Vorwort

Noch ein Buch über Luther? Ich war skeptisch, als die Anfrage kam. Im Bücherregal der Kirchenredaktion des Hessischen Rundfunks stehen fast zwei Dutzend Neuerscheinungen zum Reformationsjahr 2017 und warten darauf, gelesen zu werden. Doch ein Buch wie dieses, das Sie in Händen halten, hat kein anderer Verlag im Angebot. »Luther gemeinsam betrachtet«: Das sind zwei prominente Theologen im Gespräch, einer katholisch, einer evangelisch, beide weit über ihre Konfession hinaus bekannt und geachtet, beide mit den Lebensfragen der Menschen heute zutiefst vertraut. Sowohl der Benediktiner Anselm Grün wie der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider haben gut sechs Jahrzehnte bewussten Christseins und religiöser Suche gelebt. Es waren Jahrzehnte, in denen sich die jahrhundertelang bis aufs Blut verfeindeten Konfessionen rasant angenähert haben. Und für diese Lernerfahrung in der Annäherung stehen Pater Anselm und Nikolaus Schneider. Bei klarer Verwurzelung in ihrer konfessionellen Tradition bringen sie Neugier, Sympathie und Offenheit für den Partner mit.

Die Aussicht, diese beiden Glaubensdenker und Glaubensinterpreten zwei Tage lang für ein Buch und einige Radiosendungen im Hessischen Rundfunk in ein intensives Gespräch verwickeln zu dürfen, hat mich als katholischen Theologen und Radiojournalisten begeistert. Mein Kollege, der evangelische Theologe und hr-Kirchenredakteur Lothar Bauerochse, kam mit ins Herausgeberteam, sodass aufseiten der fragenden Journalisten ebenfalls beide Konfessionen zum Zuge kommen.

Von Anfang an war uns klar, dass wir keine geschichtliche Abhandlung und auch kein reformationstheologisches Seminar wollten, sondern vielmehr ein Gespräch »zur Zeit«, wir wollten wissen, wie Anselm Grün und Nikolaus Schneider Luther heute sehen, was von dieser Figur und seinem reformatorischen Impuls uns auch im 21. Jahrhundert noch ansprechen und den eigenen Glauben inspirieren kann – über Konfessionsgrenzen hinweg.

Die theologischen Stichworte, an denen entlang wir dieses Gespräch führen, gehen zurück auf die Leitgedanken der Reformation. Luther hat mit seiner »reformatorischen Entdeckung« die eigene Angst beruhigt und den Glauben als Sprung in das Vertrauen entdeckt. Angst und Vertrauen haben heute andere Erscheinungsformen, sie bilden aber existenzielle Themen, die viele betreffen und über die sich mit Luther nachzudenken lohnt. Wie fand er und wie finden wir heute zum »Glauben können«, wie geht es heute wie damals, aus einer Hoffnung heraus zu leben?

Fast überzeitlich und archetypisch wirken manche Szenen aus Luthers Leben. Sein »Hier stehe ich« vor Kirche und Kaiser in Worms beeindruckt bis heute – und wirft Fragen auf: Wie sind absoluter Widerstand und Eintreten für eine Überzeugung zu rechtfertigen, wo doch der Fundamentalismus heute als eine große Gefahr erscheint? Wie lässt sich Luthers Überzeugung von der Freiheit eines Christenmenschen verstehen, wenn Individualismus heute die Gemeinschaft aushöhlt? Wie steht es um die Verantwortung? Kann man vom ihm lernen, Risiko und Wagnisse einzugehen?

Ist Luthers wuchtiger Angriff auf die Institution Kirche, auf Klerikalismus und Machtgebaren noch aktuell? Und hat er mit seiner Kritik nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? War die Abschaffung des Mönchtums ein Fehler? Wie viel Spiritualität hat Luther den Protestanten vermacht? Sind seine Spiritualität des Berufs und seine Verweltlichung der Ehe zeitgemäß?

Es war spannend zu hören und ist nun spannend zu lesen, wie sich Anselm Grün und Nikolaus Schneider diesen Fragen zuwenden. Die unterschiedlichen konfessionellen Perspektiven, aus denen sie sprechen, machen den Reiz des Gespräches aus. Der Brückenschlag vom Mittelalter ins Heute gelingt auf inspirierende Weise. In vielen Fragen offenbaren der Mönch und der langjährige Kirchenführer große inhaltliche Nähe, es werden aber auch Grenzen deutlich, die zwischen den Konfessionen kaum zu überwinden sind. Aber so sehr sie der Wunsch nach einem gemeinsamen Zeugnis der getrennten Christen umtreibt, wollen beide keine organisatorische Einheit der Kirche als Ökumenemodell der Zukunft. Sie sprechen von »Vielfalt in der Einheit«, von einer »Ökumene der Gaben«. So lassen sich Identität der Kirchen und gegenseitige Bereicherung besser denken.

Beide sind so frei, Luthers Anfragen und Herausforderungen auch auf den Zustand der eigenen Kirchen zu beziehen. Sie fragen, wo der jeweils andere die eigene Tradition bereichert hat und wo Traditionen abgebrochen sind, die zu einer Verarmung führten.

Anselm Grün und Nikolaus Schneider liefern mit ihrem Gespräch einen verständlichen und anregenden Zugang zu Luther und zur Reformation. Es wird die Energie spürbar, die in dem reformatorischen Impuls heute noch liegt, denn die existenziellen Fragen altern nicht mit den Jahrhunderten. Luther war ein leidenschaftlicher Mensch und Gottsucher und die Gesprächspartner dieses Buches sind es ebenfalls. Die Vitalität der großen Fragen, die Luther umtrieben, wird hier für den Leser deutlich. Und die Antworten, die er gab und die Anselm Grün und Nikolaus Schneider geben, schenken auch 500 Jahre danach starke Impulse für den eigenen Glauben. Deshalb verspreche ich Ihnen eine Lektüre, die Sie informieren, inspirieren und berühren wird.

Klaus Hofmeister