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© 2016 by Fabulus-Verlag, Tanja Höfliger, Fellbach

 

Lektorat: Martina Buder, Dresden

Umschlaggestaltung, Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Illustrationen: Horst Hellmeier, Wien

E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN: 978-3-944788-47-0

 

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Für Anja und Sonja Schmucker
in dankbarer Erinnerung an unsere vielen schönen Begegnungen. Ebenso danke ich Frau Sira Ullrich für ihre hilfreichen Anregungen zu diesem Buch.

Hexarella und die langen Wörter

Hexarella kratzte sich an ihrer Nase, dann musste sie niesen. Es hörte sich an wie eine mächtige Explosion und alles um sie herum erzitterte und bebte. Hexarella wunderte sich zuerst, dann war sie aber auch ein wenig stolz darauf, so kräftig niesen zu können. Zufrieden sank sie in das Blumenmeer der Sommerwiese zurück. Doch kaum hatte sie es sich dort bequem gemacht, setzte sich auch schon der kleine Käfer wieder auf ihre Nase, der nach der Explosion erschrocken aufgeflogen war. Er war nicht größer als ein Fingernagel. Natürlich ein Hexenkinderfingernagel. Genau genommen war der Käfer nicht größer als ein Hexenkinderkleinfingernagel. Hexarella gefiel das Wort. Es war so schön lang. Ihre Lehrerin Xebxeb wies die Hexenkinder freilich immer wieder darauf hin, dass man sich lange Wörter meistens nicht so gut merken konnte wie kurze. Außerdem könnte man sich bei dem Versuch, lange Wörter auszusprechen, die Hexenzunge brechen. Trotzdem machten sich Hexarella und ihre ein Jahr ältere Freundin Dixiixi immer wieder einen Spaß daraus, extra lange Wörter zu erfinden. Erwachsenentraumwolkenvernichtungsmaschinenparkplatzeinweiseraufenthaltsraum war mit sechsundsiebzig Buchstaben das längste Wort, das Hexarella bisher erfunden hatte. Und dieses Wort musste man erst mal aussprechen können, ohne sich die Zunge zu brechen. Dixiixi und sie konnten das natürlich.

Der hexenkinderkleinfingernagelgroße Käfer krabbelte Hexarellas Nase hoch. Wie das kitzelte! Um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, musste Hexarella entweder ihr linkes oder ihr rechtes Auge schließen oder aber schielen. Hin und wieder schielte Hexarella echt gern, weil die Welt um sie herum dann nämlich so komisch und interessant zugleich aussah.

Nun war der Käfer genau zwischen ihren Augen angekommen, sodass Hexarella ihn kaum mehr sehen konnte. Dafür spürte sie seine spindeldürren Beinchen, mit denen er sich auf ihrer Haut festhielt, was Hexarella als leichtes Piksen empfand. Sie überlegte, ob sie den Käfer von ihrer Nase herunternehmen und neben sich ins Gras setzen sollte. In diesem Moment spannte er seine Flügel auf und flog mit einem hell summenden Geräusch davon. Dieses Summen erinnerte Hexarella an die Zeit, als ihre Hexeneltern noch am Leben waren. Damals hatte ihre Mutter ihr oft irgendeine Melodie oder auch ein Lied vorgesummt, das ihr gerade in den Sinn gekommen war. Hexarellas Mutter hatte eine sehr schöne Stimme gehabt. Doch dann waren ihre Hexeneltern gestorben und von heute auf morgen hatte das liebliche Summen ihrer Mutter aufgehört. Natürlich war Hexarella danach unbeschreiblich traurig gewesen. Aber das dauerte nicht lange. Die Blicke der anderen Hexen im Hexendorf waren nämlich nicht nur traurig gewesen, sondern auch voll Angst. Im ersten Moment hatte Hexarella den Grund dafür nicht erkannt. Doch auch das sollte sich rasch ändern. Sie konnte sich noch gut an die schreckgeweiteten Augen von Dixiixi erinnern, als diese einen Tag später vor ihr stand. Als Hexarella sich umdrehte, wusste sie, weshalb ihre Freundin so erschrocken war: Hinter ihr hatten sich Axafaxa und deren fünf Schwestern aufgebaut und sie grimmig angeschaut. Hexarella ahnte, was auf sie zukommen würde.

