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Literaturtheorien zur Einführung

Oliver Simons

Literaturtheorien zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH

© 2009 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

I.Theorien der Bedeutung

Wilhelm Dilthey

Martin Heidegger

Hans-Georg Gadamer

Hans Robert Jauß

Peter Szondi

Paul Ricœur

II.Theorien der Zeichen

Sigmund Freud

Jacques Lacan

Roland Barthes

Jacques Derrida

Paul de Man

III. Theorien der Referenz

Theodor W. Adorno, Niklas Luhmann: Gesellschaft

Claude Lévi-Strauss, Clifford Geertz: Kultur

Michel Foucault, Stephen Greenblatt: Geschichte

Julia Kristeva, Judith Butler: Körper

Friedrich Kittler, Jean Baudrillard: Medien

Schluss

Anhang

Literatur

Glossar

Über den Autor

Einleitung

Theorien gelten oft als unzugänglich. Selbst Lehrbücher pflegen mitunter einen eigentümlichen Umgang mit theoretischen Schriften: Sie werden meist erklärt und zusammengefasst, nur selten aber textnah diskutiert. Die Literaturwissenschaft ändert ihren Stil und ihre Arbeitsweise, wenn sie sich auf Theorien bezieht. Trotz zahlreicher Einführungsbücher gibt es nur wenige Analysen theoretischer Texte, ihrer Schreibweisen oder ihrer Geschichte als Genre. In den nachfolgenden Kapiteln werden Theorien auf diese Weise vorgestellt. Ziel ist es, die Darstellungsformen, bevorzugte Metaphern und Denkfiguren in einer Auswahl wichtiger theoretischer Schriften zu erörtern, um den Leser mit konkreten Lektürevorschlägen an exemplarische Texte heranzuführen.

Die in diesem Band behandelten Theorien werden anhand eines spezifischen Problemzusammenhangs pointiert vorgestellt (für die eingehendere Behandlung der jeweiligen Autoren findet sich im Literaturverzeichnis eine Vorauswahl weiterführender Texte). Statt die theoretischen Konzepte chronologisch oder nach Schulen zu ordnen, basiert diese Einführung auf einem abstrakteren Modell. In der Sprachwissenschaft gibt es eine schematische Darstellung, das sogenannte semiotische Dreieck, mit dessen Hilfe man Sprachkonzepte seit der griechischen Antike veranschaulichen kann. Aristoteles etwa unterscheidet das Zeichen von einer Seelenregung, die es auslöst, einer Vorstellung also, die sich wiederum auf das eigentliche Ding, ein reales Objekt bezieht. Zeichen, Vorstellung und Ding sind die drei zu unterscheidenden Aspekte seines Sprachmodells. Als Darstellungsmittel hat sich das semiotische Dreieck etablieren können, weil auch nach Aristoteles Sprachtheorien zumeist auf eine vergleichbare Dreiteilung zurückgreifen. Obgleich die Definitionen der drei Elemente des Modells und ihre begrifflichen Benennungen durchaus strittig sind, eignet sich das semiotische Dreieck dennoch dazu, einige grundsätzliche Unterscheidungen schematisch vor Augen zu führen. Zeichen beziehen sich nicht unmittelbar auf eine Wirklichkeit, sie sind kein Abbild der Realität, sondern durch ein Drittes vermittelt. Das Zeichen in seiner materiellen Existenz (der Signifikant) ist daher zu unterscheiden von seiner Bedeutung, der Vorstellung (dem Signifikat), mit der man es assoziiert, die wiederum nicht identisch ist mit dem realen Ding, dem Referenten. Da sich Literatur mittels Sprache auf Welt bezieht, bedienen sich Literaturtheorien, so die Annahme dieser Einführung, eines ähnlichen Schemas und heben jeweils einen seiner Aspekte besonders hervor: den der Materialität des Zeichens; den der Bedeutung, die man mit den Zeichen assoziiert; oder aber sie beziehen sich auf Kontexte und konkrete Sachverhalte jenseits des Textes, die hier als Referenten bezeichnet werden. Die drei Kapitel dieser Einführung folgen diesem Modell und gliedern die Literaturtheorien systematisch nach Zeichen, Bedeutung und Referenz.

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Abb. 1: Das semiotische Dreieck (Eco 1977, 28)

Mit dem semiotischen Dreieck lässt sich aber auch eine historische Ausgangslage skizzieren. Wie Umberto Eco in seiner Geschichte der Semiotik ausführlich beschreibt, gab es nicht nur eine anhaltende Kontroverse über die Definition seiner Eckpunkte, das Dreieck wurde auch insgesamt als »schädliches Schema« infrage gestellt, ganz besonders zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. (Eco 1972/2002, 69) Ist die Unterscheidung von drei Aspekten wirklich erforderlich, um die Funktion von Zeichen zu erklären?

