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Fachbereich
THEOLOGIE DER KULTUR

Grass und Indien / Hinduismus

Von Prof. Karl-Josef Kuschel

I. DIE ERSTE INDIEN-REISE: TRAUM ODER TRAUMA?

In der deutschen Literatur ist Indien unlösbar mit dem Namen Hermann Hesse verbunden. Nicht zufällig trägt Hesses bekanntestes, bis heute populärstes Buch „Siddhartha“ (1922) als Untertitel die Bezeichnung „Eine indische Dichtung“. Mehr als andere hat Hesse dafür gesorgt, dass indische Geistigkeit in der deutschen Literatur eine Heimat fand. Deshalb ist es seltsam zu denken: Eines der letzten schriftlichen Zeugnisse, die wir von Hesses Hand haben, berichtet von einem Traum mit indischem Inhalt. Im Mai 1962, wenige Wochen vor seinem Tod, veröffentlicht Hesse noch einmal einen Text unter dem Titel „Brief im Mai“ (Neue Züricher Zeitung 26. Mai 1962) und erzählt von einer im Schlaf traumartig völlig verwandelten Szene. Überraschend hoher Besuch ist zu Hesse in Schweizerische Montagnola gekommen: André Gide. Dieser große französische Schriftsteller will Hesse noch einmal sehen. Gide aber ist wortkarg, schlechter Laune, zieht sich bald ins Gastzimmer zurück. Dann tritt er mit dem Gastgeber vor die Haustür, vermutlich zu einem Spaziergang entschlossen, bleibt aber dicht vor dem Haus stehen, zögert, wie im Nachdenken versunken, und: vollführt dann eine tiefe Kniebeuge. Mehr noch: Aus dieser ohnehin schon mühsamen Stellung streckt er ein Bein nach vorn in die Luft, etwa wie slawische Tänze es verlangen, nur viel langsamer und feierlicher. Es ist ein unverkennbarer religiöser, sakraler Akt, dessen Bedeutung der Träumende nicht erraten kann. Als Gide sich aufrichtet, gibt er dem Gastgeber eine Erklärung ab mit den Worten: „Alles ist. Alles ist nicht. Es ist indisch.“ – „Coincidencia Oppositorum“, antwortet der Gastgeber im Traum. Da starrt Gide ihn verloren an, überlegt offrenbar, ob er zustimmen soll. Plötzlich ist noch ein dritter Mann präsent, ein französisch aussehender Herr. Gide beginnt mit seinem Landsmann zu plaudern und geht im lebhaften Gespräch fort ohne Erklärung, ohne Abschied (GB IV, Frankfurt/M. 1986, S. 418–424).

Indisches im Traum. Was könnte charakteristischer für Hesses Verhältnis zu diesem gewaltigen Kontinent sein? Er verabschiedet sich aus seinem 85 Jahre dauernden Leben mit diesem merkwürdigen Luftgespinnst: „Alles ist. Alles ist nicht. Es ist indisch“. Kryptisch, rätselhaft das Ganze, wie Indien, von dem er zehrte. Typisch für ihn auch der Inhalt des Traums: das Changieren zwischen Sein und Nichtsein. Alles und Nichts. Typisch auch die Form, in der er von Indien berichtet: die Botschaft aus dem Innen, das Signal aus der Tiefe, dem Unbewussten, Vorsprachlichen. So hat er Indien immer gesehen, so hat er es geliebt, sein „geistiges Indien“, nachdem die Reise in das real existierende Indien einst 1911 gescheitert war.

Am 9. August 1962 war Hermann Hesse gestorben. 13 Jahre später reist ein anderer, für die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts nicht weniger repräsentativer Schriftsteller ins real existierende Indien. Er findet ein radikal anderes Indien als Hesse. Am 3. Februar 1975 hält er in Neu Delhi vor dem Council of Cultural Relations eine Rede unter dem Titel „Nach grober Schätzung“ und vollzieht spätestens jetzt öffentliche sichtbar einen Bruch mit dem traditionellen deutschen Indien-Bild als Erbe der Romantik:

„Von Europa aus gesehen ist Indien ein Land, das sich nicht mehr romantisch verklären oder als ‚geheimnisvollunbegreiflich’ verdrängen lässt. Man spricht vom indischen Trauma. Indien? Erschreckend gegenwärtig. Wir kennen die Zahl der wachsenden Bevölkerung. Sind es 570 oder schon 600 Millionen? Wir hören von sog. Unruhen in den Bundesstaaten Bihar und Utta Pradesch. Grobe Schätzungen variieren mehrstellige Zahlen. Bei uns gibt es junge Leute, die vom Hare-Krischna-Kult und vom Nirwana schwärmen. Bei uns sind gut ausgestattete Bildbände käuflich, in denen die Kultur Indiens schön ist. In unseren Zeitungen, voll von eigenen Skandalen, haben indische Korruptionsskandale mittleren Stellenwert. Bei uns ist man satt und möchte nicht mit schlechtem Gewissen satt sein …
Ist – so frage ich mich und Sie – das indische Elend schier unabänderlich, weil es als Fatum, Schicksal, Karma verhängt ist? Dann werde ich mit bitterer Erkenntnis heimkehren. Oder ist das indische Elend, wie anderes Elend auch, nur Ergebnis der Kasten und Kastenherrschaft, Misswirtschaft und Korruption? Dann sollte es aufzuheben sein, dieses Elend, weil es Menschenwerk ist.“ (Essays und Reden Bd. II, 1970–1979, Göttingen 1997, S. 392–401, Zitat S. 401)