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Fritz

Stern

Fünf Deutschland
     und ein Leben

Erinnerungen

 

 

 

 

 

Aus dem Englischen von
Friedrich Griese

C.H.Beck

 

 

 

 

 

Für meine Kinder
Fred und Katherine

 

 

 

 

 

Damals … beschloß Doktor Rieux, den hier endenden Bericht zu schreiben, um nicht zu denen zu gehören, die schweigen, und um für diese Pestkranken Zeugnis abzulegen, damit wenigstens eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit und Gewalt blieb, die ihnen angetan worden war, und um einfach zu sagen, was man in Plagen lernt, nämlich daß es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt. …

Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, daß diese Freude immer bedroht war. Denn er wußte, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, daß nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, daß er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann, daß er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.

Albert Camus, Die Pest

Inhalt

Einführung

  1 Das Deutschland meiner Vorfahren

  2 Weimar

  3 Das Dritte Reich

  4 Der Terror aus der Ferne

  5 Als es kein Deutschland gab

  6 Die Bundesrepublik: Neu Beginnen

  7 Das vierte, vergessene Deutschland

  8 Deutsche Themen in fremden Ländern

  9 Die Wiederkehr der deutschen Frage

10 Das geeinte Deutschland: Eine zweite Chance?

Epilog

Dank

Bildnachweis

Register

Einführung

Als Charles de Gaulle im Winter 1944/45 zum ersten Mal nach Rußland reiste, besuchte er auch Stalingrad, den Schauplatz des weitesten Vorstoßes und der größten Niederlage der deutschen Wehrmacht. Im Ersten Weltkrieg war de Gaulle im Kampf gegen die Deutschen bei Verdun verwundet worden und über zwei Jahre in ihrer Gefangenschaft gewesen, und im Zweiten Weltkrieg war er der führende General der Français Libres. Wie man erzählt, soll er in den Ruinen von Stalingrad gegenüber einem Begleiter geäußert haben: «Quel peuple!» Der Dolmetscher erkundigte sich: «Meinen Sie die Russen?» «Nein», sagte de Gaulle, «die Deutschen».

Das lapidare Urteil des Generals an diesem Ort der Zerstörung sagt viel über das deutsche Drama des letzten Jahrhunderts, das er klar erfaßte. Er sprach von einem «Volk», das zwischen 1870 und 1939 sein Land dreimal angegriffen hatte, dessen Macht das historische Europa zerrüttete und beinahe zerstört hatte und das für ein in der Geschichte Europas beispielloses Völkermordverbrechen verantwortlich war. Ihm war aber auch bewußt, daß die Deutschen mit ihrer enormen Kreativität für den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg unverzichtbar sein würden. Er erkannte die tiefe Zwiespältigkeit, die der Größe Deutschlands eigen ist.

Dieses Buch handelt von meinen Erfahrungen mit den fünf Deutschland, die meine Generation erlebt hat. Ich wurde hineingeboren in die Notlage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, die de Gaulle so gut verstanden hatte; ich erinnere mich an das Entsetzen meiner Eltern angesichts des allmählichen Untergangs der Weimarer Republik in meiner frühen Kindheit und der rasch folgenden Errichtung der nationalsozialistischen Tyrannei, die von so vielen hingenommen und von so wenigen bekämpft wurde. Ich erinnere mich an ihre Freunde, glühende Verteidiger der Demokratie, die besiegt wurden, manche von ihnen ermordet, eingekerkert oder ins Exil gezwungen. Ich habe zwar nur fünf Jahre im nationalsozialistischen Deutschland gelebt, doch diese kurze Zeit genügte, um in mir die brennende Frage aufzuwerfen, deren Beantwortung mich während meiner gesamten akademischen Tätigkeit umtrieb: Warum und auf welche Weise ist das universelle Potential der Menschheit zum Bösen in Deutschland Wirklichkeit geworden?

Jahrzehnte der Forschung und Erfahrung haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß die deutschen Wege ins Verderben, einschließlich des Nationalsozialismus, weder zufällig noch unausweichlich waren. Der Nationalsozialismus hatte tiefe Wurzeln, und dennoch hätte man seinen Aufstieg verhindern können. Ich wurde hineingeboren in eine Welt, die sich vor dem Absturz in eine vermeidbare Katastrophe befand. Und ich bin zu der Einsicht gelangt, daß kein Land immun ist gegen die Versuchungen solcher pseudo-religiöser repressiver Bewegungen, wie ihnen Deutschland erlag. Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und meiner Arbeit. Und wenn es schwierig erschien, sich ein ungeschminktes Bild von der Vergangenheit zu machen, das doch unerläßlich ist, entsann ich mich des berühmten Credos, das Ernst Reuter 1913 formulierte: «Das Schicksal der Demokratie ruht auf dem Glauben an die Geschichte.»

In den Nachkriegsjahren war ich mir bei meiner Arbeit als Historiker der Zusammenhänge zwischen meinem Leben und meinen Forschungen nur gelegentlich bewußt; ganz und gar dem Beruf des Historikers hingegeben, wußte ich, daß man Clio auf unterschiedliche Arten dienen konnte, die aber alle eine gewisse Distanz verlangten – freilich belebt, so stand zu hoffen, durch Einfühlungsvermögen und eine gezügelte Phantasie. Ich erforschte und lehrte die deutsche Geschichte mit amerikanischen Augen und für amerikanische Studenten und Leser. Schließlich bekam mein durch und durch amerikanisches Leben doch eine wesentliche deutsche Komponente, weil ich als amerikanischer Deutschland-Historiker hineingezogen wurde in deutsche Kontroversen über die Vergangenheit, die ein besiegtes und geteiltes Land aufwühlten, das selber Hauptschlachtfeld des Kalten Krieges war. Zuvor war mir wohl nicht recht klar gewesen, daß man, wenn man die – teils destruktiven, teils auf einzigartige Weise konstruktiven – Umwälzungen seiner Gegenwart bewußt miterlebt, die Vergangenheit auf eine neue, komplexere Weise zu sehen lernt. Dabei wurde mir immer deutlicher bewußt, daß die Lehren, die ich aus der deutschen Geschichte gezogen hatte, von beängstigender Relevanz für die Vereinigten Staaten heute waren. Nach und nach erwarb ich ein zweites deutsches Leben, parallel zu meinem amerikanischen Leben und diesem untergeordnet. Schließlich lebte ich in zwei Welten zugleich und lernte aus beiden. Was an Schwarzweißdenken noch geblieben war, verblaßte mehr und mehr, und die Vergangenheit wurde zu einem Gewebe mit unterschiedlich schimmernden Farben.