„Komm sofort nach Hause!“, hatte Axafaxa gefaucht, Hexarella an ihrer Schulter gepackt und mit ins Haus gezerrt. Dort, wo sie mit ihren Eltern die schönste Hexenkinderzeit verbracht hatte, zog nun ihre Tante ein, die Schwester ihrer Mutter, die sie noch nie leiden konnte. Gut, Axafaxa sah zugegebenermaßen hübscher aus als Hexarellas Mutter. Zumindest behaupteten das die meisten anderen Hexen im Hexendorf. Aber erstens fand Hexarella, dass das nicht stimmte; zweitens war ihr das so was von egal! – und drittens würde sie nie die Worte ihrer Hexeneltern vergessen, die einmal gesagt hatten: „Hexen können noch so schön sein, wenn ihr Charakter hässlich ist, wird ihnen ihre Schönheit nichts nützen. Denn diese wird vergehen, aber ihr hässlicher Charakter bleibt bestehen.“ Damals war Hexarella fünf Jahre alt gewesen und konnte das noch nicht so richtig verstehen. Allerdings: Axafaxa und auch die anderen fünf Hexentanten hatte sie von Anfang an nicht gemocht.

Heute wusste Hexarella nur zu gut, was ihre Eltern damit sagen wollten. Leider. Denn nachdem Axafaxa und ihre Schwestern sie nach Hause geschleppt hatten, ohne Rücksicht auf ihre Tränen zu nehmen, krempelten sie erst einmal ihr schönes Elternhaus vollkommen um.

„Das stinkt ja fürchterlich hier!“, hatte Axafaxa behauptet und dabei zusammen mit ihren Schwestern böse gelacht. Danach rissen sie alle Türen und Fenster auf, um, angeblich, frische Luft hereinzulassen. Das war natürlich erstunken und erlogen, denn Hexarellas Hexenmama und Hexenpapa hatten immer Wert darauf gelegt, selbst frisch zu duften und von feinen Gerüchen umgeben zu sein. Entsprechend achteten sie auch darauf, dass Hexarella sich jeden Morgen wusch, bevor sie aus dem Hexenhaus ging, auch wenn ihr das anfangs nicht immer gefiel und sie es als ein wenig mühselig und zeitraubend empfand.

Als nächstes hatten Axafaxa und ihre Schwestern alles aus dem Haus entfernt und zur Hexenmüllabfuhr gebracht, was auch nur irgendwie an Hexarellas verstorbene Eltern erinnerte. Dabei fingen sie mit der Hexenpuppe an, die Hexarellas Vater aus Holz geschnitzt und seiner Tochter zum ersten Geburtstag geschenkt hatte. Für sie war diese Hexenpuppe einfach nur die allerschönste Hexenpuppe gewesen, die man sich vorstellen konnte. Zuerst wollte Hexarella auf ihrem Hexenkinderbesen der Schwester von Axafaxa folgen, als sie diese mit ihrem Geschenk aus dem Haus eilen sah. Doch mit diesem Hexenkinderbesen konnte sie noch nicht richtig fliegen, sondern nur Sprünge machen wie ein Känguru, wenngleich natürlich viel höher und weiter. Also konnte sie Axafaxas Schwester nicht folgen und auch nicht verhindern, dass ihre geliebte Hexenpuppe für immer verschwand.

Die wichtigste Frage

Das kleine Vogelkind rappelte sich mühsam von dem harten Lehmboden auf, schlug verzweifelt mehrmals mit seinen kleinen Flügeln, bevor es abermals erschöpft in sich zusammensank. Seine Vogeleltern schauten sich an. Tränen standen in ihren Augen.

„Was sollen wir nur machen?“, fragte die Vogelmama und blickte hilflos von ihrem Vogelkind zu ihrem Vogelmann. „Es ist doch unser erstes Kind.“

Der Vogelpapa drehte sich zur Seite, als wollte er nicht, dass seine geliebte Vogelfrau die Tränen in seinen Augen sah. Doch das war nicht der wahre Grund. Er wusste nur einfach keinen Rat.

„Ich weiß es nicht, mein Schatz“, antwortete er, doch sie konnte ihn kaum verstehen, so leise hatte er es gesagt.

„Es war doch so schön, unser Baby.“

„Ja, das war es. Das schönste Vogelbaby, das es je gab“, stimmte er ihr zu. Dann sah er sein Vogelkind an mit diesem schmutzgrauen Gefieder, auf dem sich große, kreisrunde schwarze Flecken abbildeten. Er musste mehrmals hintereinander schlucken.

„Aber wir können doch nicht einfach nur zuschauen, wie unser Baby stirbt“, beschwor sie ihn.