Der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure (1857–1913) etwa beschreibt Zeichen als zweigliedrig, für Objekte ist in seinem Modell kein Platz. Ob Zeichen eine reale Entsprechung haben oder nicht, sei unerheblich für die Erklärung ihrer Funktionsweise. Die Sprache ist nach de Saussure keine Nomenklatur realer Dinge, den Referenten erwähnt er lediglich, um ihn aus seinem Modell auszuschließen. Und seine Zeichentheorie steht für eine allgemeine Tendenz um 1900. Mit dem sogenannten linguistic turn entsteht nicht nur die moderne Sprachwissenschaft, auch in der Philosophie bekommt die Sprache einen neuen Stellenwert. Der linguistic turn eröffnet eine neue Denkweise, man beschreibt nicht mehr das Subjekt und sein Erkenntnisvermögen als Bedingung des Wissens, sondern die Sprache und ihre Gesetzmäßigkeiten. Diese Hinwendung zur Sprache bringt eine Abkehr vom Referenten mit sich, denn jeglicher Wirklichkeitsbezug ist über Zeichen vermittelt, deren Funktionsweise und Regeln man nun untersucht. Für eine Sprachtheorie wie die de Saussures scheint das semiotische Dreieck folglich gar nicht mehr brauchbar, im Gegenteil: Ist das Dreieck nicht ein überholtes, ontologisches Modell, weil es dem Realen noch immer einen Platz reserviert? Dies suggeriert zumindest Umberto Eco in seiner Einführung in die Semiotik. Das semiotische Dreieck sei mit einer »bleiernen Last« beschwert und würde die Befreiung vom »fatalen« (Eco 1977, 149) Referenten nicht gerade erleichtern, weil es ihn ständig in Blickweite hält und somit fälschlicherweise suggeriert, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Sprache und den Dingen. Genau darum aber, so die Annahme dieser Einführung, eignet sich das semiotische Dreieck als Beschreibungsmodell für die Literaturtheorien des zwanzigsten Jahrhunderts. Denn wie sich zeigen wird, ist die Abkopplung vom Referenten keineswegs einfach. Auch wenn der Referent per definitionem unerreichbar wäre, so scheint er doch auch bei de Saussure noch vorausgesetzt, denn immerhin begründet de Saussure die Sprachwissenschaft, indem er sprachliche Zeichen von den Gegenständen an sich unterscheidet. Auch wenn de Saussure also keine Aussagen über reale Objekte trifft, die Unterscheidung von Dingen und Zeichen ist dennoch konstitutiv für seine Sprachauffassung.

Das semiotische Dreieck eignet sich aber auch darum für eine Skizze der historischen Ausgangslage, weil nicht jede Literaturtheorie gleichermaßen von einem zweigliedrigen Zeichenmodell geprägt ist. Literatur wird auch im sozialen Kontext gelesen, man fragt nach Rückkopplungen mit der materiellen Realität, fragt nach dem Körper oder der Geschichte im Text. Gerade am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wird die Literatur als nur eine Form symbolischer Praktiken gesehen, die nun von einer umfassenderen Kulturwissenschaft untersucht werden. Nachdem Saussure und der Strukturalismus die Literaturtheorien für Jahrzehnte geprägt haben, scheint die Anziehungskraft von Referenten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts stärker zu werden. Zu beobachten ist, dass sich Theorien entweder von der Zeichentheorie distanzieren oder aber die Funktion des Referenten neu überdenken. Schließlich lässt sich der Referent nicht nur als ontologisches Objekt oder Ding an sich konzipieren, sondern auch als Form der Gegenständlichkeit, die als Bestandteil kultureller Zeichenpraktiken angesehen werden muss. Dementsprechend ist auch das semiotische Dreieck als ein Schema zu verstehen, das die Relationen der unterschiedlichen Zeichenaspekte benennt.

