Inhalt



Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Danksagung




Für Fee. 

Immer und immer wieder

Impressum




© 2016, hansanord Verlag


Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten
Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen - nur nach Absprache und Freigabe durch den Herausgeber.


ISBN: 978-3-940873-94-1


Für Fragen und Anregungen: info@hansanord-verlag.de


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Annika Fechner


Ein Mädchen, das Beerdigungen sammelt und ein Mann, der niemals schläft



Roman

 

 

Ich sage ...



Danke:

Edde Heeren. Atemtherapeutin, Lebensretterin, Zuhörerin, Testleserin

Herrn Dr. Weibezahl, Herrn Schmelzer, Frau Bahl, Frau Hendrichs, Frau Vogt, Team II. Für Worte, Gesten und ganz viel Zeit. "Ein Mädchen ..." schrieb ich im August 2013 in der Burg, als ich nicht laufen durfte. Ich tauschte drohenden Wahnsinn gegen Buchstaben.

Meinen Eltern.

Steffen, weil du immer wieder gesagt hast: "Vielleicht klappt ja doch noch irgendwann!" Und natürlich weil du der bestangezogenste, bestaussehenste Mann an meiner Seite bist!

Der Hoffnung, dem Mut, dem Leben.



über die Autorin



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Geboren noch im analogen Jahrtausend, schreibt sie ihre Texte trotzdem am Laptop. Sie lebt und arbeitet im Süden des Landes, nur eine Handbreit von Frankreich und der Schweiz entfernt.


 

Kapitel 15



Es beginnt mit Magenschmerzen und Erbrechen, dann folgten Gliederschmerzen, Durchfall, und schließlich Krämpfe. Ich kann es nicht länger ignorieren, ich brauche Entspannung, ich muss mich erholen. Und dafür muss ich zum Bahnhof. Ich schleppe meinen vollkommen entleerten und dementsprechend schwachen Körper zur Straßenbahn und dann zum Zug, ICE nach Hamburg. Es hätte Trottelhausen oder Kongo-Stadt sein können, es ist mir vollkommen gleichgültig.

Ich suche mir einen leeren Zweiersitz in einem halb gefüllten Großraumwagen. Mir zittern die Knie. Bin ich so überhaupt im Stande, eine halbwegs vernünftige Unterhaltung zu führen oder wenigstens deren Anschein zu erwecken? Sobald ich die Lider schließe, sehe ich rote und grüne Blitze, wenn ich die Augen offen lasse, schieben sich Nebelschleier davor.

Ich brauche dringend ein Silentium, wahrscheinlich sogar mehrere, aber wenigstens eines, so viel steht fest. Paradoxer Weise wird es immer schwerer werden, eines zu bekommen, je schlechter es mir geht. Und mir geht es immer schlechter, je länger ich warten muss.

Drei Stationen warte ich ab, dann mache ich mich selbst auf die Suche. Zwei Wagen weiter finde ich schließlich ein Abteil, in dem nur eine einzige Person sitzt. Es ist ein junger Mann, der mit Kopfhörern in den Ohren einen Film auf seinem Laptop schaut. Kein besonders aussichtsreicher Kandidat, aber ich-brauche-ihn.

Einmal tief durchatmen, dann öffne ich die Abteiltür und grüße mit schmerzverzerrtem Gesicht, darauf hoffend, dass es als Lächeln durchgeht. Er blickt nicht einmal auf. Oh-Oh. Ich setze mich direkt neben ihn und frage betont munter:

„Was gucken Sie denn da? Sieht ja spannend aus!“

Er hebt den Kopf und wirkt, als käme er von weit her.

„Game of Thrones“, antwortet er dann und dreht sich wieder weg.

„Ach, davon habe ich schon so viel Gutes gehört!“, behaupte ich (tatsächlich hat mir Melissa, die Serien liebt, zwar davon vorgeschwärmt, aber ich habe noch keine einzige Folge je gesehen). „Das soll doch endlich einmal eine Serie mit Tiefgang und interessanten Charakteren sein! Aber wohl auch rechtschaffen brutal, wenn ich so sagen darf.“

„Hmm“, macht er – ob Zustimmung oder nicht, bleibt offen. Meine Kopfschmerzen sind so heftig, dass ich kurz glaube, das Bewusstsein zu verlieren (was vielleicht gar nicht schlecht wäre, möglicherweise lässt mein Körper das als „Erholung“ durchgehen!).

„Erzählen Sie doch mal“, bitte ich ihn und unterdrücke meinen Brechreiz. „Informieren Sie mich, so dass mir der Einstieg leichter fällt. Wie heißt zum Beispiel der da?“, und ich tippe wahllos auf seinen Bildschirm. Seufzend nimmt er jetzt die Kopfhörer ab.

„Ich guck schon die sechste Staffel“, sagt er missmutig. „Wenn Sie noch gar keine Ahnung haben, fangen Sie am besten mit der ersten an.“

„Ja, genau! Aber geben Sie mir trotzdem mal einen Überblick, ich bin so vergesslich, wissen Sie, in meinem Alter und wenn dann so viele Personen auftreten, kann ich mir das nicht alles merken ...“

Er seufzt noch einmal, wirft einen sehnsüchtigen Blick auf seinen Laptop, murmelt etwas Unverständliches über Google und Wikipedia, dann aber bückt er sich nach seiner Laptoptasche und holt einen Block und einen Stift heraus.