Als ich dann meinem dritten und vierten Deutschland begegnete – der außergewöhnlichen Demokratie, die sich in der Bundesrepublik streitbar entwickelte, und der weniger bekannten Diktatur der sowjetisch dominierten Deutschen Demokratischen Republik –, wurde ich durch Glück und meine Neigung zu staatsbürgerlichem Handeln zu einem «engagierten Beobachter», um die Wendung aufzugreifen, die Raymond Aron mit weit mehr Recht auf sich selbst bezog. Dann und wann wurde ich von meiner Forschung und Lehre abgelenkt und in die Randbereiche des politischen Lebens hineingezogen, in Deutschland ebenso wie in Amerika, und ich schätzte mich glücklich, daß ich zum aktiven Zeugen historischer Ereignisse werden durfte, die das neue Europa in seinen neuen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten prägten. Ebendarin sah ich die öffentliche Aufgabe der historischen Wissenschaft.

Jahrzehntelang schreckte ich davor zurück, über meine privaten Erfahrungen zu schreiben – ich wollte das Fachliche und das Persönliche säuberlich getrennt halten. Doch nachdem ich zum ersten Mal wieder in meiner Geburtsstadt Breslau gewesen war, die seinerzeit zu Deutschland gehört hatte und heute unter dem Namen Wrocław zu Polen gehört, schrieb ich darüber einen persönlichen Bericht für meine Kinder, und ich nannte ihn «Heimkehr 1979». Jetzt erst wird mir die Ironie, vielleicht sogar Selbsttäuschung in meiner Titelwahl so richtig bewußt, denn eine «Heimkehr» war es gerade nicht. Ich war aus tiefster Neugier nach Wrocław gefahren; mir war, glaube ich, damals nicht klar, daß meine Reise eigentlich eine Sache war, bei der ich mich aus irgendeinem Grund davon überzeugen mußte, daß mein Elternhaus zerstört war und daß das Land meiner Geburt nicht mehr existierte. Mein Verlustgefühl war überlagert von einer alles beherrschenden Dankbarkeit dafür, daß ich in den Vereinigten Staaten eine zweite, bessere Heimat gefunden hatte. Doch dieser kleine Bericht war in der Tat mein erster Versuch, persönlich etwas über die Rückkehr dorthin zu schreiben, wo ich begonnen hatte, und ich lege ihn hier als Zeugnis einer ersten rückblickenden Impression vor.

Die Nordostroute, auf der meine Frau und ich uns Wrocław, Breslau, näherten, kam mir merkwürdig fremd vor; einst hatte es uns immer nach Süden gelockt, in die tschechisch-böhmischen Berge, oder nach Westen, nach Berlin und über Berlin hinaus. Der Nordosten, wo die Polen 1918 ihren eigenen Staat wiedererrichtet und ihre Unabhängigkeit wiedererlangt hatten, erschien uns dagegen wie ein fernes, irgendwie feindliches Land. Die meisten Deutschen sahen in den Polen bestenfalls einen Gegenstand der Belustigung und schlimmstenfalls der Verachtung.

Die polnischen Verkehrsschilder zeigten an, daß wir uns Wrocław näherten, aber es war nicht zu erkennen, wann und wo wir die einstige Grenze zwischen Polen und Deutschland überquert hatten. Nach einem Krieg, in dem Polen die schrecklichste Verwüstung (und die gezielte Liquidierung seiner Eliten durch die Deutschen und die Russen) erlitten hatte, gliederte die Sowjetunion 1945 die östlichen Gebiete des Landes der Ukraine an, und die Alliierten kamen überein, daß die Polen zum Ausgleich die deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie «verwalten» sollten; zu ihnen gehörte Schlesien mit seiner alten Hauptstadt Breslau. Aus ihren östlichen Provinzen vertrieben, zogen Hunderttausende von Polen notgedrungen nach Westen. Sie «säuberten» die ihnen unbekannten Gebiete von rund drei Millionen Deutschen, und alle Hinweise auf den ehemals deutschen Charakter des Landes wurden sorgfältig getilgt.

Ich hatte in Breslau zuviel durchgemacht, um den Übergang der Stadt an neue Herren bedauern oder mit den von dort vertriebenen Deutschen Mitleid empfinden zu können. Meine Familie war nur allzu knapp der Ausrottung entgangen, als daß ich für unbekannte Deutsche, seien sie umgekommen oder vertrieben worden, Mitgefühl hätte empfinden können. Meine erste Reaktion gleich nach dem Krieg war: Gut, jetzt also sind die Vertreiber selber vertrieben worden. Geblieben aber war mir eine Neugier auf die Stadt und ein vielleicht unvernünftiges, eigensinniges Festhalten an dem unversehrten Bild der Vergangenheit.

Ich hatte Berichte über die Heimsuchung Breslaus in den Jahren 1944 bis 1945 gelesen, aber die Folgen davon mit eigenen Augen zu sehen war etwas anderes. Als die deutschen Truppen sich im Osten auf dem Rückzug befanden, gab Hitler den Befehl, Breslau zur Festung zu machen und die vordringenden russischen Armeen aufzuhalten. Der SS-Kommandant der Stadt ordnete im Januar 1945 die unverzügliche Evakuierung an; Hunderttausende von Männern, Frauen und Kindern wurden gezwungen, unter den schlimmsten winterlichen Bedingungen die Stadt zu verlassen, während unzählige andere in der Stadt aussichtslos in der Falle saßen. Breslau hielt der sowjetischen Belagerung fünfundvierzig Tage lang stand, unter brutalen Häuserkämpfen und ständigem sowjetischem Beschuß. Unterdessen richteten die deutschen Befehlshaber selbst entsetzliche Zerstörungen in der Stadt an: Während der Belagerung ließen Hitlers Lakaien in einer Orgie brutaler Zerstörungswut mitten in der Stadt ein Rollfeld anlegen, vermutlich um die Stadt aus der Luft versorgen zu lassen; dafür wurden Tausende von Deutschen und Nichtdeutschen geopfert und ganze Wohnviertel in die Luft gesprengt. Hitler war schon tot und Berlin eingenommen, als Breslau endlich kapitulierte. Diese perverse Verteidigung Breslaus war ein gegen sich selbst gerichteter Wahnsinn, ein Mord an der eigenen Bevölkerung, nachdem es sonst niemanden mehr gab, den man noch hätte umbringen können. In diesen wenigen Monaten des Grauens wurde die Stadt blind geopfert, denn der verzweifelte Verteidigungsversuch diente keinem Zweck, es sei denn als der letzte Beweis jenes Kadavergehorsams gegenüber Hitler, der die Welt bereits in einen unübersteigbaren Albtraum verwandelt hatte.

