, auch sie sah mittlerweile ziemlich blass aus. »Das wissen wir noch nicht genau. Vermutlich durch Fremdeinwirkung.« Sarahs Daumennagel kratzte über eine unebene Stelle an der Tischkante, aber sie schien es selbst gar nicht zu bemerken.

Wieder stand Frau Bengler auf, nahm einen Beutel mit Trockenfutter aus dem Schrank unter der Spüle und kippte eine stattliche Portion in den Fressnapf neben der Eckbank. »Wollen Sie vielleicht einen Kaffee?«, fragte sie.

Kein Weinen, kein Wehklagen, kein Jammern. Sie wirkte noch nicht einmal schockiert. Nur leer. Wie ihre Augen. Wie eine seelenlose Hülle, die sich einfach weiterbewegte.

»Nein, danke«, antwortete Sarah für sie beide. »Sollen wir vielleicht jemanden anrufen, der herkommen kann? Einen Verwandten? Oder Ihren Hausarzt?«

Frau Bengler winkte ab und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.

Nicht zum ersten Mal dachte Raphael darüber nach, wie unterschiedlich Menschen in solchen Situationen reagierten. Manche brachen regelrecht zusammen, konnten sofort weinen und sich vor Trauer kaum auf den Beinen halten, andere lähmte der Schock völlig. Er selbst musste damals mühsam von einem Kollegen davon abgehalten werden, ins Auto zu steigen und zum Unfallort zu fahren. Er hatte einfach nicht glauben können, dass sein Glück mit einem Knall verpufft war, dass er nichts tun konnte, um Isa und dem Baby in ihrem Bauch das Leben und die Zukunft zurückzugeben. Frau Bengler hingegen schien völlig resigniert zu haben. Aber die Trauer würde irgendwann kommen, unweigerlich, das wusste Raphael. Je später, desto wuchtiger.

»Und dabei hätt ich g’hofft …« Frau Bengler hatte wieder Platz genommen und senkte den Blick.

»Ja?« Erstmals meldete sich Raphael zu Wort. Unter dem Tisch drückte er dankbar Sarahs warme Hand. Sie wusste, wie schwer es ihm fiel, solche Nachrichten zu überbringen. Aufmunternd drückte sie zurück.

»Ich hab geglaubt, jetzt wird doch noch alles gut«, fuhr Frau Bengler fort. »Er hat doch versprochen, dass er das Zeug nicht mehr nimmt. Und er wollt sich eine Lehrstelle suchen. Und nach Landshut ziehen. Ganz neu anfangen.«

»Hat er Ihnen das so gesagt?«

Frau Bengler nickte.

»Aber zuletzt hat er hier bei Ihnen gewohnt, oder?«

»Ja, schon.« Sie rieb sich die Hand an der Kittelschürze. Erst jetzt fielen Raphael die Ekzeme auf, die die ungepflegten, abgearbeiteten Hände mit den Trauerrändern unter den Nägeln verunzierten. »Wo hätte er denn auch hinsollen, nach dem Gefängnis, ohne Arbeit und Geld? Das braucht halt alles seine Zeit. Aber er war viel unterwegs, auf der Suche nach Arbeit oder bei Freunden, die er für ein paar Tage besucht hat.«

Raphael wagte zu bezweifeln, dass es ihm bei seinen Absenzen wirklich um die Jobsuche und das Beleben alter Freundschaften gegangen war.

»Wobei«, sagte Frau Bengler nachdenklich, »ich gar nicht gewusst habe, dass er in Regensburg auch Freunde hat.«

So viel zu Raphaels Zweifeln. »Kennen Sie denn ein paar Freunde Ihres Sohnes?«, fragte er.

»Der Bub hat nicht gern Leute mitgebracht.« Mit plötzlich weit geöffneten Augen sah sich Frau Bengler in der abgewohnten Küche um, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Er hat sich wahrscheinlich immer ein bisschen geschämt.« Wieder zuckte sie die Achseln, dieses Mal beinahe entschuldigend. »Obwohl«, hielt sie plötzlich inne, »vor ein paar Wochen war einer da. Ein sehr netter, anständiger junger Mann.«

»Wissen Sie noch, wie der Mann hieß?«, fragte Sarah.