„Also“, beginnt er, „Zunächst einmal gibt es da Westeros und Essos, das sind die Kontinente, und auf Westeros gibt es sieben Königreiche mit entsprechenden Monarchen und Adelsfamilien. Für die Vorgeschichte muss man wissen, dass es einmal einen Bürgerkrieg gab, weil Rhaegar Targaryen die Lyanna Stark entführt hatte und der irre König Aerys II. ein paar von den Wichtigen abgeschlachtet. Jedenfalls kam es quasi zum Umsturz im Hause Targaryen und die anderen, die Häuser Stark, Baratheon, Arryn und Tully wandten sich vom Haus Aerys ab, das aber noch das Haus Tyrell in der Weite und das Haus Martell in Dorne besiegt hat. Den, also den König von Aerys, hat dann aber das Haus Lennister übers Ohr und den Kopf abgehauen und sich in Königsmund breit gemacht, das ist die Hauptstadt, und Robert Baratheon wurde neuer König und dann ...“ Während er spricht, zeichnet und kritzelt er auf dem Block herum, eine wilde Mischung aus Landkarte, Gefechtsaufstellung und Darstellerliste. Meine Kopfschmerzen werden weniger, dafür setzt die Atemnot ein. Zum Glück ist mein Gast jetzt derart in Fahrt gekommen, dass ich ihn nicht weiter auffordern muss, er plappert und plappert, malt, schreibt, ereifert sich, schlägt auf den Block, plappert weiter ... Ich komme schon längst nicht mehr mit.

Irgendwann, als ich denke, dass es genug ist, erhebe ich mich und krieche unter irgendeiner gemurmelten Entschuldigung/Erklärung aus dem Abteil.

Da ich nicht glaube, dass ich es bis ans Zugende schaffe, flüchte ich ins nächste Klo, und sinke möglichst weit von der verdreckten Metallschüssel zu Boden.

Jetzt müsste ich langsam wieder zu Atem kommen, die Enge in meiner Brust müsste sich weiten und die sanfte Dämmerung einsetzen. Stattdessen geschieht erst einmal nichts. Der Druck hält an, genau wie die Kopfschmerzen und meine Übelkeit. Was ist denn jetzt los? Auch wenn ich ihn ein bisschen pieken musste, war dieser Junge ein guter Gast und sein Gebrabbel über erfundene Helden und Antihelden müsste mir mindestens eine gute halbe Stunde verschaffen. Ohne, dass ich es recht bemerke, treten mir Tränen in die Augen und vermischen sich mit dem kalten Schweiß. Vielleicht sollte ich einfach hier sitzen bleiben und nie, nie mehr aufstehen und irgendwohin gehen.

Gerade, als ich das gedacht habe, lässt die Enge nach und auch der bohrende Schmerz hinter meinen Schläfen hört auf zu pulsieren. Ich kann freier atmen und inhaliere ohne nachzudenken die muffige Toilettenluft. Langsam beruhigen sich auch meine Eingeweide, doch ich bleibe, wo ich bin.

Das Silentium ist trübe, nicht sehr intensiv und schmeckt nach Rost und Staub. Ich fühle mich hinterher kaum wirklich erholt, aber ich kann aufstehen, meine Beine zittern nicht und beim Blick in den Spiegel stelle ich fest, dass mein Hautton wieder gesünder aussieht. Ich brauche trotzdem noch mindestens einen weiteren Gast. Zwei Stationen später erwische ich dann auch noch einen, weiblich dieses Mal, 36 Jahre alt und auf dem Weg zur Hochzeit ihrer besten Freundin, die sie seit der Grundschule kennt und mit der sie auch zusammen studiert hat, dann aber ist die Freundin leider in den Norden gezogen, was so schade ist, weil sie sich jetzt so selten sehen, aber skypen tun sie jede Woche, obwohl ihre Freundin auch eine drei-Monate-alte Tochter hat und das stellt natürlich den Tages-und-Nacht-Rhythmus komplett um, und ...

Vierundvierzig Minuten Dämmerung, trocken und schal.

 

Meine körperlichen Symptome klingen im Lauf der Tage ab, und auch mein Geist wird ruhiger. Dennoch fühle ich mich kaum wirklich entspannt, was auch daran liegt, dass mich das Reisen und die Begegnung mit den sogenannten „Gästen“ - momentan erscheint mir diese Begrifflichkeit höhnisch – geradezu abstoßen. Natürlich bin ich auch früher nie gleich gern unterwegs gewesen, insbesondere, nachdem ich Eva kennen gelernt hatte. Aber ich war letztlich doch mit Kopf und Herzen dabei, weil ich wusste, wie viel davon für mich abhängt. Nun erscheint mir der Preis mit einem Mal sehr hoch. Ich habe schlicht keine Lust, mir irgendwelche Geschichten, Gestammel und Gefasel über fremde Leben und fremde Probleme oder glückliche Fügungen anzuhören. Ich habe keine Lust, Interesse und Anteilnahme zu heucheln, ewig freundlich zu bleiben, zu lächeln und nett zu tun. Ich bin nicht nett! Nichts in mir ist gerade nett oder freundlich. Ich bin gereizt, gelangweilt und fühle mich entsetzlich überflüssig.