Wrocław trug Spuren sowohl der Kriegszerstörungen als auch des tristen sozialistischen Wiederaufbaus nach dem Krieg. Nichts erkannte ich wieder, bis wir ins Stadtzentrum kamen und auf ein Netz von Einbahnstraßen stießen, die uns die Anfahrt zum Hotel erschwerten, wo ich sofort den wuchtigen Backsteinbau des Polizeipräsidiums wiedererkannte, an dem ich mich augenblicklich orientieren konnte; in diesem Gebäude, seit jeher eine Bastion der Unterdrückung, hatten SA-Männer Anfang 1933 Ernst Eckstein, einen Freund und Patienten meines Vaters, ermordet, und dorthin hatten 1938 meine Mutter und ich um acht Uhr morgens meinen Vater zu «einem Gespräch» begleitet, das der Vorbereitung unserer Auswanderung diente. Es war noch immer ein Polizeipräsidium, jetzt aber ein polnisches.

Im Hotel Monopol – dem besten der alten Hotels von Breslau, das jetzt muffig und heruntergekommen war – sagte man mir, es sei kein Doppelzimmer frei, nur eine Suite. Es war die beste Suite im ganzen Hotel, mit einem ausladenden Balkon, der auf das alte Stadttheater vis-à-vis wies. Hier war früher die alte Elite oder die «Prominenz» abgestiegen; ob wohl Hitler, als er im Juli 1938 Breslau besuchte, in dieser Suite gewohnt hatte? Was für eine sonderbare Rückkehr für einen Sohn dieser Stadt: stilvoll, mit einer amerikanischen Frau, mit einer Reservierung durch die amerikanische Botschaft in Warschau – und ohne den mindesten Menschen, den ich kannte. Ich kam mir vollkommen überflüssig vor in meiner einstigen Heimatstadt, die jetzt polnische Straßennamen trug und von polnischen Stimmen widerhallte.

Am Abend fuhren wir mit meiner alten Straßenbahn, der Nummer 8, dorthin, wo unser Wohnhaus gestanden hatte, auf derselben Strecke, die ich täglich zur Schule hin- und zurückgefahren war. Ich hatte den Weg immer für ziemlich weit gehalten, zu weit jedenfalls, um ihn zu Fuß zu gehen; in Wirklichkeit waren es aber nur vier Haltestellen. Früher hatte die Strecke an den besten Geschäften Breslaus und an eleganten Wohnhäusern und Villen vorbeigeführt; jetzt gab es viele Lücken zwischen den alten Gebäuden, und triste Neubauten waren hochgezogen worden – die grauen Blocks des sozialistischen Aufbaus, ohne Farbe und Form, klobig, verkommen und abstoßend. Unser an der Ecke gelegenes Wohnhaus stand nicht mehr, doch das stattliche Bürogebäude auf der anderen Seite der breiten Straße hatte überlebt. Als wir 1930 in diese Straße gezogen waren und dann noch bis etwa 1936, als ich zehn Jahre alt war, hatte sie Kaiser-Wilhelm-Straße geheißen, doch dann, eine Weile nach der Säuberung der SA-Führung durch Hitler im Jahr 1934 (der, wie ich mich gut erinnere, auch der verhaßte Breslauer SA-Führer Edmund Heines zum Opfer fiel), wurde sie umbenannt in «Straße der SA», woran ich mich jedesmal stieß, wenn ich es schreiben mußte. Was für eine Ironie in dieser Umbenennung steckte!

Wir gingen weiter: zu der kleinen Klinik meines Vaters in einer Nebenstraße; auch dieses Gebäude hatte überlebt und war jetzt ein Altersheim. Wir überquerten eine große Kreuzung, an der das Postamt lag. Wie oft hatte ich hier als Kind Briefe an Empfänger im Ausland eingeworfen, in denen es um die Auswanderungsbemühungen meiner Eltern ging: die alles verzehrende Hoffnung jener Jahre. Dann suchte ich in einer Parallelstraße – etwa zehn Minuten von dort, wo wir gewohnt hatten – nach dem Israelitischen Krankenhaus, wo mein Vater nur zu einer Beratung hinzugezogen werden konnte, aber keine freie Stelle hätte bekommen können, weil er als Jude bei seiner Geburt getauft worden war. Es muß hart für ihn gewesen sein, als Angehöriger einer Gruppe verfolgt zu werden, die ihn ebenfalls teilweise ablehnte. Das I. K., wie wir das Krankenhaus in meiner Kindheit nannten, stand noch da mit seinen großen roten Backsteinbauten, von denen die rückwärtigen offenbar noch immer als Krankenhaus dienten. Wir fanden schließlich eine in die Mauer eingemeißelte Jahreszahl (1902) und die Buchstaben I. K. – das einzige Überbleibsel seiner fernen deutschen Vergangenheit, aus einer Zeit, als dies die Klinik der blühenden jüdischen Bevölkerung Breslaus war.

Am nächsten Morgen versuchte ich, vom Hotel aus nach Scheitnig zu finden, einem östlich zwischen der Oder und einem großen alten Park gelegenen Stadtteil. Nach mehreren Anläufen (sämtliche Wahrzeichen in der Umgebung des Stadtzentrums waren verschwunden) erblickte ich eine mir vertraute Brücke, erinnerte mich, daß es noch eine zweite Brücke gab, und steuerte dann geradewegs das Maria-Magdalenen-Gymnasium an, das ich von 1936 bis 1938 besucht hatte. Da stand es, genau wie ich es in Erinnerung hatte, ein wenig älter geworden, verblichen, aber immer noch «modern» in seinem Stil der späten Weimarer Jahre. Wir gingen hinein – dieselbe Steintreppe, dieselben Fußböden, zugesperrte Klassenräume, das Büro des Direktors.

Das Haus meiner Großmutter in der Wardeinstraße 13 war etwa drei Minuten von meiner Schule entfernt. Es war ebenfalls erhalten, aber in einem heruntergekommenen, baufälligen Zustand, wie er sich einstellt, wenn man vierzig Jahre lang nichts an einem Haus tut. Zwei Jugendliche ließen uns auf der Rückseite des Hauses in den Garten, der kleiner geworden war, weil man einen Teil an die Nachbarn oder für einen angrenzenden kommunalen Sportplatz abgetreten hatte; es gab aber immer noch die köstlichen Stachelbeeren, die Erdbeerbeete, die Wendeltreppe zum ersten Stock des Hauses. In diesem Garten wurden Lotte, die Schwester meines Vaters, und Richard Kobrak während des Ersten Weltkriegs getraut. Sie sind in Auschwitz umgekommen.