Folglich wird es auch in dieser Einführung nicht etwa darum gehen, die einzelnen Theorien auf jeweils einen Aspekt des semiotischen Dreiecks festzulegen. Die Zuordnungen sind vielmehr heuristischer Art, ein Leitfaden für die Lektüre der Texte im Hinblick auf eine spezifische Fragestellung. Und zweifelsohne ließen sich manche der hier vorgestellten Theorien auch anders gruppieren. Wäre Freuds Traumdeutung nicht im Kapitel über hermeneutische Theorien besser platziert? Und ist Ricœurs Hermeneutik, hier als eine Theorie der Bedeutung angeführt, nicht am Problem der Referenz interessiert? Als Modell für die Geschichte der Literaturtheorien eignet sich das semiotische Dreieck aber auch darum, weil es die einzelnen Aspekte ja gerade nicht voneinander isoliert, sondern Bezüge zwischen ihnen kenntlich macht. Strukturalisten etwa orientieren sich zwar vornehmlich an der Funktion sprachlicher Zeichen, aber auch sie beschreiben, wie Bedeutungen hervorgebracht werden. Wie wir in den nachfolgenden Kapiteln sehen werden, bedingen die einzelnen Aspekte einander, entweder in Form konkreter Bezugnahmen oder aber als Abgrenzung und Unterscheidung. Mithilfe des semiotischen Dreiecks lassen sich also nicht nur Schwerpunkte der jeweiligen Theorien markieren, es zeigt auch deren Grenzen und methodischen Herausforderungen an.

Für den linguistic turn ließen sich ganz unterschiedliche Autoren nennen: Friedrich Nietzsche, Gottlob Frege, Ludwig Wittgenstein oder Charles Sanders Peirce unter anderen. In der Geschichte der Literaturtheorien am wichtigsten ist jedoch zweifelsohne Ferdinand de Saussure. Seine von Albert Sechehaye und Charles Bally postum 1916 herausgegebenen Vorlesungen über die Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft sind eine Propädeutik für das Verständnis von Literaturtheorien des zwanzigsten Jahrhunderts, weil ohne Kenntnis ihrer Begrifflichkeit ein Großteil der Theorien einfach nicht lesbar ist. Um einige der wichtigsten Definitionen zu nennen: Sprachliche Zeichen sind nach de Saussures Vorlesungen nicht nur abgeschnitten von realen Referenten, sie sind auch in sich selbst unterteilt. De Saussure unterscheidet das »Bezeichnende«, Signifikanten, und »das Bezeichnete«, Signifikate – die äußere Form des Zeichens und seinen Vorstellungsinhalt. (Saussure 1916/ 1967, 79) Beide sind unterschieden und doch nie getrennt voneinander – wie die zwei Seiten eines Blatt Papiers. (134) Trotz dieser engen Verbindung ist die Beziehung von Signifikanten und Signifikaten den Vorlesungen zufolge »arbiträr« (135), d. h. beliebig; es gibt keinen außersprachlichen Grund, warum man mit einer Lautfolge eine bestimmte Vorstellung assoziiert, Signifikat und Signifikant sind nicht fest verfugt, wenngleich man sich ihrer Differenz gar nicht bewusst wird. Sprachliche Zeichen haben keinen substanziellen Bedeutungskern, sie sind relationale Gefüge, folglich aber auch veränderbar. Die Bedeutung eines Zeichens ist ein »Wert« (132), der sich von Fall zu Fall aktualisiert, denn so unverrückbar die Bedeutungen auch scheinen mögen, eine Lautfolge wie »Baum« etwa kann verschiedene Vorstellungen hervorrufen. Jedes Wort ist »unbewusst« (147) mit einer Menge vergleichbarer Wörter assoziiert, die mit »Sitz im Gehirn« Teil des menschlichen Sprachschatzes sind. De Saussure beschreibt das Zeichen daher auch als »Urteil«, das eine Verbindung zwischen Signifikanten und einem Signifikat herstellt: Der Hörer einer Lautfolge wählt aus einem »Paradigma« ähnlicher Vorstellungen eine bestimmte aus (151), ohne dass man sich dieses Vorgangs bewusst werden würde. Je nach Gesprächskontext erscheint eine spezifische Bedeutung evidenter als andere, entsprechend fasst man sein Gegenüber auf. Wie de Saussure mit seiner Beschreibung jedoch verdeutlicht, sind auch evidente Assoziationen mit bestimmten Vorstellungen niemals ausschließliche Bedeutungen von Wörtern.

Der linguistic turn, so wurde angedeutet, verschiebt die Aufmerksamkeit vom Subjekt und seinem Erkenntnisvermögen auf die Sprache und ihre Gesetzmäßigkeit. Mit dieser Verlagerung verschwindet das Subjekt aus dem Zentrum der Philosophie. Die Grundlagen des Wissens werden nicht mehr im Subjekt gesucht, vielmehr wird das Subjekt umgekehrt von den Regeln der Sprache dominiert. In den postum veröffentlichten Vorlesungen Saussures wird diesem Umstand mit einer weiteren begrifflichen Unterscheidung Rechnung getragen. Als parole bezeichnet de Saussure die konkrete Rede eines Individuums, all das, was gesprochen wird, die Sprache in ihrer empirischen Erscheinung. Die allgemeinen Gesetze der Sprache hingegen, die den sinnvollen Zeichengebrauch erst ermöglichen, sind nach de Saussure in der langue zu finden, der Sprache als System von Regeln. (22) Die langue ist Bedingung der Möglichkeit des Sprechens, und weil sie dem Sprechen vorausgeht, tritt sie als solche nie direkt in Erscheinung. Die langue definiert die allgemeinen Gesetze, nach denen ein jeder seine Rede von Fall zu Fall formuliert, sie ist bestimmend für die Rede des Subjekts, nicht ihrem Inhalt nach, sondern viel grundsätzlicher in rein formaler Hinsicht. Die langue ist allgemeiner noch als eine Grammatik oder das Wörterbuch, sie ist das Apriori der Sprache, dessen Regeln einem jeden Subjekt eingeschrieben sind. Um ihr System beschreiben zu können, bedarf es der Linguistik.