„Ach Eva“, sage ich und merke erst beim Klang meiner Stimme, dass ich laut spreche. Außer mit meinen Gästen, rede ich jetzt so selten. Ein paar Worte beim Verlegen von Leitungen und dem Anbringen von Steckdosen, beim Fliesenlegen in einem Badezimmers oder Gäste-WC. Ich zahle mit Karte und sammle keine Treuepunkte an der Kasse des Supermarkts.

Aber ich sage so wenig, was zählt, so weniges, was gesagt werden muss, so wenig, was trägt.

„Wenn du jetzt hier wärst, Eva“, spreche ich weiter in meinen leeren Wohnwagen hinein, „dann hätte ich noch eine Stimme.“ Ich sitze auf dem Boden, mit dem Rücken gegen mein Sofa gelehnt, wie ich so oft vor dem anderen Sofa gesessen bin.

„Himmel, Ferdinand, sei doch nicht so entsetzlich pathetisch! Warum, glaubst du, sehe ich mir nie den Sonntagabendfilm des ZDF an? Weil ich von Kitsch Schüttelfrost bekomme!“

Ich muss lächeln, als ich mir ihre Antwort vorstelle.

„Fang lieber etwas Vernünftiges mit deiner Zeit an, statt dir nur selber so leid zu tun.“

Mein Blick fällt auf den Karton, den ich nur ein einziges Mal geöffnet habe. Ich ziehe ihn zu mir herüber und hole, ohne hineinzublicken, ein Buch heraus. Es ist ein schmaler, abgegriffener Band, Titel und Autor sind in Frakturschrift abgedruckt: „Friedrich Rückert, Kindertotenlieder“.

Ausgerechnet.

„Don`t judge a book by it`s cover!“

Ich muss schmunzeln. „Schon gut ...“ und schlage das Bändchen auf.

 

Ich schäme mich fast, es zu gestehn

Ich schäme mich fast, es zu gestehn!
Es ist so viel in der Welt geschehn
Seit diesen dreizehn Wochen,
So viel, das wert der Rede war,
Ist geschehen in dem Vierteljahr,
Seit euer Herz gebrochen;
Ich aber habe bei Tag und Nacht
Wenig andres als das gedacht
Und wenig als das gesprochen
Seit diesen dreizehn Wochen,
Daß euer Herz gebrochen.

„Eva, das hast du doch mit Absicht ganz zu oberst gelegt“, murmele ich und lese und lese. Und lese.

Als ich das schmale Buch wieder schließe, sind über zwei Stunden vergangen. Ich habe vollkommen konzentriert und ohne die leiseste Ablenkung gelesen. Manche Gedichte mehrfach, über manche musste ich lächeln, viele haben mich berührt. Ich fühle mich noch ganz versonnen, wie ich so da sitze, das Sofa im Kreuz. Und während ich dem Nachklang einiger Worte in meinem Kopf nachhorche, stelle ich etwas Sonderbares fest.

Ich bin ganz ruhig. Mein Körper ist so entspannt, wie er seit Wochen, womöglich Monaten, nicht war. Es ist, als hätte ich in den letzten zwei Stunden ein unglaublich intensives Silentium genossen. Kein Muskel zuckt und schmerzt, kein Gelenk knackt, nirgends juckt oder kribbelt es unter der Haut. Ich fühle mich erfrischt und ausgeruht. In meinem Kopf herrscht angenehme Leere – relative Leere selbstverständlich, aber doch Leere. Ungefähr so, als beträte man ein Zimmer, in dem eben noch die heillosen Chaoskräfte gewirkt und alles durcheinander geworfen hatten, und nun ist alles vollkommen aufgeräumt, versorgt und geputzt. Es ist wunderbar. Es ist aufregend. Es ist – unglaublich. Immerhin hatte ich meinen letzten Gast vor zweieinhalb Tagen!

Ich betrachte die „Kindertotenlieder“ und Evas Vermächtnis im Karton daneben. Könnte es sein, dass ...?

 

In den nächsten Tagen teste ich meine kaum zu hoffen gewagte Überlegung. Ich nehme mir eines von Evas Büchern und setze mich irgendwohin, um darin zu lesen. Zunächst bleibe ich im Wohnmobil, weil ich fürchte, an einem anderen Ort könnte es nicht funktionieren.

„Im Ernst, Ferdinand, wir haben 21°C und du hockst hier drin? Hast du vergessen, dass draußen längst die Kirschblüte begonnen hat?“

Also wage ich es, und stelle erst einen Stuhl in meinen Vorgarten, aber bald schon unternehme ich Ausflüge in Straßencafés, zum Seepark, in den Stadtgarten oder auf den Kanonenplatz. Ich lese zwischen einer und zwei Stunden, immer mit absoluter Konzentration. Nicht jede Geschichte zieht mich gleichermaßen in Bann, mit manchen Helden habe ich Schwierigkeiten und mancher Stil liegt mir nicht. Aber jedes Buch räumt in meinem Kopf auf. Ich versinke anschließend in wohlige Dämmerung, wie ich sie zuletzt selten erleben konnte. Dennoch zweifle ich noch daran, dass das hier auch wirklich funktioniert, vielleicht ist es ja bisher nur purer Zufall, und ...“

„Ja, genau. Menschenskind Ferdinand, kannst du dich nicht einfach mal über etwas freuen?!“

Melissa schreibt mir eine Nachricht über „whatsapp“ und hängt vier Fotos einer leeren Ein-Zimmer-Wohnung an.