Ich machte so viele Fotos und aß so viele Stachelbeeren, wie ich konnte – so als wollte ich mein Recht nicht auf den Garten oder das Haus, sondern auf meine eigene Vergangenheit behaupten –, und wir waren im Begriff zu gehen, als ein älterer Herr, seiner Frau folgend, die Treppe herunterkam und zur Haustür ging, um ins Auto zu steigen. Ich trat auf ihn zu und fragte ihn – wir verständigten uns auf französisch –, ob wir hinaufgehen dürften, weil meine Großmutter früher dort gewohnt habe und ich die Wohnung noch einmal sehen wolle. Er ließ uns freundlicherweise herein, und sobald wir oben waren, erkannte ich alles wieder. Er führte uns in Omas Wohnzimmer, das jetzt seines war. An den Wänden hingen Gemälde, Zeichnungen und Radierungen, aber noch ehe ich hatte sehen können, was auf ihnen dargestellt war, öffnete der Mann sein Hemd und zeigte uns eine Tätowierung auf dem Oberkörper: Er sei fünf Jahre in Auschwitz, Birkenau und Buchenwald gewesen, erklärte er, und die Bilder zeigten ihn in Häftlingskleidung, Kinder im Lager und andere Lagerszenen. Auf einem Tisch stand eine hölzerne Statue von Pater Kolbe, dem Geistlichen, der im Lager sein Leben geopfert hatte, damit ein anderer verschont wurde. Der Mann er hieß Czesław Ostankowicz – sagte, er sei Schriftsteller, und er überreichte meiner Frau Peggy ein Exemplar seines Buches über seine Lagererlebnisse; das erste Kapitel trug den Titel «anus mundi».

An diesem Punkt kehrten die Gefühle wieder zurück. Dieser ehemalige polnische Kavallerieoffizier, der nicht wußte, daß ich ein Deutscher, ein Jude war, wohnte jetzt im Haus meiner Großmutter, und er hatte genau die Erfahrungen durchgemacht, denen meine Eltern und ich nur mit knapper Not entgangen waren. Daß dieser beeindruckend robuste Mann jetzt in der einstmals schönen und so unsozialistischen Wohnung meiner Großmutter lebte, verschaffte mir Genugtuung; ich hatte ein Gefühl dankbaren Einverständnisses. Ich bat um die Erlaubnis, einen weiteren Raum zu sehen, der meiner Tante Grete gehört hatte, mit großem Balkon zum Garten; wir traten auf ihn und Peggy machte Fotos von uns, wie wir uns die Hände schüttelten – die Übertragung eines Anspruchs, die von meiner Seite aus dankbar und freudig vorgenommen wurde, so als habe die ganze verwickelte Vergangenheit plötzlich und für einen kurzen Moment einen Sinn bekommen. Ich sagte ihm, ich sei froh, daß er hier wohne. Es war ein kurzer, beglückender Moment der Zustimmung, daß in dieser verrückten Welt doch etwas gut ausgegangen war. Daß der schöne Teppich meiner Tante noch immer da lag, verstörte mich nicht. Schließlich, nachdem wir die Geduld seiner Frau lange genug auf die Probe gestellt hatten, verabschiedeten wir uns. Ein Kapitel war zu Ende gegangen.

Wir fuhren durch einige der angrenzenden Straßen, betrachteten benachbarte Häuser und kehrten dann zu meiner Schule zurück und zu der Straße, in der Tante Grete gewohnt hatte, bevor sie bei meiner Großmutter einzog. Und genau gegenüber meiner alten Schule sah ich ein Straßenschild, dem zu entnehmen war, daß die Straße jetzt «ulica Rosenbergów» hieß. Die Straße, auf der man mich verprügelt hatte, weil ich ein Jude war, trug jetzt den Namen zweier amerikanischer Juden, der Atomspione, die durch ihren Prozeß, ihre Verurteilung und Hinrichtung zu Märtyrern der europäischen Linken geworden waren! Möglicherweise die einzige nach Juden benannte Straße in Wrocław, und zugleich meine Straße!

Irgendwie hatte ich trotz allem noch immer das Gefühl, als ob bestimmte Winkel von Breslau mir gehörten, auch wenn die Rückkehr in eine Stadt, die auf der Ablehnung der Vergangenheit aufgebaut war, es für mich leichter machte, das Verschwinden meiner eigenen Vergangenheit zu akzeptieren. Ich mußte zugeben, daß die Rückkehr in eine polnisch gewordene Stadt in mancher Hinsicht einfacher war, als wenn dieselbe Stadt noch immer deutsch gewesen wäre; es hätte Unmut in mir erregt, auf Deutsche zu treffen, die in Breslau lebten, als wenn nichts geschehen wäre. So empfand ich keinen Groll, sondern nur dann und wann Ärger darüber, daß die Polen alle Anzeichen der deutschen Vergangenheit der Stadt (und meiner selbst) getilgt hatten – als hätten sie in dieser Hinsicht eine andere Wahl gehabt!

Auf dem Rückweg von der Julius-und-Ethel-Rosenberg-Straße fuhren wir am Scheitniger Park vorbei und dann wieder über die Oder zu dem Ort, wo nach meiner Erinnerung die alte Universitätsklinik war. Auch sie war erhalten geblieben, rote Backsteinbauten aus dem neunzehnten Jahrhundert, genau wie ich sie aus meiner frühesten Kindheit erinnerte, als wir in der Nähe gewohnt hatten. Am meisten hat mich wohl der Anblick dieses Ortes erregt, der so eng verbunden war mit meinen Eltern und ihren Freunden, wo mein Vater gearbeitet hatte und wo vielleicht auch ich gearbeitet hätte, wenn das Schicksal mich nicht anderswohin geschickt hätte. Peggy fragte mich, warum Breslau eine so hervorragende medizinische Fakultät gehabt hatte, in der Juden in besonderem Maß beteiligt waren. Ich konnte es ihr nicht genau erklären, doch diese wenigen Überbleibsel der Breslauer Klinik und der Villen, in denen die Ärzte gewohnt hatten, weckten nicht unangenehme Vorstellungen von einem einst glücklichen Leben, in dem eine Art Harmonie zwischen Leistung und Anerkennung, zwischen Hoffnung und Erfüllung bestanden hatte.

Heimkehr, das habe ich in diesem Buch zu erzählen versucht, sollte ich noch öfter und unter jeweils anderen Bedingungen erleben. Meine Arbeit in Europa wie in den Vereinigten Staaten nahm oft, vielleicht allzu oft einen unvorhergesehenen Verlauf, doch manchmal wies sie heimwärts, und meine politisch-historischen Interessen brachten mich zurück an die verwandelten Orte meiner Kindheit. So schaute ich etwa von Ferne zu, als Wrocław in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine neue, noble Bedeutung gewann: Es wurde zu einer Hochburg der Solidarność, jener polnischen Bewegung, die zur Selbstbefreiung Osteuropas und zum wiedervereinigten Deutschland (meinem fünften) führte. In einem gewissen Sinne stellt dieses Buch daher die partiellen Erinnerungen eines Lebens dar, das geprägt ist von einem Land, welches in fünf verschiedenen politischen Verkörperungen um seine Seele kämpfte, einem Land, mit dem ich mich versöhnte und in dem ich eine unerwartete, partielle Heimkehr erfuhr.