Wichtig ist, dass die Unterscheidung von langue und parole keineswegs als faktische Trennung zu verstehen ist. Wie das Apriori der Transzendentalphilosophen niemals in reiner Form gegeben ist, so ist auch die langue de Saussures nicht an sich erkennbar. Die formalen Eigentümlichkeiten der Sprache zeigen sich immer konkret, anhand eines spezifischen Untersuchungsgegenstands. Und so müssen auch die einzelnen Elemente der langue als Abstraktionen verstanden werden. So wird man beispielsweise nie einem reinen Signifikanten begegnen, denn signifikant kann nur sein, was bereits Teil eines semiotischen Verweisungszusammenhangs ist. De Saussures Skizze sprachlicher Zeichen zeigt demnach nicht, wie zwei voneinander unabhängige Sphären von Signifikanten und Signifikaten miteinander in Beziehung treten, vielmehr geht es darum, die Art der Beziehung in Form einer Relation anschaulich zu machen. Gemäß dieser Skizze aus den Vorlesungen haben sprachliche Zeichen zunächst eine vertikale Dimension: als Verbindung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, die de Saussure in Form eines Bruchs darstellt. (136) Um zu zeigen, dass sie trotz dieser internen Zweigliedrigkeit eine Einheit bilden, umzirkelt de Saussure beide noch mit einer Ellipse.

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Abb. 2: Sprachliche Zeichen (Saussure 1916/1967, 78)

Sprachliche Zeichen haben ihre Bedeutung nicht an sich, sondern nur aufgrund ihrer Differenz zu anderen Zeichen. Diese Differenz ist ebenso Voraussetzung für die Bedeutung eines Zeichens wie die arbiträre Verknüpfung von Signifikant und Signifikat. Zeichen sind demnach aber auch horizontal organisiert, eingebunden in eine Rede, die sich linear als Aneinanderreihung und Gliederung verschiedener Ausdrücke entwickelt. Neben der »paradigmatischen« Dimension eines Zeichens beschreibt de Saussure diese horizontale Gliederung der Rede als »syntagmatischen« Zusammenhang.

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Abb. 3: Zeichenkette (Saussure 1916/1967, 137)

Signifikant und Signifikat, Paradigma und Syntagma, oder allgemeiner: Vertikale und Horizontale sind nur einige der Begriffspaare aus de Saussures Vorlesungen zur Sprachwissenschaft, an denen sich insbesondere die Literaturtheorien des Strukturalismus orientiert haben. Mit einem Begriff Michel Foucaults könnte man de Saussure als einen »Diskursbegründer« (Foucault 1964/1991, 24) bezeichnen, als einen Autor nämlich, der den Rahmen und die Konstitutionsbedingungen für andere Texte und Theorien bereitgestellt hat. Tatsächlich sind de Saussures Definitionen des Zeichens und der langue zur Grundlage zahlreicher Konzepte geworden, seine Terminologie und dichotomische Denkweise hat nicht nur Eingang in verschiedene Theorien gefunden, sie wurde auch korrigiert und weiterentwickelt. Selbst Hermeneutiken, die sich nie auf de Saussure berufen haben, entwickeln ihr eigenes Sprachmodell in Auseinandersetzung mit seiner Sprachtheorie. Dass diese Lesarten seiner Sprachtheorie ihm dabei nicht unbedingt immer gerecht werden, liegt auf der Hand. Selbst die Strukturalisten, die sich am emphatischsten auf sein Zeichenmodell berufen, folgen einem ganz spezifischen Bild von de Saussure. Wie Ludwig Jäger ausführlich zeigen konnte, bieten die Vorlesungen de Saussures keineswegs einen verlässlichen Zugang zu seiner Theorie (Jäger 2010, 10-17). Die strukturierenden Eingriffe und auch Editionsfehler der beiden Herausgeber Sechehaye und Bally sind gravierend, so Jäger, da die meisten Grundbegriffe, die für de Saussures Karriere und Wirkungsgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert so wichtig sind, aus eigentlich ganz anderen Denkzusammenhängen kommen. So habe man de Saussure etwa ein einseitiges Interesse an einer Theorie der langue unterstellt und sein Konzept von der reinen Form der Sprache von der parole getrennt, obwohl dies seinem eigenen komparatistischen Forschungsinteresse geradezu widerspricht (111). Auch dank einer neuen Publikationslage seiner nachgelassenen Schriften hat die Forschung heute ein viel differenziertes und genaueres Bild von de Saussure. Für diese Einführung in die Literaturtheorien jedoch sind diese Erkenntnisse von nachgeordnetem Interesse. Die hier auf der Grundlage seiner Vorlesungen knapp umrissenen Begriffe müssen allein darum am Anfang stehen, weil sich die Literaturtheorien ausschließlich auf diesen Saussure bezogen haben.