„Es hat geklappt!!!!!!!!!!! Wuhu, WomU ist durch! Ich kann zum 1ten einziehn, sie helfen mir auch mit der whgsauflösung hier und aussortieren und umziehen und kA, was eben noch so anfällt, papierkram, bla, und einmal die woche kommt meine betreuerin vorbei und guckt ob ich noch lebe und zur schule geh oder ob ich heimlich ein chrystal methlabor eingerichtet hab :-)))“

„Du guckst zu viel „Breaking Bad!“

„DU kennst Breaking Bad Oo?“

„Nein, aber Eva hat mir erzählt, dass du sie zu jeder einzelnen Folge gezwungen hast ;-). Und: Herzlichen Glückwunsch, das sind wunderbare Neuigkeiten!“

„Sie hat es GELIEBT^^! Und danke. Kommst du zur einweihungsparty??“

„Ich dachte, wir sehen uns vielleicht vorher schon einmal?“

„aufdermauer, aufderlauer ... :-)) wiwillibrücke?“

„Nur wenn du Eis mitbringst!“

 

Dieses Mal wartet Melissa schon auf mich. Sie trägt ein gelbes T-Shirt zu grünen Shorts und an den nackten Füßen rote Turnschuhe. In den Händen trägt sie zwei Becher mit halbgeschmolzenem Eis und im Gesicht einen vorwurfsvollen Ausdruck.

„Das mit der Pünktlichkeit üben wir aber noch, Herr Ferdinand!“

„Das akademische Viertel, Melissa, betrachte es als Vorabeinführung in die universitäre Welt.“

Wir setzen uns, wo wir schon so oft saßen, und trinken Eissuppe. Dann erzähle ich ihr von den Büchern. Und was sie mit mir machen. Melissa hört aufmerksam zu, den Kopf eine Hand gestützt.

„Heißt das, du musst jetzt nicht mehr dauernd Zug fahren?“, fragt sie, als ich fertig bin. Ich zucke die Achseln.

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Es gibt keine Anleitung für jemanden wie mich.“

„Mama war so buchverrückt.“ Sie seufzt. „Sie fehlt mir immer noch so, Ferdinand.“

Ich drücke kurz ihre Hand. Und nach einer kleinen Stille beginnt Melissa mir von der Wohnung zu erzählen.

Kapitel 1



Kurz nach Greifswald, 22.36 Uhr


Er heißt Urs und stammt aus der Schweiz, genauer aus Bern.

Eine „echt härzige Stadt“, wie er behauptet, vor allem das Kulturangebot sei „huere gut“.

„Vor dän, der sich cha lischte “, fügt er hinzu und ein selbstvergessenes Lächeln verrät, dass er es kann.

Ich mag Schweizer nicht. Schon ihre Sprechweise, dieses heisere, gutturale Bellen, stößt mich ab. Außerdem bin ich der Meinung, dass mit einem Land, in dem erwachsene Männer in einem Satz Adjektive wie „härzig“ und „hure(n) gut“ verwenden, etwas nicht stimmen kann.

Selbstverständlich lasse ich mir das nicht anmerken, im Gegenteil bin ich äußerst freundlich und höflich. Schließlich bin ich der Gastgeber und weiß, was sich gehört.

Die Kunst des Smalltalks ist so einfach wie Zähneputzen, wenn man ein paar simple Regeln kennt:

  1. die meisten Menschen sprechen äußerst gern und ausschweifend über sich selbst und ihre persönlichen Belange, man muss ihnen nur die nötige Plattform dazu bieten. Hierfür stellt man
  2. am einfachsten möglichst viele offene Fragen, also solche, auf die der Andere nicht nur mit „ja“ oder „nein“ oder einem anderen Einsilber antworten kann. Am besten benutzt man einfach sämtliche W-Fragen: Wer, wie, wann, wo, warum usw. Das Ergebnis ist fast immer eine Windhose an Egoismus, der perfekte Kreisel um ein einziges Individuum. Jetzt genügt es für die Aufrechterhaltung des Redeflusses, genügend „Ahas“ und „Hms“ und interessierte „Ach so?“s einzustreuen, sowie sich selbst dann und wann vermeintlich mit einzubringen - idealerweise, indem man sich kleiner als das Gegenüber macht: „Das wusste ich ja gar nicht! Da war ich noch nie! Das ist mir neu ...“ usw.

Am Ende wird beim Anderen das zufriedene, satte Gefühl entstanden sein, endlich mal wieder ein gutes, intensives Gespräch geführt zu haben. Und da anschließend natürlich keinerlei Evaluation erfolgt, wird ihm auch nicht bewusst, dass er den allergrößten Teil von Zeit und Aufmerksamkeit mit sich selbst zugebracht hat und von mir so gut wie nichts erfahren hat, außer meinem Namen, den ich in der Regel erfinde, und vielleicht noch einen ebenfalls gelogenen Wohnort.