Leben und Studium haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß die Geschichte ein offener Prozeß ist. Es gibt keine Zwangsläufigkeit in der Geschichte. Man muß darüber nachdenken, was hätte geschehen können, wenn man verstehen will, was tatsächlich geschehen ist. Und wenn, wovon ich überzeugt bin, individuelle Akte des Anstands und des Mutes wirklich bedeutsam sind, dann ist es notwendig, sie festzuhalten und ihrer zu gedenken. In einer freien Gesellschaft halten wir die Zukunft, so sehr sie auch durch Vorbedingungen eingeengt sein mag, für offen, und wenn das so ist, dann wird das bürgerliche Engagement zu einem moralischen und politischen Imperativ. Das ist ebenfalls Thema dieses Buches.

Die Geschichte, die ich in den Vereinigten Staaten geschrieben und gelehrt habe, war selbstverständlich stark von meiner deutschen Vergangenheit geprägt. Und wenn ich mich hier auch vornehmlich mit den fünf Deutschland befasse, so schreibe ich doch über manche meiner amerikanischen Erfahrungen, wenngleich ich vieles von dem, was in meinem amerikanischen Leben für mich sehr wichtig war, ausgelassen habe: meine Entdeckungen und Enttäuschungen, meine Freuden mit Angehörigen und Freunden, meine Kümmernisse. Der Grund ist meine zunehmende Sorge um den noblen liberalen Geist dieses Landes, der, selbst auf ständige Erneuerung und Korrektur angewiesen, in den letzten fünfzig Jahren in Bedrängnis geraten ist. Ich bin in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den radikalen Kritikern des Liberalismus entgegengetreten, und seither habe ich beobachtet, wie Pseudo-Konservative und Fundamentalisten das gepriesene Engagement des Landes für Vernunft und Toleranz untergraben.

In meinen historischen Arbeiten habe ich dargestellt, wie der deutsche Angriff auf den Liberalismus im neunzehnten Jahrhundert begann und Jahrzehnte später im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt erreichte. Dabei habe ich zu ergründen versucht, woher die rationalen und die dämonischen Elemente rührten, die das Bewundernswerte an Deutschland mit seinen Ausbrüchen in die Barbarei verbanden. Der Liberalismus, schrieb Kardinal Newman in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, «ist heute kaum eine Partei; er ist die gebildete Laienwelt … er ist nichts anderes als jener tiefgehende, glaubhafte Skeptizismus, den ich als Entwicklung der menschlichen Vernunft bezeichnet habe, wie sie vom natürlichen Menschen praktiziert wird». Der tolerante, fragende Geist, über den Newman schrieb, treibt linke und rechte Extremisten fast immer zu rasendem Haß.

Wenn ich hier die Geschichte der fünf Deutschland, die ich kennengelernt habe, mit den Deutschland, denen meine historischen Arbeiten galten, mit meinen persönlichen Erfahrungen und mit meinen oft unbewußten Emotionen verknüpfe, so ist das ein Versuch, Erinnerung und Geschichte miteinander zu verschmelzen, jene ungleichen Zwillinge, die einander fördern und gefährden. Die Erinnerung ist bekanntlich fehlbar, und sie leidet bei Nationen und bei einzelnen unter den uns allen vertrauten Verzerrungen, die einem schmeichelhaften Selbstbild dienen. Ich weiß auch, daß es so etwas wie ein ehrliches (und gesundes) Vergessen gibt. Doch bei allen Mängeln und Verzerrungen ruft die Erinnerung gleichwohl das Drama der Vergangenheit wach und verweist auf einige der Gefühle, mit denen die Fakten verbunden waren. Und ich bringe eine gewisse Fachkenntnis ein, was die Rekonstruktion der Vergangenheit betrifft, sowie ein (erstaunlich großes) Reservoir an dokumentierter Erinnerung in Gestalt eines Schatzes von Briefen aus drei Generationen meiner Familie; ferner habe ich meine eigenen Tagebücher aus über fünfzig Jahren und andere Memorabilien, die sich im Laufe der Jahrzehnte bei mir angesammelt haben. Wir alle suchen nach greifbaren Spuren einer Vergangenheit, von der wir uns unwiderstehlich angezogen fühlen, und wir versuchen sie mit Leben zu erfüllen. Wir möchten in den verstreuten Überresten und den mannigfaltigen Dokumenten der Vergangenheit Zusammenhänge und Sinngehalte sehen. Ich wünschte, ich könnte von dem folgenden sagen, es sei eine Mischung aus «Dichtung und Wahrheit» – ich kann nur hoffen, daß es ein wenig von beidem enthält.

Als ich an diesem zugleich fachlichen und persönlichen Geschichts- und Erinnerungsbuch schrieb, hatte ich eine flüchtige Vorstellung von dem, wie manche von uns Historikern wirklich sind. Bei einem Kurzurlaub auf Captiva Island an der Golfküste Floridas beobachtete ich einen Schwarm Pelikane, die in die Gewässer eines fischreichen Flusses eintauchten; sie trieben mit der raschen Strömung den Fluß hinunter, wobei sie aber unentwegt flußauf blickten, und als sich dann das Flußbett zu einer Lagune erweiterte und die Strömung langsamer wurde, flogen sie zurück zur Quelle des Flusses und begannen von vorn. Endlos wiederholten sie dieses Manöver. Pelikan-Historiker, dachte ich. Auch wir leben im Strom der Zeit, bewegen uns sehr schnell vorwärts, blicken aber zurück, unsere Perspektiven ändern sich mit jeder kleinen Welle, und wir halten ständig Ausschau nach Nahrung. Nur können wir die Reise nicht wiederholen; wir können nicht wieder von vorn anfangen.

Die Deutschland, die ich – wenn auch noch so bruchstückhaft und flüchtig – kennengelernt habe, stellen zusammen das Ende eines historischen Europa dar, in das wir nicht zurückkehren können, und zugleich den Anfang einer Ära größerer Bescheidenheit, engeren Zusammenhalts und größerer Friedfertigkeit für den Kontinent. Wir waren in den letzten Jahrzehnten Zeugen wundersamer, unglaublicher Versöhnungen in Europa, die ihrerseits vielleicht Andeutungen einer partiellen Heimkehr sind. Die Geschichte dieser fünf Deutschland kann also gelesen werden als ein Leitfaden für politische und moralische Lehren, als ein Drama des Grauens und der Hoffnung. Denen, die beim Abstieg des letzten Jahrhunderts in ein Inferno zu Opfern wurden, schulden wir ein bleibendes, ehrendes Gedenken, eine besonnene Wachsamkeit und das Wissen, daß der Bazillus, der sie tötete, nicht mit ihnen gestorben ist. Camus hatte recht.