Frau Bengler schüttelte entschuldigend den Kopf. »Dunkelhaarig war er. Und ein schickes Auto hat er gefahren, in Schwarz.«

»Die Automarke?«, fragte Raphael wider besseres Wissen.

»Tut mir leid, mit so was kenn ich mich nicht aus. Aber der Bub hat ihn im Boxclub in Mainburg kennengelernt. Da kann man Ihnen bestimmt weiterhelfen.«

»Boxclub?« Raphael horchte auf. Hatte Joes Körper solche Strapazen noch mitgemacht, nachdem er jahrelang kontinuierlich vergiftet worden war?

»Ja«, antwortete Frau Bengler. »Da war er regelmäßig. Und ich hab mich noch gefreut, dass er jetzt ein Hobby hat. Und sich mit anständigen Leuten abgibt.«

Erst jetzt schien ihr der Grund des Polizeibesuchs wieder einzufallen. Ein Schatten fiel über ihr verhärmtes Gesicht. Sofort setzte sie zur nächsten Übersprunghandlung an. »Ich muss jetzt die Katz suchen«, sagte sie und stand wieder auf.

»Einen Moment bitte«, hielt Raphael sie zurück, und sie sah ihn erstaunt an, als hätte sie seine Anwesenheit in der Sekunde vergessen, in der sie aufgestanden war. »Können wir uns noch das Zimmer Ihres Sohnes ansehen?«

Frau Bengler bedeutete ihnen stumm, ihr in den Flur zu folgen. Die Holztreppe, die in den ersten Stock führte, knarzte unter ihrem Gewicht. Auch im Treppenhaus zierten gemalte und geschnitzte Heiligenbilder die Wände.

»Was ist eigentlich mit Johannes’ Vater, Frau Bengler?«, fragte Sarah behutsam.

Frau Bengler schlurfte weiter und antwortete, ohne sich umzudrehen. »Tot. Krebs.« Sie seufzte. »Der Herrgott gibt, der Herrgott nimmt.«

Das war natürlich auch eine Methode, mit dem Tod geliebter Menschen umzugehen.

Bisher hatte Raphael nicht daran gedacht, aber nun fiel ihm vage ein, was er damals, nach Abschluss seiner Ermittlungen, über Joes Vater erfahren hatte. »Das ist schon ziemlich lange her, oder?«

»Am ersten Geburtstag vom Johannes ist er gestorben.« Frau Bengler öffnete eine mit Sepultura-Postern verhängte Zimmertür. »Ich hab mir in den letzten Jahren oft gedacht, dass das ein Fehler war. Dass ich mir keinen Neuen gesucht hab, mein ich. Vielleicht hat dem Bub einfach nur der Vater gefehlt. Aber ich …«, sie hielt resigniert inne, »ich wollt keinen anderen. Ich wollt eigentlich überhaupt nix mehr.«

Raphael kämpfte gegen das dumpfe Gefühl der Schuld an, das sich wie ein dunkles Mal in seinen Bauch fraß. Vielleicht hätte er Joe mit mehr Respekt behandelt, wenn er damals seine Geschichte schon gekannt hätte. Oder mit Verständnis. Oder mit Wohlwollen und nicht mit dieser seelenlosen Verachtung. Vielleicht aber auch nicht. Mitgefühl hatte zu dieser Zeit nicht unbedingt zu seinen größten Stärken gehört.

Frau Bengler wies an sich vorbei in den Raum. »Bitte, lassen Sie alles so.«

»Natürlich«, antwortete Sarah. »Sie können auch hierbleiben und –«

»Ich …« Frau Benglers Lippen bebten. »Lieber nicht. Ich will für den Johannes beten. Und zur Katz muss ich auch.« Fluchtartig trat sie den Rückweg zur Treppe an.