Urs schwelgt gerade in der Erinnerung an irgendeine Theateraufführung. Ich lasse die im kratzigen Bariton vorgetragenen Beschreibungen an mir vorbeiziehen und konzentriere mich auf das Muster des Plüschbezugs seines Sitzes, das dem meinen entspricht. Orange-hellblau-dunkelblau in Längsstreifen.

Er wird mein letzter Gast für heute sein. Das Ziffernblatt meiner Armbanduhr zeigt bereits 22.50 Uhr an, und um diese Zeit leeren sich die Wagen merklich. Man kann gut ein, zwei Wagons durchqueren, ohne jemanden anzutreffen, der zumindest nicht offensichtlich schläft oder döst. Und jemanden aufzuwecken würde ich ohnehin nie versuchen, das widerspricht den Spielregeln. Schlaf ist heilig.


* * * * *


Urs hat seine Ausschweifungen beendet, und da auch ich zu dem Schluss gekommen bin, unsere Begegnung ausklingen zu lassen, gebe ich keine weitere Replik, die in ihm das Bedürfnis nach Schilderung anderer langweiliger kultureller Begebenheiten wecken könnte. Stille tritt ein.

Regel Nummer drei in Sachen Smalltalk: Schweigen tötet.

Die wenigsten Menschen können mit Stille umgehen, umso weniger, je abrupter und unerwarteter sie eintritt. Anspannung, Verwirrung und Druck steigen, bis der Andere nach einer Gelegenheit suchen wird, die Situation abzuschließen – im besten Fall, in dem er sie verlässt.

Die Minuten umströmen uns. Ich habe kein Problem mit Stille oder Schweigen, nach der Monotonie des vor sich hin bellenden Schweizers scheinen meine Ohren sich erleichtert zu weiten und auszustrecken.

Urs hustet vernehmlich, blickt auf seine Uhr.

„Noch eine halbe Schtundee“, stellt er fest. „Dann hab ich‘chs für dies` Mol g`schafft. Wie weit habens Sie es noch‘ch?“

Wenn er wüsste. Doch ich schüttele nur sanft den Kopf und wippe unbestimmt mit den Achseln. Wir schweigen. Urs gibt ein Grunzen von sich, das vermutlich seine Art sich zu räuspern ist. Erneut starrt er seine Uhr an, als könne sie ihm Handlungsanweisungen erteilen.

„Ich‘ch glaub, ich‘ch gang noch mal kurz auf das WeeZee“, beschließt er und steht eine Spur zu hastig auf. Ohne sich umzusehen wankt er den Gang im Rhythmus des schwankenden Zuges entlang. Wenn er zurückkommt, werde ich nicht mehr hier sein, was er mit einer Mischung aus Erleichterung und Ärger zur Kenntnis nehmen wird. Vielleicht erzählt er bei späteren Gelegenheiten seiner Frau oder Freunden von dem komischen deutschen Kauz, der ihm spät abends im Zug nach Stuttgart begegnet und dann so einfach verschwunden ist.

Ich blicke Urs nach, seinem zerknitterten Rücken, dann schließe ich einen tiefen Augenblick lang die Augen und atme ein. Ich spüre, was Urs mitnimmt: Die Energien, die uns beide eben noch umflossen haben wie unsichtbare Stromwellen und die sich nun an seine Fersen heften, und die er durch den gesamten Wagen hinter sich herzieht, bis nichts mehr übrig bleibt als verbrauchte, schlecht zu atmende Luft. Meine Lunge wird eng, mein Herz beginnt zu pochen, meine Schläfen hämmern. Und was sich anfühlen müsste wie Beklemmung, erscheint mir wie Freiheit. Urs ist ein Prachtexemplar eines Energieräubers! Gleich einem blutsaugendem Parasit frisst er Aufmerksamkeit, Geduld und Interesse seines Gegenübers und stößt dafür Leere und Abgeschlagenheit aus. Es ist die perfekte Umkehrung und Parodie einer gut funktionierenden Photosynthese. Es ist, was ich gesucht habe. Es ist, was ich brauche, was mich nährt.

Nicht im Wortsinn natürlich. Was meine metabolischen und endokrinologischen Stoffwechselvorgänge anbetrifft, bin ich weder ein Über- noch ein Sondermensch. Damit er funktioniert, muss ich meinen Körper regelmäßig mit Nährstoffen versorgen und das tue ich gewissenhaft auch mehrmals am Tag. Ich führe ihm Portionen ausgewogenster Balance von Fetten, Kohlehydraten, Proteinen, Ballaststoffen, Spurenelementen und Vitaminen zu. Dazu treibe ich mehrmals die Woche moderaten Sport, rauche nicht, trinke keinen Alkohol und verzichte auch auf alle anderen Formen von Drogen. Man könnte sagen, ich bin körperlich für mein Alter, 43 Jahre, in ausgezeichneter Verfassung.

Wäre da nicht diese eine Kleinigkeit.

Ich schlafe nicht.