1 | Das Deutschland meiner Vorfahren

Es waren fünf Deutschland, die ich seit meiner Geburt im Jahre 1926 kennengelernt habe, doch es ist das Deutschland, das ich nicht kennengelernt habe, das Deutschland der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, das ich am besten zu verstehen glaube. Dieses Deutschland habe ich in meinem akademischen Leben erforscht, mit der gebührenden Distanz und einer gewissen Objektivität. Erst als ich mit diesem Buch begann, entdeckte ich die Tausende von Briefen, die meine Eltern mitnahmen, als wir 1938 in die Vereinigten Staaten auswanderten: Bündel von Briefen, die, sorgfältig eingewickelt oder in Holzschachteln gepackt, seit ihrer Ankunft in Amerika nicht mehr geöffnet worden waren; Briefe von früheren Generationen meiner Familie, von Freunden und Kollegen meiner Eltern, Briefe von Verwandten, geschrieben in den friedlichen Zeiten jenes älteren Deutschland; und ein wahrer Schatz von Briefen an meinen und von meinem Vater, als er im Ersten Weltkrieg an der Front war. In den Briefen wird über Alltägliches und Ungewöhnliches geplaudert; sie übernehmen wie selbstverständlich die stillschweigenden Grundannahmen jener früheren Zeit. Die Briefe berühren alle erdenklichen Themen, und sie bestätigen, verstärken und schwächen ab, was ich durch die Forschung weiß. Sie sprechen mit einer eigenen Unmittelbarkeit, und auch das Unausgesprochene zeugt von den Konventionen ihrer Zeit. Viele hätten mir, wie ich jetzt erkenne, als illustrative Fußnoten zu meinen früheren Forschungen gute Dienste geleistet oder mich zu weiteren Überlegungen angeregt.

Die Heimat von mindestens vier Generationen meiner Familie war Breslau, die Hauptstadt Schlesiens, im Osten Deutschlands, eine Stadt, die unterschiedliche Herren gesehen und ihre eigene, umstrittene Geschichte hatte. Gegründet im Mittelalter, wurde ihr Wachstum begünstigt durch die Lage an der Oder, die in die Ostsee mündet. Jahrhundertelang war es eine polnische Stadt mit dem Namen Wretslaw – ein Umstand, den Deutsche später gern vergaßen. Als ich dort aufwuchs, wußte ich, daß es zum Habsburgerreich gehörte, bis zu jenem Tag im Jahre 1741, an dem der junge preußische König Friedrich II., später Friedrich der Große genannt, ganz Schlesien – das Kleinod des habsburgischen Imperiums – der Kaiserin Maria Theresia entriß; ein bedeutender Moment in dem erstaunlichen Aufstieg Preußens. Nach 1871 wurde Breslau Teil des neugeschaffenen Deutschen Reichs, eines föderativen Staatswesens, das seinen Mitgliedsstaaten gewisse Befugnisse und den großen, historischen deutschen Staaten wie Preußen, Bayern und Sachsen ihre Monarchien ließ. Preußen gab kraft seiner Größe und Tradition innerhalb des Reiches den Ton an, und Sinnbild dessen war die Tatsache, daß die preußischen Monarchen zugleich deutsche Kaiser waren.

Die Bürger Breslaus hatten mehrere sich überschneidende Identitäten: sie waren Schlesier mit ihrem eigenen Dialekt, Preußen mit strengen Traditionen und Deutsche, Erben einer alten nationalen Kultur. Breslau war die zweitgrößte Stadt in Preußen. Viele Breslauer unterstützten im neunzehnten Jahrhundert den Kampf um die doppelten Ziele Einheit und Freiheit, das heißt, sie kämpften für einen deutschen Nationalstaat mit den in einer modernen Verfassung garantierten bürgerlichen Grundfreiheiten. Ihr liberaler Traum wurde mit dem Scheitern der Revolution von 1848 zunichte gemacht; der preußische König gewährte 1850 eine Verfassung, die dem Monarchen (der weiterhin als König von Gottes Gnaden galt) die Exekutivgewalt vorbehielt, während sie zugleich eine Legislative mit gewissen budgetären Vollmachten ermöglichte, die nach (fast) allgemeinem Wahlrecht der Männer unter einem Dreiklassenwahlrecht (abhängig von der Höhe der gezahlten direkten Steuern) gewählt wurde. Ohne auf Einzelheiten einzugehen muß man nur wissen, daß dies ein eindeutig plutokratisches System war – und natürlich hatte es unvorhergesehene Folgen. Nach einem Jahrzehnt der Reaktion und der Repression, währenddessen die deutsche Wirtschaft beträchtlich wuchs, entsandte das wohlhabende Bürgertum Schlesiens und anderer Landesteile eine liberale Mehrheit in den preußischen Landtag.

Angesichts dieser liberalen Opposition ernannte der König in einem verzweifelten Versuch, seine monarchische Herrschaft zu sichern, Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten. Bismarck, ein leidenschaftlicher, aber unkonventioneller Monarchist, bekämpfte die Liberalen und spaltete sie, indem er ihren Wunsch nach nationaler Einheit erfüllte. Unter seiner Führung blieb Preußen in drei Kriegen innerhalb von nur acht Jahren siegreich, deren Gipfel der Sieg über Frankreich im Jahre 1871 und die gleichzeitige Gründung eines geeinten Deutschland war, das mit seinem föderativen Aufbau den Mitgliedsstaaten bedeutende Vollmachten beließ. Preußen gab aufgrund seiner Größe und Tradition innerhalb des Reiches den Ton an, und der alte Adel und die Armee Preußens kämpften um ihre Vorherrschaft, doch schuf Bismarck zugleich ein deutsches Parlament, den Reichstag, der nach allgemeinem Wahlrecht von Männern zu wählen war. Er griff zu diesem revolutionären Prinzip des allgemeinen Wahlrechts (und wurde daher vielfach als «weißer Revolutionär» bezeichnet), weil er davon ausging, daß die konservative Bauernschaft dem verhaßten liberalen Bürgertum zahlenmäßig überlegen sein würde. Das war eine Fehlkalkulation: Das überschäumende Wachstum des Industriekapitalismus in Deutschland schuf eine andere Gesellschaft – mit einem ständig anschwellenden Proletariat, das die schrumpfende Landbevölkerung auf einen untergeordneten Platz verwies und seine eigenen sozialistischen Abgeordneten in den Reichstag schickte.