Sarah sah ihr mit Tränen in den Augen nach. »Meinst du, wir können sie allein lassen?«

Raphael nickte. »Sie wirkt gefasst. Wenn wir hier fertig sind, sehen wir ja sowieso noch mal nach ihr.«

Sarah straffte sich und betrat als Erste den Raum. »Sieht aus wie eine klassische Kifferbude«, konstatierte sie nach einem schnellen Rundumblick.

Raphael gab ihr stillschweigend recht. Kalter Rauch hing in der Luft, im abgenutzten braunen Teppichboden hingen Asche- und Schmutzreste, ungewaschene Kleidung stapelte sich auf sämtlichen Ablageflächen außer auf dem gläsernen Couchtisch, der sich unter der Last der vollen Aschenbecher, Feuerzeuge und geöffneten Getränkedosen bog. An den Wänden hingen zahllose Bandposter.

Das war nicht das Zimmer eines erwachsenen Mannes, sofern ein erwachsener Mann überhaupt noch ein Zimmer im Haus seiner Mutter bewohnte, sondern eines Menschen, der irgendwann in seiner wilden Jugend einfach hängen geblieben war. Oder aber nach den wilden Jugendjahren nie mehr die Energie gefunden hatte, etwas an seinem Umfeld zu ändern.

»Du rechts, ich links«, teilte Sarah ein, streifte sich die Handschuhe über und überließ Raphael das Chaos rund um die Couch und den Kleiderschrank, während sie sich selbst mit Schreibtisch und Bett beschäftigte.

Widerwillig öffnete Raphael den Schrank. Trotz der rauchgeschwängerten Luft schlug ihm ein abgestandener Geruch nach getragener Wäsche entgegen. Unter einem Stapel Klamotten am Boden des Schranks fand er eine verdreckte Uralt-Bong – von Putzen hatte Joe anscheinend auch in diesem Zusammenhang nichts gehalten. Das war also sein Einstieg in die Drogenkarriere gewesen.

Raphael überwand sich und nahm den nächsten miefenden Klamottenstapel aus dem Schrank, als er Sarah durch die Zähne pfeifen hörte. »Joes Schatzkiste haben wir immerhin schon mal gefunden«, sagte sie und zog ein kleines Plastikbeutelchen aus der obersten Schublade des Schreibtischs. »Crystal.«

Nur zu gern legte Raphael den Kleiderstapel wieder in den Schrank zurück und nahm das mit klaren Kristallen gefüllte Plastikbeutelchen entgegen. »So viel dazu, dass er von dem Zeug weg ist. Sonst noch was?«

Er spähte an Sarah vorbei in die Schublade und griff nach der Blechdose mit »Jack Daniel’s«-Aufdruck darin. »Verdammte Scheiße«, sagte er nur, als er die Dose geöffnet hatte, in der ein kleines Tütchen Heroin nebst Löffel, Feuerzeug und zweiteiligem Spritzbesteck lag. Dieser Fund fühlte sich wie ein Schlag in die Magengrube an, obwohl Raphael ihn erwartet hatte. Alles umsonst. Wofür der Knast, wofür der Entzug dort? Es war von vornherein sinnlos gewesen.

»Dass er das einfach hier so aufbewahrt?« Sarah schüttelte den Kopf.

»Weshalb nicht? Seine Mutter erscheint mir zu lethargisch, um irgendetwas zu unternehmen. Und sie wollte wohl auch einfach nichts sehen, nehme ich an.«

Das Vibrieren des iPhones in Raphaels Hosentasche unterbrach diesen Gedankengang. Was wollte Moritz denn jetzt schon?

»Na, Kleiner, hast du Kreislaufbeschwerden und willst von Mami und Papi abgeholt werden?«, fragte er statt einer Begrüßung und erwiderte Sarahs Grinsen.

»So weit sind wir noch gar nicht«, antwortete Moritz mit belegter Stimme und räusperte sich. »Es geht um einen Fund …«

»Welchen Fund?«, fragte Raphael ungeduldig.

»Einen Zettel in der Jeanstasche«, antwortete Moritz langsam.