Nie.

Ich weiß, dass Sie mir das nicht glauben, ebenso, wie ich das bereits wusste, ehe ich diesen Umstand erwähnt habe. Niemand glaubt das. Ein Leben vollkommen ohne Schlaf kommt in der Natur nicht vor, wir müssen schlafen, um unsere Ressourcen zu schützen und unsere Kräfte zu erneuern. Und ich gebe zu, dass ich inzwischen durchaus einen Zustand erreiche, der dem von leichtem Schlaf möglichst nahe kommt. REM-Phasen jedoch, also solche Schlafmomente, in denen die Realität auf der inneren Netzhaut von Phantasmen und Traumbildern abgelöst, in dem laut Psychoanalyse Unverarbeitetes, uneingestandene Wünsche und Bedürfnisse, Erfahrungen des Alltags und Zukunftsängste verarbeitet werden, diese Phasen habe ich nie.

Niemals. Zu keiner Zeit.

Schlicht nie.

Dabei ist es durchaus nicht so, dass ich nicht müde würde. Im Gegenteil: Mein Körper kennt jenen Zustand der Erschöpfung und Mattheit nur zu gut, meine Glieder werden schwer und alle Physis schreit nach einer bequemen, möglichst weichen Unterlage, auf die ich den Körper betten und zur Ruhe bringen kann. Der Körper ist an sich nicht das Problem, meistens ist er das zumindest nicht. Bei mir liegt vielmehr etwas vor, was ein Arzt einmal als „strukturelle Dissoziation“ bezeichnete. Ein Begriff, der eigentlich aus der Psychotraumatologie stammt und dort einen krankhaften Zustand beschreibt, der manche Menschen nach einem traumatischen Erlebnis ereilt. Dissoziation ist das Gegenteil von Assoziation und meint so viel wie Abspaltung. Menschen nach Nahtoderfahrungen beispielsweise spalten diese Erinnerung bisweilen in einem inneren „Traumaanteil“ ab, während ein (scheinbar) normaler Alltagsanteil dafür sorgt, dass sie weiter funktionieren, zur Arbeit gehen usw.

In meinem Fall meint Dissoziation die Abspaltung von Körper und Geist. Dort, wo das wache Bewusstsein für gewöhnlich Hand in Hand mit dem müden Körper die Ebene der aktiven Wahrnehmung hin zu erholsamer Ruhephase verlässt, herrscht bei mir terra incognita, unbekanntes Land, ein Abgrund, den nichts zu überbrücken scheint.

Konkret bedeutete dies lange Zeit Folgendes: Mein Körper bat um Ruhe. Für gewöhnlich tat er dies gegen 22 Uhr abends nach einem nicht unanstrengenden Tag, vielleicht hatte ich sogar noch etwas Sport getrieben. Ich erledigte also die notwendige Abendtoilette, betrat mein Schlafzimmer, um mich auf mein Bett zu legen. Allein die ergonomisch neuestem Erkenntnisstand angepasste Matratze kostete mich damals siebenhundert Euro. Sie maß zwei Meter auf zwei Meter, um so jede mögliche und mitunter fast unmögliche Schlafposition anzubieten. Bettdecken besaß ich drei, Kissen in diversen Größen neunzehn Stück. Zusammen waren sie nur unwesentlich billiger als die Matratze gewesen. Selbstverständlich befanden sich nicht alle diese Utensilien gleichzeitig in meinem Bett, da hätte ja auch ein Gesunder kaum Platz für wohlen Schlaf gehabt. Aber sie blieben alle, nachdem ich Nacht für Nacht zunächst neu entschieden hatte, mit welchen Exemplaren ich es zunächst versuchen wollte, in unbedingter Reichweite.

Dann überprüfte ich die Zimmertemperatur, die stets konsequent bei 16,5°C lag. Früher einmal war sie vor allem während der Sommermonate auf über 20°C angestiegen, so dass ich schließlich für eine nicht unerhebliche Summe eine Klimaanlage hatte einbauen lassen. Seitdem blieb die Temperatur wie eingestellt, und dennoch vergewisserte ich mich Abend für Abend ob ihrer Richtigkeit.

Außer dem Bett mit seinem Zubehör befand sich nichts weiter in dem Zimmer. Schon gar kein Fernseher, Computer, Laptop, DVD-Gerät, Handy, Wasserkocher, Mikrowelle, Kaffeemaschine, Telefon, kurz, nichts, was durch so hässlichen wie unsichtbaren Elektrosmog die Nachtruhe hätte stören können.

Ich legte also meinen Körper auf dem perfekt adaptierten Federkern ab, spürte, wie er wohlig und dankbar hinein sank, wie er Gewicht und Kraft abgab und aufgefangen wurde. Ich atmete die zarte Mischung aus Lavendel und Rosmarin ein, ätherische und vollnatürliche Zusätze, die ich dem ansonsten geruchsneutralen Biowaschmittel hinzufügte, das ich ausschließlich für meine Bettwäsche verwandte. Diese Kräuter sollen schlaffördernd wirken. Wie unzählige weitere Tipps und Tricks befolgte ich sie lange mit derselben Entschiedenheit, mit der ein gläubiger Katholik in der Kirche Weihwasser aufträgt.