Zu bedenken ist schließlich auch, dass in de Saussures Vorlesungen, obwohl sie gemeinhin als eine Art Propädeutik für die Literaturtheorien des zwanzigsten Jahrhunderts gelesen werden, von literarischen Texten gar keine Rede ist. Erst im russischen Formalismus um Boris Tomashevsky und Roman Jakobson sowie später in der Prager Schule des Strukturalismus hat man versucht, mit de Saussure auch eine Definition von Literatur zu formulieren. Jakobson etwa, um das prominenteste Beispiel zu erwähnen, unterscheidet die Literatur von anderen Zeichenpraktiken in rein formaler Hinsicht und skizziert das Spezifikum der Literatur als »poetische Funktion«. Charakteristisch an der Literatur ist eine eigentümliche Form des Zeichengebrauchs, bei der man »das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination« überträgt, so Jakobson in Linguistik und Poetik. (Jakobson 1960/1989, 94) Literarische Texte haben eine besondere Struktur, weil sie von Ähnlichkeiten geprägt sind. Die Alliteration zum Beispiel wiederholt den Anfangsbuchstaben in zwei aufeinander folgenden Wörtern, »horrible Harry«, und erzeugt damit in einer syntagmatischen Anordnung eine besondere Lautstruktur, die auch die Wahrnehmung eines so kurzen Ausdrucks entscheidend beeinflusst. Literarische Texte sind Jakobson zufolge überstrukturiert, sie lenken die Aufmerksamkeit auf die Form ihrer Botschaft. »Ähnlichkeit« heißt somit nicht etwa, dass der literarische Text mimetisch ist und einen Gegenstand mehr oder weniger gelungen repräsentiert, die Ähnlichkeit von Zeichen beruht auf einem ihnen gemeinsamen Paradigma. Die Semantik eines literarischen Textes verweist auf seine Semiotik und formale Struktur. Um es mit dem semiotischen Dreieck zu veranschaulichen: Jakobsons rein formale Theorie der Literatur orientiert sich ausschließlich an der Funktion des Zeichens, am Signifikanten.

Jakobsons Definition von Literatur ließen sich weitere, weniger formalistische Beispiele hinzufügen. Nicht alle Literaturtheorien orientieren sich am linguistischen Sprachmodell. Literatur ist kein unveränderlicher »Gegenstand« im eigentlichen Sinne. Die Frage, was Literatur ist und von anderen Text- oder Sprachmodellen unterscheidet, wird immer wieder aufs Neue gestellt. Jede Theorie enthält ein eigenes poetologisches Modell. In der Hermeneutik Wilhelm Diltheys etwa, mit dem das erste Kapitel beginnt, ist Literatur eine besondere Form des Ausdrucks, die dem Genie am besten gelingt. Hinter dem literarischen Text steht ein Dichter mit einem individuellen, schöpferischen Vermögen. Diltheys Hermeneutik orientiert sich nicht am Zeichen, sondern an Sinn und Bedeutung von Texten.

I. Theorien der Bedeutung

Wilhelm Dilthey

Mit seinem 1900 veröffentlichten Aufsatz über die Entstehung der Hermeneutik setzt Wilhelm Dilthey (1833–1911) eine anhaltende Diskussion in Gang. Sein knapper historischer Abriss wird später häufig zitiert, mitunter auch als eine Geschichtsdarstellung, die der Korrektur bedarf. Hans-Georg Gadamer, Manfred Frank oder Peter Szondi etwa erzählen die Entwicklung der Hermeneutik anders. Seit Dilthey aber sind hermeneutische Theorien unter anderem daran zu erkennen, dass sie ihren Ansatz im Rückblick auf ihre eigene Geschichte entwickeln. Die Hermeneutik bezieht sich nicht nur auf historische Gegenstände, sie begreift sich selbst als historische Lehre des Verstehens.