„Dieser verdammte Weiher“, flüsterte er und schnaubte dabei heftig durch seine Vogelnase.

Das Vogelkind startete einen neuen Versuch, wieder auf die Beine zu kommen. Aber bereits kurze Zeit später brach es erschöpft zusammen. Hilfe suchend schaute es seine Vogeleltern an. Verzweifelt blickten sich diese nun am Rand des Weihers um, als müsste von irgendwoher in der nächsten Sekunde wunderbare Rettung nahen. Doch um sie herum war und blieb alles still, als hätten sich die Tiere des Waldes stumm verabredet, ja keinen falschen Ton von sich zu geben.

„Unser Baby wird sterben, nicht wahr?“, fragte die Vogelmama in diesem Moment ihren Mann. Dieser sah sie an und er schämte sich nicht seiner Vogeltränen. Dann nickte er.

In diesem Augenblick gab ihr Vogelbaby ein letztes, schmerzerfülltes Piepsen von sich und schloss für immer seine Vogelbabyäugelein. Gespenstische Stille breitete sich aus. Die Vogeleltern nahmen sich in ihre Flügel, schauten zuerst sich und danach gemeinsam ihr Vogelbaby an.

„Warum musste unser Baby sterben?“

Gleichzeitig hatten sie diese Frage gestellt.

Axafaxa und die Vogelkacke auf ihrem Kopf

Irgendjemand stupste Hexarella so kräftig in die Seite, dass es richtig wehtat und sie aus ihrem Traum riss. Erschrocken richtete sie sich in der Blumenwiese auf.

„Los, steh auf, du faule kleine Hexe!“, hörte sie da auch schon Axafaxas krächzende Stimme. Denn obwohl Axafaxa ja tatsächlich ziemlich hübsch aussah, hatte sie eine Stimme, mit der man nicht nur Menschen erschrecken konnte, sondern auch anständige Hexen und alle Tiere sowieso. Wahrscheinlich erschreckte sie mit ihrer Stimme manchmal sogar sich selbst.

Hexarella erkannte sofort die Traumwolkenzerstörungsnadel in Axafaxas rechter Hand. Damit also hatte sie Hexarellas Traumwolke zerstört. Axafaxa und ihre Schwestern machten sich beinahe jede Nacht einen Spaß daraus, ins Dorf zu den Menschen zu fliegen und diese mit ihren Traumwolkenzerstörungsnadeln aus allen Traumwolken fliegen zu lassen. Besonders gern machten sie das bei den Kindern, die dann meistens aufwachten, schrien und ihre Eltern aus dem Schlaf rissen. Woher Hexarella das wusste, wo sie doch nie dabei war? Nun, Axafaxa und ihre Schwestern erzählten am anderen Tag immer ganz stolz von ihren Erlebnissen mit den verängstigten Kindern, auch wenn es die meisten anderen Hexen schon gar nicht mehr hören konnten und wollten.

„Hier auf der Wiese faul herumhängen und wir Erwachsenen sollen die ganze Arbeit machen! Das würde dir so passen“, krächzte Axafaxa und packte Hexarella an ihren blonden Haaren. War es Zufall, dass Axafaxa sie meistens an der blonden Hälfte ihrer Haare packte und nicht an der braunen? Hexarella hatte keine Ahnung. Es fiel ihr nur immer wieder aufs Neue auf.

Axafaxa, die mindestens einen Meter größer war als Hexarella, beugte sich nun zu ihr herunter und starrte sie aus ihren wässrigen Augen an, als rechnete sie jeden Moment mit Hexarellas Widerrede. Doch diese hatte genug damit zu tun, die Luft anzuhalten, um nicht den säuerlichen und nach Schweiß stinkenden Geruch ihrer Hexentante einzuatmen. Also versuchte sie, sich ganz auf die schönen schwarzen Haare von Axafaxa zu konzentrieren. Das aber gelang ihr nur kurz, dann musste sie laut lachen. Hexarella wusste, dass das überhaupt nicht gut für sie war, weil sie ihre Hexentante damit erst recht wütend machte. Doch sie konnte nicht anders.

„Warum lachst du so frech?“, empörte sich Axafaxa. Zugleich schaute sie sich misstrauisch um, als könnte ihr der Grund für Hexarellas Lachen entgangen sein. Diese hielt sich ihre rechte Hand vor den Mund.

„Du – du hast – hast Vogelkacke auf dem Kopf“, brachte Hexarella da endlich mühsam hervor.