Da lag ich nun also, schwer und erschöpft, wohlig umfangen von milden Gerüchen, lauen Temperaturen und, dank Silikonohrstöpseln, auch absoluter Ruhe. Der Körper begann sich zu entspannen, und das taten zunächst auch meine Gedanken. Sie flatterten davon wie Mauersegler, jene Schwalbenart, die jedes Frühjahr mit einem Male auftauchen und in den blauen Himmel hinausschweben.

Ruhe senkte sich über mich.

Ruhe.

Und dann ...

Nichts.

Kein Schlaf. Kein weiteres Entgleiten in bewusstseinsarme Zonen des eigenen Selbst, kein Loslassen des eifernden Gehirns.

Stattdessen: Rastlosigkeit. Nur im Kopf wohlgemerkt, der Körper selbst schien weiterhin auf dem Weg zum Schlaf zu treiben. Im Kopf aber begann es nun zu rattern und zu lärmen wie auf einer Großbaustelle. Nacheinander kehrten die Mauerseglergedanken zurück, die Schnäbel voll mit Futter oder Utensilien zum Ausbau der Nester, es wurde gewerkelt und geackert, Fragen, Antworten, Thesen und Antithesen, die gesamte Palette der Probleme des Abend- und Morgenlandes wurde hin und her gewendet, durchgedacht, durchgekaut, aufeinandergestapelt, zerrissen und neu zusammengesetzt. Mein Geist umwand komplizierte Problembereiche mit dergleichen Hemmungslosigkeit, mit der er sich der Einkaufsliste des nächsten Tages widmete. Des nächsten Tages? Halt! Ein Blick auf die (mechanische) Armbanduhr verriet: Die Nulluhrmarke war bereits überschritten, es war bereits morgen und der Geist fand keine Ruhe. Er mäanderte durch große und kleine Themengebiete, verweilte, um gleich darauf wieder aufzuspringen und sich Neuem zuzuwenden. Je weiter die Nacht fortschritt, je größer das Unbehagen über die Ruhelosigkeit im Kopf, desto mehr ähnelten meine Gedanken nun nicht mehr Schwalben, sondern viel mehr Hühnern, die mit nervtötender Gleichmütigkeit mit ihren Köpfen rucken, während sie hässliche Laute ausstoßen und nach Körnern ohne Ablass picken.

Irgendwann dann graute es, mir und dem Tag gleichermaßen. Wieder eine Nacht vorüber ohne Schlaf, wieder nutzlos vertane und verhoffte Stunden, wieder knackende Gelenke und schwerer Kopf beim Aufstehen.

So sahen sie im Großen und Ganzen aus, meine Nächte, wenn ich zu Hause in meinem Apartment war.

Sie hätten einen todsicheren Tipp für mich? Glauben Sie mir, ich kenne ihn bereits. Jahre verbrachte ich meine durchwachten Stunden damit, heiße Fußbäder zu machen, wechselwarme Fußbäder, kalte Fußbäder. Ich trank heiße Milch mit Honig, Kräutertee, Schnaps.  Ich las drei Seiten in einem spannenden Buch, las drei Seiten in einem langweiligen, sah fern, sah auf keinen Fall fern, ging spazieren, ging bloß nicht an die Luft. Ich aß probiotischen Jogurt mit Banane, aß auf keinen Fall etwas, ich saß, ich lag, ich stand, ich ging umher, ich machte Kniebeugen. Ich schrieb Tagebuch, sortierte Fotos, wusch Wäsche, putzte Fenster, wischte Staub, machte Atemübungen, Yoga, Autogenes Training, Entspannung nach Jacobsen, Feldenkrais, Chi Gong, ich meditierte. Ich strickte, stickte, häkelte, töpferte, drückte Akkupunkturpunkte, machte Klopfmassagen, malte Mandalas, jonglierte. Ich trank kalten Kaffee und bittersten Schwarztee, schluckte Bachblüten, Globuli und Schüßler Salze, ich zählte vorwärts und rückwärts, ich löste Kreuzworträtsel und Denksportaufgaben, ich inhalierte mit Wasserdampf und Kräuteressenzen.

Nichts hat je geholfen.

Wann das alles überhaupt angefangen hat, weiß ich nicht mehr genau. Ich meine mich zu erinnern, als Knabe durchaus geruht, nein, geschlafen zu haben, so dass es möglicherweise zeitgleich mit jenem Herausgleiten aus der Kindheit aufgetreten sein mag, das in völliger Unzulänglichkeit des Wortes als „Pubertät“ vom lateinischen puber für junger Mann bezeichnet wird. Mitnichten vermag dieses Wort jenen irrsinnigen Zustand hormoneller Verirrung und Verwirrung und sich neu bildender Synapsen zu fassen, der den Mensch zwischen dem etwa elften und achtzehnten Lebensjahr packt und beutelt. Aber um diese Zeit herum mag es gewesen sein, da ich des Morgens plötzlich hohlwangig und mit tiefen Augenringen beim Frühstück erschien, wortkarg und grantig. Als jener Zustand derart lange anhielt, dass ihn auch meine geduldigen, da durch eingängige Erziehungsberechtigtenratgeberliteratur belesenen Eltern es nicht mehr nur auf „die Pubertät“ schieben konnten, wurde ein Arzt aufgesucht. Der jedoch sah die aufschäumende Hormonmasse in meinem Innern als Ursache für den Schlafmangel, riet zu mehr Sport und ausgewogener Mischkost statt Fast Food und schickte mich wieder nach Hause.