Hermeneutik leitet sich vom griechischen Verb hermēneúein her – »übersetzen«, »auslegen«, »interpretieren« – und kann sich auf völlig unterschiedliche Textsorten beziehen. In der Antike und im Mittelalter diente sie vor allem der Auslegung juristischer oder biblischer Schriften, erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts dehnt sie ihre Anwendungsbereiche auf historische Dokumente und literarische Texte aus. Aber nicht nur der Gegenstand hermeneutischer Interpretationen ändert sich, sondern die Theorie als solche ändert sich grundlegend. Von der philologischen Lehre der Interpretation und Auslegung von Texten ist die Hermeneutik als philosophische Theorie des Verstehens strikt zu unterscheiden. Beide Formen der Hermeneutik, Philologie und Philosophie, haben ihre je eigenen Entwicklungsgeschichten, die immer wieder aufeinandertreffen, sich verschränken und überschneiden, gerade darum aber der Unterscheidung bedürfen. Wilhelm Dilthey etwa bezieht sich zwar häufig auf die Philologie, seine eigenen Schriften sind aber der philosophischen Hermeneutik zuzurechnen. Obwohl er die Literaturwissenschaften nachhaltig geprägt hat, ist eine konkrete methodische Anleitung zur Interpretation von Texten bei ihm nicht zu finden – und auch nicht zu erwarten. Die Literatur ist für Dilthey weniger Gegenstand hermeneutischer Lektüren als vielmehr Modell einer allgemeinen Verstehenslehre. Ein Schlüsselbegriff seiner Theorie ist das psychologische »Nacherleben«, das »Nachfühlen fremder«, und das heißt bei ihm: vergangener »Seelenzustände«. Philologie und Geschichte sollen das »Nachverständnis des Singulären zur Objektivität« erheben. Wie genau aber dieses Ziel zu erreichen ist, so wird sich zeigen, erklärt Dilthey nicht in methodischer Hinsicht, sondern im Sinne einer allgemeinen Theorie des Verstehens.

Für Dilthey hat das Nacherleben eine Art therapeutische Funktion. Seine eigene Gegenwart nimmt er als krisenhafte Epoche wahr, der »moderne Mensch« lebe in einer entfremdeten Zeit, weil ihm der Bezug zur Geschichte und damit zu all jenen Dingen fehle, die er selbst hervorgebracht hat. In der von den Naturwissenschaften dominierten Moderne soll die Hermeneutik eine Perspektive eröffnen, aus der diese Entfremdung von der Geschichte und die Distanz zu sich selbst überwunden werden kann. In Diltheys Idealbild ist Geschichte daher in einem ganz wörtlichen Sinne erfüllend. Das »historische Bewußtsein« ermögliche es »dem modernen Menschen, die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig zu haben: über alle Schranken der eignen Zeit blickt er hinaus in die vergangenen Kulturen; deren Kraft nimmt er in sich auf und genießt ihren Zauber nach: ein großer Zuwachs von Glück entspringt ihm hieraus.« (Dilthey 1900/ 1957, 317) Wie ein olympischer Betrachter überschaut der Historiker die Geschichtslandschaft, er hat eine Art panoramatischen Blick auf die Vergangenheit, ist damit aber auch über seine eigene Zeit erhaben.

Beschreibungen wie diese sind charakteristisch für Diltheys Argumentationsstil. Die vielleicht auffälligste Denkfigur seiner Texte ist ein dialektisches Widerspiel von innen und außen: Der Blick hinaus ist erhebend für das Innere, die historischen Dokumente wiederum sind »Individuationen«, ein Ausdruck also, der Einblicke in fremde Seelen gewährt. Als »wissenschaftliche Erkenntnis der Einzelperson« ist Diltheys Hermeneutik zwar auf Schriftstücke und Denkmäler angewiesen, aber die historischen Überlieferungen sind auch ein Hindernis, will man sich in die fremden Individuen einfühlen. Die »Seelenzustände« sind keine Vorstellungen, die man direkt zu Papier bringen könnte. Ein unmittelbarer Zugang zum anderen Individuum ist Dilthey zufolge daher kaum möglich. »Fremdes Dasein« sei nur in Form von »Gebärden, Lauten und Handlungen von außen gegeben«, gerade darum aber müsse der Interpret »durch den Vorgang der Nachbildung« auf das »Innere« schließen: »Alles: Stoff, Struktur, individuellste Züge dieser Ergänzung müssen wir aus der Lebendigkeit übertragen.« Im Vergleich zu Denkmälern und Kunstwerken seien es vor allem Schriftstücke, die »Reste menschlichen Daseins« (319) so bewahren, dass sie der Interpret nacherleben kann.