Musste man dem heute jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen? »Und da steht der Name des Mörders drauf, oder was?«

»Nein, das nicht.« Moritz klang immer noch ziemlich bedächtig. »Sag mal, du wohnst doch in der Werftstraße, oder?«

»Äh … ja«, antwortete Raphael irritiert. »Wieso?«

»Welche Hausnummer?«, ignorierte Moritz seine Frage.

»Neun«, antwortete Raphael, ohne nachzudenken.

»Und genau das steht auf dem Zettel«, sagte Moritz leise. »Werftstraße 9.«

Der zweite gefühlte Schlag in die Magengrube war heftiger ausgefallen als der erste. Raphael war gegen die Wand gesunken und hatte die Augen geschlossen. Wie die plötzliche Dunkelheit schwappte auch die Angst über ihm zusammen. Davor, dass sich die bösen Vorahnungen der letzten Tage und vor allem Stunden bewahrheiten würden. Dass Joe seinetwegen in Regensburg gewesen war, und das ganz bestimmt nicht, um mit ihm gemütlich einen Kaffee trinken zu gehen.

Noch immer stand er reglos da, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen, und fühlte Sarahs Arme, die ihn umschlangen, um ihn irgendwie aus seiner Starre zu befreien. Aber erst als sie ihn sanft schüttelte, drang ihre Stimme zu ihm durch. »Raphael, bitte!«, sagte sie eindringlich. »Es bringt uns überhaupt nicht weiter, jetzt in Panik zu verfallen.«

Sie hatte verdammt noch mal recht. Er hasste sich dafür, dass er ihr stammelnd von dem Zettel erzählt hatte. Dass er die Kontrolle verloren und seine Angst nicht von Sarah ferngehalten hatte. Das war schließlich das Letzte, was sie derzeit gebrauchen konnte. Immerhin, das Zittern seiner Hände hatte nachgelassen. Als er die Augen öffnete, sah er in Sarahs fahles Gesicht und die erschrocken aufgerissenen Augen. Wow, eine wahre Meisterleistung, Jordan! Das hast du ja wirklich toll hingekriegt.

Er zog sie an sich, barg sein Gesicht in ihrem dunklen Haar und atmete ihren vertrauten Duft ein. Normalerweise bewirkte enger Körperkontakt während der Arbeitszeit eher einen Mangel an Konzentration, jetzt aber erdete es ihn, Sarah in seinen Armen zu halten. Er gewann den Boden zurück, der ihm gerade unter den Füßen weggerutscht war.

»Es kann tausend Gründe für diesen Zettel in seiner Hosentasche geben«, sagte Sarah. »Du wohnst dort nicht allein, es sind immerhin neun Wohnungen im ganzen Haus.«

Raphael dachte an seine Nachbarn, alles stocksolide Leute. Schließlich waren die Wohnungen in dem sanierten Altbau auf dem Unteren Wöhrd nicht gerade günstig. Was hätte Joe von einem von ihnen schon wollen können?

»Haben wir Infos zur Schrift?«, fragte Sarah.

»Wahrscheinlich seine eigene.« Wenigstens hatte Moritz gesagt, dass sie Joes Unterschrift auf dem Ausweis ähnelte.

»Ist damals aufgeflogen, dass du Polizist bist?«, fragte Sarah erstaunlich sachlich und löste sich von ihm, um ihn ansehen zu können.

Raphael neigte abwägend den Kopf. »Nicht auszuschließen«, gestand er schließlich ein. Natürlich war das nicht offen kommuniziert worden, aber allen Beteiligten musste klar gewesen sein, wer für diesen Rundumschlag in der Münchner Drogenszene verantwortlich war.

»Vielleicht hat er dich gesucht, weil er deine Hilfe brauchte«, sagte Sarah.

Unwahrscheinlich. Wieder dachte Raphael an die Verachtung, die er Joe mit jedem Wort entgegengeschleudert hatte. Die Kaltblütigkeit, mit der er Joes Sucht ausgenutzt hatte.

»Und selbst wenn nicht«, fuhr Sarah fort. »Er ist tot. Er kann dir nichts mehr anhaben.«