Es sollte nicht der letzte Arzt gewesen sein, bei dem ich gewesen bin.

Ich kann sie längst nicht mehr zählen, all die Allgemeinmediziner und Spezialisten, Homöopathen, Heilpraktiker, Ostheopathen, Klangheiler, Aurenreiniger, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Psychiater, Neurologen bei denen ich im Laufe der Zeit war. Sie alle blickten mir irgendwann ratlos ins Gesicht, nicht selten, nachdem sie mich (vergebens) davon zu überzeugen suchten, dass kein Mensch komplett ohne Schlaf auszukommen im Stande sei und ich daher vermutlich regelmäßig in Kurzschlafphasen fallen und selbe wieder verlassen würde, ohne es zu merken. Ich habe insgesamt bestimmt 14 Nächte in Schlaflaboren zugebracht, verkabelt, mit Elektroden beklebt und mit Clips an Zehen und Fingern. Alles wurde genauestens gemessen und protokolliert: Sauerstoffgehalt des Blutes, Herzfrequenz, Atmung, Blutdruck, Hirnaktivität, Muskeltonus. Alles ohne Befund. Und weil ich den Großteil der Stunden dort im Testbett mit geschlossenen Augen lag, wollten die Ärzte mich später dringend davon überzeugen, dass ich geschlafen habe und mir nur träumte, ich sei wach. In der darauf folgenden Diskussion zog ich den Kürzeren, weil sie alle Zahlen und Daten und Kurven und Graphen heranzuziehen wussten, die angeblich ganz genau bewiesen, dass ich tatsächlich geschlafen haben müsse. Und ich? Ich hatte nur mein wildes, kleines Bewusstsein, dass auf keinem Bildschirm und keinem Messprotokoll auftauchte. Einige Testnächte starrte ich absichtlich mit weit offenen Augen zur Decke empor, nur um hernach zu erfahren, dass ich zu den wenigen Menschen gehöre, die mit offenen Augen zu schlafen im Stande seien.

Auf mein Beharren, ich sei die gesamte Nacht hindurch hellwach gewesen, schüttelten sie nur die Köpfe und wechselten beredte Blicke. Unausgesprochen dennoch deutlich lautete die Diagnose: "Sie haben einen an der Latte, bitte behelligen Sie uns nicht weiter, dankeundaufwiedersehen."

Irgendwann resigniert und enttäuscht von ihrer Zunft, beschloss ich, komme was wolle, keine weiteren Ärzte aufzusuchen und mit meinem Leiden zu leben, wie andere mit einer chronischen Darmerkrankung oder einem Diabetes.

Ich hatte mir einen Beruf gewählt, der mir ideal erschien für das, was ich meine kleine Sache nannte: Ich war Flugbegleiter geworden. Ständig diverse Zeitzonen zu durchqueren, wesentlich mehr Zeit in Hotelzimmern fremder Länder zu verbringen als in der eigenen Wohnung, erschien mir damals perfekt. Es gab somit immer irgendeinen Jetlag, der sich, wenn es ganz schlimm kam, und ich den Mangel an Konzentration und Geduld einmal nicht überspielen konnte, als Erklärung heranziehen ließ. Und unter den Kollegen fühlte ich mich beinahe unter Meinesgleichen, Schlaf war allenthalben ein Problem. Tipps und Tricks wurden herumgereicht und ausgetauscht wie Aspirin am Morgen danach unter Zechbrüdern. Ja, ich fühlte mich wohl in meinem Job, ich mochte das Fliegen, ich mochte den Anblick eines fremden Flughafens, egal, ob bei Tag oder Nacht, und ich mochte wiederum den Anblick meines Heimatflughafens nach Tagen und Nächten in aller Welt.

Der Satz, der fast immer zuerst fällt, wenn man jemanden neu kennenlernt und das heitere Berufe-Raten vorüber ist, lautet:

„Da kommt man ja ganz schön herum, was?“ Und dann, nach einer kleinen Denkpause, folgt häufig ein:

„Aber hast du denn überhaupt etwas davon? Verbringst du nicht die meiste Zeit auf den Flughäfen?“

Die Antwort lautet, obschon es drei Fragen sind: Ja.

Ja, man kommt ziemlich herum, ja es lohnt sich und ja, man verbringt viel Zeit auf Flughäfen.

Wogegen ich, wie gesagt, nichts hatte. Flughäfen sind gigantische Shopping-Malls, in denen es nie, nicht einmal um drei Uhr morgens, leer und langweilig wird. Man kann Kaffee trinken, im Internet surfen, einkaufen, Leute gucken oder sogar mit Tageskarte Sport in einem der Fitnessstudios treiben.

Allerdings gewöhnte ich mir mit der Zeit an, immer häufiger in die großen Städte selbst hineinzufahren, deren Flughäfen wie Trabanten am äußersten Rande kleben.