Wie in diesen knappen Erläuterungen bereits deutlich wird, basiert Diltheys Hermeneutik auf einem einfachen Repräsentationsmodell. Die Zeichen korrespondieren mit Seeleninhalten, ihre Bedeutung ist demnach nicht von der Sprache und ihren Regeln abhängig, sondern vor allem von der individuellen Ausdruckskraft. In einer »von Lüge erfüllten menschlichen Gesellschaft« ist Dilthey zufolge einzig das »Werk eines großen Dichters oder Entdeckers, eines religiösen Genius oder eines echten Philosophen« immer wahr. (320) Einzig das Genie sei in der Lage, sein Seelenleben auf wahrhaftige Weise zur Sprache zu bringen. Und weil sich das Genie mit seinem schöpferischen Vermögen gewissermaßen unabhängig macht vom gewöhnlichen Sprachgebrauch, bedürfe es auf der anderen Seite einer »genialen Virtuosität des Philologen«, um diese individuelle Ausdruckskraft verstehen und darstellen zu können. Ein guter Interpret, der ein Werk nachzuerleben vermag, ist folglich kaum weniger begabt als der geniale Autor.

Besonders anschaulich wird diese Verbrüderung von Genie und virtuosem Philologen, wenn Dilthey selbst das »Werk eines großen Dichters« interpretiert. Über Goethe und das dichterische Phantasieren schreibt Dilthey 1906, dass der Mittelpunkt einer jeden Literaturgeschichte die »Phantasie des Dichters« sei. (Dilthey 1906/ 2005, 113) Als exemplarischer Autor bringe Goethe »dichterische Vorgänge« auf eine Weise zum Ausdruck, wie es dem »biederen Durchschnittsmenschen« (121) nicht möglich wäre. Einzigartig sei Goethe vor allem, weil er von sich selbst abzusehen vermag: »wir müssen uns das Genie […] gänzlich den Tatsachen hingegeben denken, gewahr werdend, beobachtend, sein Selbst ganz vergessend und verwandelnd und das, was es erfaßt.« (132) Genies gehen entweder in der äußeren Erfahrung auf, so Dilthey, oder sie erleben ihr inneres Selbst auf besondere Weise, in jedem Fall aber zeichnet es sie aus, dass sie einen Ausdruck finden, der über ein bloß subjektives Empfinden hinausweist. Goethes Fantasie ist das Medium für etwas Allgemein-Menschliches.

Darüber hinaus aber ist Goethe auch ein Modell für die hermeneutische Theorie. Seine »Schöpfungen«, die Autobiografie Dichtung und Wahrheit insbesondere, veranschaulichen eine Form des Verstehens, an der sich die Hermeneutik orientieren kann. Im Lebenslauf ordnet Goethe seine Erlebnisse, er gibt ihnen eine Bedeutung und setzt sich in Beziehung zum historischen Kontext. Goethe versteht sich selbst im Zusammenhang mit seiner Zeit, er vermittelt individuell Erlebtes mit dem historisch Allgemeinen. Als Autobiograf ist er Subjekt und Objekt in einem, Dichter und Interpret. Und genau dies ist die Grundstruktur des Verstehens in den Geisteswissenschaften: Ihre Objekte sind zwar subjektive Äußerungen, deren Bedeutung aber zeigt sich im Hinblick auf ein Ganzes. Diltheys Goethe-Porträt ist demnach ein Gegenbild zur Moderne. Im Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem sind alle Dissonanzen und Widersprüche aufgehoben, das Verstehen stellt einen Übereinklang von Individuellem und Allgemeinem her – so das Ideal Diltheys, das er bei Goethe verwirklicht sieht.

Auf die Herausforderungen seiner eigenen Zeit reagiert Dilthey mit einem ausgeprägten Harmonisierungsbedürfnis. Und dies zeigt sich auch in der Grundstruktur seiner Argumentation: Dem genialen Dichter entspricht ein nicht minder virtuoser Philologe, Goethe ist einerseits Gegenstand seiner Interpretation und zugleich ihr Modell, der Historiker schaut hinaus in eine Landschaft, die er im Inneren nacherlebt – mit diesen Beschreibungsmustern ersetzt Dilthey die theoretische Begründung seiner Hermeneutik. Auch das »Verstehen« basiert nicht auf einer Erkenntnistheorie, sondern auf der Logik einer einfachen Umkehrung. Das schöpferische Genie verleiht seinem Inneren einen Ausdruck, der virtuose Philologe schließt vom Ausdruck aufs Seelenleben. Autor und Interpret sind auf kongeniale Weise miteinander verbunden, weil sich das Verstehen strukturell von der dichterischen Schöpfung gar nicht unterscheidet. Der Dichter ist ein Interpret seiner selbst, wie der Interpret gleichsam ein Dichter ist und seine Auslegung ein »kunstmäßiger« Vorgang.