Die Mehrheit der mittelständischen und akademischen Schichten in Deutschland war glücklich über die endlich erreichte nationale Einheit – sie sahen mit Stolz auf oder akzeptierten zumindest ein Land, das den Rechtsstaat mit einer monarchisch-autoritären Ordnung im Inneren und einer ständig wachsenden äußeren Macht verband. Die sich vertiefenden Risse innerhalb des neuen Reiches – Bismarck selbst verstieg sich dazu, die Sozialisten und die politisch organisierten Katholiken als «Reichsfeinde» zu bezeichnen – wurden teilweise verdeckt durch den erstaunlichen Zuwachs an jeglicher Art von Macht und durch den oft maßlosen Stolz darüber, daß Deutschland innerhalb Europas zur Vormacht emporstieg. Die Linksliberalen mit ihrem Engagement für Volkssouveränität und Toleranz waren eine schwindende Minderheit im Reich; die Diskrepanz zwischen dem immer konservativer werdenden preußischen Landtag, der entschlossen war, das anachronistische politische System zu erhalten, und einem zunehmend fortschrittlichen Reichstag deutete auf einen irgendwann nicht mehr zu umgehenden Konflikt hin. Aber nur sehr wenige Zeitgenossen erkannten den Widerspruch zwischen einer dynamischen modernen Gesellschaft und einem anachronistischen politischen System, das geprägt war von sich teilweise überschneidenden Eliten: den ostdeutschen Großgrundbesitzern (Junkern), der Armee und der führenden Beamtenschaft. Anders gesagt: In einem dynamisch wachsenden kapitalistischen Land klammerte sich ein wirtschaftlich niedergehender Landadel verzweifelt an die Macht, während die vormals liberalen Mittelschichten sich eingeklemmt fühlten zwischen den alten Herrschern und den aufsteigenden Sozialisten, die als politisches Nebenprodukt der Industrialisierung Deutschlands ständig zunahmen. Viele Deutsche erkannten die Notwendigkeit einer politischen Reform, vor der die etablierten Mächte zurückschreckten.

Die Erfolge und Widersprüche dieser Welt fanden ihren Niederschlag bei meinen Vorfahren. Für sie schien «die deutsche Frage» seit 1871 geklärt zu sein; was sie beschäftigte, waren zumeist andere Dinge als die nationale Politik. Für viele von ihnen wurde Bismarck, nachdem er 1890 als Reichskanzler entlassen worden war, zu einem Idol – es gab einen regelrechten Kult um den «starken Führer», eine gefährliche Sichtweise, der manche aus meiner Familie erlagen. Anders war es jedoch in der Kommunalpolitik: Hier begünstigte das Wahlsystem die wohlhabende bürgerliche Mittelschicht, die noch immer gemäßigt liberal war.

Meine Urgroßeltern und ihre Nachkommen hatten Teil an der Prosperität und Bedeutung Breslaus, das als Schwerpunkt von Handel und Industrie mit einem ausgedehnten landwirtschaftlichen Hinterland und reichen Kohlevorkommen im Südosten dynamisch expandierte. Die Einwohnerzahl der Stadt wuchs rasch; zwischen 1861 und 1910 vervierfachte sie sich von 128.000 auf eine halbe Million; davon waren 60 Prozent Protestanten, 35 Prozent Katholiken und etwa 5 Prozent (20.000) Juden. Breslau hatte eine stolze Bürgerschaft und ein pulsierendes kulturelles Leben – beides hing eng miteinander zusammen. Die deutschen Städte wetteiferten untereinander um eine herausragende kulturelle Stellung, und die bürgerlichen Stadtväter waren bestrebt, für ihre Klasse und ihre Zeit das nachzuahmen, was zuvor die Fürstenhöfe geleistet hatten.

Eine wichtige Institution im Breslauer Kulturleben war die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität, in ihrer modernen Form im Jahre 1811, während der preußischen Reformzeit gegründet, die auf die von der Französischen Revolution entfesselten Kräfte mit einer bedachtsam kontrollierten «Revolution von oben» reagierte. Sie ersetzte eine katholische Universität, die 1702 von Kaiser Leopold I. gegründet worden war, und war Preußens erste nichtkonfessionelle Universität – mit einer katholischen und einer protestantischen theologischen Fakultät. Nach vier Jahrzehnten karger Mittelmäßigkeit wurde sie bedeutend – in der Medizin erlangte sie sogar internationales Ansehen. Während der Staat die Universität unterhielt, förderten die Stadtväter das kulturelle Leben Breslaus – das wurde augenscheinlich im Theater- und Musikleben und in der Kunstakademie sichtbar, die auf allen Gebieten Talente an sich zogen. Breslau konnte sich nicht vergleichen mit Berlin oder München oder Wien, aber es war ehrgeizig und erfolgreich.

Dank seines bedeutenden industriellen Sektors – ein Beispiel war die Borsig-Maschinenbau-AG – hatte Breslau auch eine wachsende proletarische Bevölkerung. Anfang der sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts war Ferdinand Lassalle, ein konvertierter Jude und Sohn eines Breslauer Kaufmanns, zum ersten Führer einer deutschen Arbeiterbewegung geworden, eine nicht-revolutionäre Alternative zu Marx. Jahrzehntelang hatte Breslau eine starke Sozialdemokratische Partei und radikale Gruppen auf der Linken.

Die jüdische Gemeinde Breslaus war ebenso bunt gemischt wie in den anderen deutschen Landen. Einige jüdische Familien hatten dort seit 1744 gelebt, als erstmals wieder Juden in der Stadt aufgenommen worden waren; andere aus dem ländlichen Umfeld wurden angelockt durch die Chancen, die Breslau als Stadt bot. Einige wenige kamen aus weiter östlich gelegenen Landstrichen, die sogenannten Ostjuden, die in Preußen einen verheißungsvollen Zufluchtsort sahen. Unter den Breslauer Juden gab es Reiche und Arme, Orthodoxe und Reformierte, Traditionalisten und gänzlich Assimilierte; manche Juden waren, wie wir sehen werden, vollständig in das bürgerliche Leben integriert, während die Frauen in der Sozial- und Gemeindearbeit Pionierleistungen vollbrachten. Die Juden, von vielen Karrieren ganz ausgeschlossen, etwa in der Armee, in anderen, etwa als Beamte, behindert, waren im Handel und den freien Berufen überproportional vertreten; ähnlich auf den höchsten Stufen des staatlichen Bildungswesens. Und sie waren im Durchschnitt wohlhabender, somit große Steuerzahler und Philanthropen.

Wenn ich bis zu meinen Urgroßeltern zurückgehe, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geboren wurden, so waren meine Vorfahren in vielerlei Hinsicht beispielhaft für diese Übereinstimmungen und Unterschiede. Meine vier Urgroßväter, meine beiden Großväter und mein Vater waren alle Ärzte, und ihre Erfolge und Rückschläge waren charakteristisch für ihre Schicht – immer wohlhabender bis wenigstens 1914, dazu innovativ und erfolgreich in ihrem Beruf, mit einem sehr ausgeprägten Ethos.