Im Aufsatz über die Entstehung der Hermeneutik folgt Dilthey einem vergleichbaren Schema. Auch dieser Essay ist keine theoretische Programmschrift, kein methodisches Traktat, und auch hier steht die Interpretation eines herausragenden Werks im Mittelpunkt. Ohne das Genie Friedrich Schleiermachers (1768–1834) nämlich wäre die Entstehung der philosophischen Hermeneutik für Dilthey nicht denkbar. Um dessen historischen Stellenwert als Wendepunkt in der Entwicklung der Hermeneutik markieren zu können, bedarf es wiederum der eingangs erwähnten Geschichtserzählung, vor deren Hintergrund sich die einzigartige Leistung Schleiermachers abhebt. Wie angedeutet, hat die Geschichte der Hermeneutik für Dilthey eine fundierende Funktion, zumal sich mit ihrer Hilfe die Entfremdung des modernen Subjekts überwinden lässt. Schließlich überspannt die Geschichte der Hermeneutik alle Epochen des Abendlands, von der griechischen Antike bis zur Gegenwart.

Dilthey lässt die Entwicklungsgeschichte der Hermeneutik mit den Homer-Interpretationen und Kommentaren zur Stoa beginnen. Hier sei erstmals zwischen einem buchstäblichen und einem allegorischen Textsinn unterschieden worden, da der wörtliche Sinn eines Textes »als absichtliche Einhüllung eines pneumatischen Sinnes« zu verstehen sei. (Dilthey 1900/ 1957, 322) Die eigentliche Bedeutung eines Textes ist also nicht niedergeschrieben, sie bedarf der Auslegung und Interpretation. Einen zweiten Entwicklungsschub macht Dilthey zu Beginn der Neuzeit und Reformation mit dem Lutheraner Matthias Flacius (1520–1575) aus. In den Clavis Scripturae Sacrae von 1567 fasst Flacius die seit der Antike praktizierten Lektüreformen zu einem Lehrgebäude zusammen. Von ihm stamme auch die erste Beschreibung des »hermeneutischen Zirkels«, »nach welchem die einzelne Stelle aus der Absicht und Komposition des ganzen Werkes interpretiert werden muß« (325). Die Bedeutung einer jeden Einzelheit ergibt sich im Hinblick auf das Ganze, das Ganze wiederum setzt sich aus dem Einzelnen zusammen.

So bringt in Diltheys Geschichtserzählung jede Entwicklungsphase der Hermeneutik einen Aspekt hervor, der sich auch in seiner eigenen Lehre noch wiederfindet. Das gilt für die Unterscheidung zwischen buchstäblichem und pneumatischem Sinn ebenso wie für das von Flacius beschriebene zirkuläre Zusammen- und Widerspiel von Teil und Ganzem. Dilthey wendet die Hermeneutik gewissermaßen auf sich selbst an und wird somit seinerseits zum Betrachter einer Geschichtslandschaft, der dank seiner Übersicht die historischen Errungenschaften seiner Vorläufer vergegenwärtigen kann. Möglich ist ihm dies aber nur, weil ihm mit der Hermeneutik Schleiermachers wiederum das Werk eines Genies vor Augen ist, das die Geschichte der Interpretation auf eine neue Ebene gehoben hat. Erst Schleiermacher gibt der Hermeneutik die entscheidende Wendung, weil er über die philologische Textauslegung hinausgeht und eine allgemeine, philosophische Lehre des Verstehens etabliert. Seine Stellung in Diltheys Aufsatz ist mit der Goethes vergleichbar, und auch hier findet sich dasselbe Argumentationsmuster: Dank Schleiermacher gibt es überhaupt erst eine philosophische Hermeneutik, aber dies zu erkennen bedarf es eines kongenialen Interpreten. Mit seinem Kommentar begründet Dilthey die Wirkungsgeschichte Schleiermachers und damit die Hermeneutik als eine Philosophie, deren zeitgenössischer Repräsentant niemand anderes ist als er selbst. Schleiermachers Lehre vom Verstehen wäre kein Wendepunkt ohne die von Dilthey geschriebene Geschichte der Hermeneutik. Seine Darstellung Schleiermachers ist folglich aber auch eine Deutung und Interpretation aus einer ganz bestimmten Perspektive, und das hat nicht unerhebliche Folgen für das Bild der Hermeneutik im zwanzigsten Jahrhundert.

Einleitung in die Geisteswissenschaften