Von meinen vier Großeltern, die ungewöhnlich eng befreundet waren, habe ich nur meine Großmutter mütterlicherseits gekannt, Hedwig Brieger, die 1939 in unserer kleinen Wohnung im New Yorker Stadtteil Queens gestorben ist; ihr Mann Oskar war 1914 gestorben. Mein Großvater väterlicherseits, Richard Stern, starb 1911, seine Witwe zwei Jahre später, so daß Rudolf, mein Vater, mit siebzehn Jahren als Waise zurückblieb, zusammen mit einer älteren und einer jüngeren Schwester.

Die Sterns und die Briegers gehörten zum sogenannten Bildungsbürgertum, das heißt, sie waren einigermaßen begütert und schätzten, was alle Deutschen ihrer Schicht schätzten, Bildung, jenes Ziel der persönlichen Entwicklung und Erziehung, das zum Teil der Kenntnis und der Liebe der großen Werke der Kultur, der Klassiker, der Dichtung, der Musik und der Kunst entsprang. Man ging davon aus, daß dieses kulturelle Erbe den eigenen Verhaltenskodex und die Werte präge, zu denen man sich bekannte und für die man lebte. Viele Deutsche glaubten im Stillen, ihr Land sei das der «Dichter und Denker»; andere wiederum trugen diese Kultur allzu aufdringlich zur Schau, und für sie prägte der damals noch unbekannte Friedrich Nietzsche den Ausdruck Bildungsphilister. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts verband sich dieses kulturelle Erbe zunehmend mit einem überschwenglichen Glauben an Wissenschaft und Fortschritt. «Wissenschaft» hatte eine besondere, geradezu heilige Aura, sie bedeutete zugleich einen geordneten und verifizierbaren Wissensbestand und die Hingabe an das Streben nach Wahrheit; «Wissenschaft» war etwas Sittliches, das unbedingte Ernsthaftigkeit forderte. Für viele wurden Bildung und Wissenschaft zu einer Zwillingsgottheit, und der Glaube an sie wurde dadurch bestärkt, daß die Wissenschaft als ein lebensveränderndes Phänomen stetig Fortschritte machte und durch das strenge Ethos der Wissenschaftler noch an Attraktivität gewann. Goethe hatte diese Idee bereits vertreten: «Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion.» In jenen Jahren war die Wissenschaft für viele Menschen noch unschuldig, eine emanzipatorische Kraft gegen die einschüchternden Orthodoxien der christlichen Kirchen.

Der Vater meiner Großmutter väterlicherseits, Sigismund Asch, geboren 1825, war in Breslau eine legendäre Gestalt: 1848, gerade erst zum Doktor der Medizin promoviert, nahm er führend an den Revolutionen jenes Jahres teil, als Deutsche, angeregt von den Aufständen in Mailand und Paris, auf die Barrikaden gingen, mit unterschiedlichen Forderungen, deren gemeinsame Nenner die nationale Einheit und die bürgerliche Freiheit waren. Asch fügte seine eigenen radikalen sozialen Ziele hinzu, denn er war empört über die herrschende Ungerechtigkeit und Armut (er war unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen) und erfüllt von demokratischer Leidenschaft; in seinen Reden forderte er ein Ende der indirekten Steuern und die Einführung des zehnstündigen Arbeitstages, damals eine höchst umstürzlerische Idee. Asch bezog sich oft auf den schlesischen Weberaufstand von 1844, den ersten Protest gegen die Macht des Kapitals und die Ausbeutung der selbständigen Handwerker. Gerhart Hauptmanns berühmtes Stück «Die Weber» von 1892 gab ein plastisches Bild von den elenden Verhältnissen, die den Anstoß zu dem vergeblichen Aufstand gegeben hatten.

Die Zeitungen berichteten von den Taten dieses hochgewachsenen, schlanken jungen Doktors und den beeindruckenden rednerischen Fähigkeiten, die er in verschiedenen Protestversammlungen bewies. Als eine Demonstration im September 1848 das Breslauer Königsschloß zu stürmen und dadurch einen Kampf zwischen Revolutionären und bewaffneten Soldaten auszulösen drohte, drängte Asch sich an die Spitze der Menge und warnte vor Gewalt. Die Soldaten, rief er immer wieder, seien «unwillige Werkzeuge der schwarzen Reaktion». Sie zu verletzen sei «schwerstes Unrecht», weil sie eidlich verpflichtet seien, den Demonstranten zu widerstehen, und sie «Achtung» verdienten. Diese und andere Protestveranstaltungen blieben friedlich. Doch im Dezember 1848 verließ Asch den Demokratischen Verein, enttäuscht von der Intoleranz und dem Dogmatismus seiner Bundesgenossen. Seine früheren Hoffnungen wurden zunichte gemacht, als man die alte Ordnung mit gewissen kleinen Zugeständnissen wiederherstellte.

Da er sich an Plakaten beteiligt hatte, auf denen die ungeheuren Kosten der königlichen Verschwendungssucht zu Lasten der Armen angeprangert wurden, klagten ihn die Behörden wegen Majestätsbeleidigung an. Nach einem Aufschub des Prozesses wurde er im Mai 1851 zu einem Jahr Festungshaft verurteilt. Nach der Entlassung und seiner Eheschließung mit der Tochter eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns konzentrierte er sich auf seine ärztliche Praxis. Bekanntheit erlangte er dadurch, daß er bei Morgengrauen Sprechstunden für mittellose Patienten hielt; von seinen reichen Patienten verlangte er genug, um die Armen unentgeltlich behandeln zu können, und oft ließ er in ihren Wohnungen unauffällig Geld zurück, damit sie sich die von ihm verordneten Arzneien kaufen konnten. 1863 wurde er zum Stadtverordneten gewählt, ein Amt, das er sechzehn Jahre lang innehatte und in dem er sich unter anderem für die Stadtsanierung und das öffentliche Gesundheitswesen einsetzte. Er wurde zu einer berühmten Persönlichkeit, sein Leben Gegenstand verschiedener Theaterstücke, und bekannt waren auch seine familiären Beziehungen zu fortschrittlichen Bewegungen in ganz Deutschland: Eine seiner Schwägerinnen, Lisa Bauer, später Lina Morgenstern, nahm eine führende Stellung in der entstehenden Frauenbewegung ein.

Asch hatte drei Kinder, von denen eines, Betty, mit vierzehn Jahren zum Protestantismus übertrat, und ein anderes, Toni, einen jungen Arzt heiratete, Richard Stern, meinen Großvater. Asch selbst starb 1901 in der Stadt, in der er liebevoll «der Alte Asch» genannt wurde, öffentlich betrauert und würdig bestattet auf dem jüdischen Friedhof. Sein Sohn Robert, ebenfalls Arzt, hat meiner Mutter bei meiner Geburt als Geburtshelfer beigestanden. An diesem demokratischen Vorfahren habe ich immer große Freude gehabt![1]