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Lehr- und Studienbriefe
Kriminalistik / Kriminologie

Herausgegeben von

Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,
Wolfgang Gatzke, Direktor LKA NRW a.D.

Band 22
Häusliche Gewalt

von
Wolfgang Gatzke
und
Detlef Averdiek-Gröner

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book
1. Auflage 2016
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2016
ISBN 978-3-8011-0789-5 (EPUB)
ISBN 978-3-8011-0790-1 (Mobipocket)

Buch
1. Auflage 2016
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2016
ISBN 978-3-8011-0784-0

Alle Rechte vorbehalten
Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder
Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

www.VDPolizei.de

Vorwort

Gewalt im sozialen Nahraum, Gewalt in Paarbeziehungen, „häusliche Gewalt“ — das Phänomen ist nicht neu. Aber diese Form von Gewalt galt lange Jahre als Privatangelegenheit, die auch dort geregelt werden sollte, wo sie sich ereignete. Erst mit dem Internationalen Jahr der Frau 1975 begann ein langsamer Prozess des Umdenkens. Gewalt im „privaten“ Umfeld wurde öffentliches Thema und zunehmend als gesellschaftlich relevantes Handlungsfeld wahrgenommen. Sie wurde Gegenstand gesellschaftspolitischer Initiativen, wissenschaftlicher Untersuchungen und gesetzgeberischer Aktivitäten.

Auch in der Aufgabenwahrnehmung von Polizei und Justiz vollzog sich ein Paradigmenwechsel. Wurden Gewalttätigkeiten im häuslichen Umfeld lange unter den Stichworten „Ruhestörung“ oder „Familienstreitigkeit“ abgehandelt und das Opfer von Gewalt auf einen erforderlichen Strafantrag und den Privatklageweg hingewiesen, gilt seit Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes zum 01.01.2002 und in dem Kontext neu geschaffener Rechtsgrundlagen zu „Wohnungsverweisung“ und „Rückkehrverbot“ in den Polizeigesetzen die Handlungsmaxime „Wer schlägt, der geht“. Zudem wird in allen Fällen von Amts wegen ein Strafverfahren eingeleitet.

Für die Aufgabenwahrnehmung der Polizei in der konkreten Gefahrenabwehr, der Bewertung einer möglicherweise weitergehenden Gefährdungslage, einer sachgerechten Beweissicherung und in der Gewährleistung einer wirksamen Strafverfolgung erwachsen daraus hohe Anforderungen.

Daher sind einerseits Kenntnisse über Art und Ausmaß von häuslicher Gewalt, typische Entwicklungsverläufe, spezifische Verhaltensmuster der beteiligten Personen sowie besondere Risikofaktoren erforderlich, um sachgerecht handeln zu können. Andererseits müssen eingesetzte Polizeikräfte über eine hinreichende Sicherheit in der Anwendung ihres gesetzlichen Handlungsrepertoires verfügen und dabei die Besonderheiten der spezifischen Lebens- und rechtlichen Situation der von häuslicher Gewalt Betroffenen berücksichtigen.

Dieser Lehr- und Studienbrief richtet sich in erster Linie an Studierende der Polzeifachhochschulen der Länder und des Bundes, an Beamtinnen und Beamte des Wach- und Wechseldienstes sowie an die kriminalpolizeiliche Sachbearbeitung. Er vermittelt komprimiert das erforderliche Grundlagenwissen für das polizeiliche Handeln in Fällen häuslicher Gewalt und gibt Hinweise auf vertiefende Literatur.

Die Ausführungen hinsichtlich der Rechtsvorschriften nach Polizeirecht zu Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot orientieren sich dabei wegen deren besonderer Detaillierung ganz überwiegend an den Befugnisnormen und Regelungen des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfahlen (PolG NRW). Sie nehmen auf korrespondierende gesetzliche Bestimmungen anderer Bundesländer mit Abweichungen Bezug.

Wolfgang Gatzke

Detlef Averdiek-Gröner

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Gesellschaftliche Wahrnehmung, gesellschaftspolitische Initiativen und staatliches Handeln

1.1 Allgemeines

1.2 Internationale Entwicklung

1.2.1 Vereinte Nationen

1.2.2 Europäische Union

1.3 Nationale Ebene

1.3.1 Staat und Gesellschaft

1.3.2 Polizei und Justiz

2 Charakteristika der Gewaltbeziehung

3 Definition häuslicher Gewalt

3.1 Bundesebene

3.2 Begriffsbestimmungen der Länder

3.3 Deliktische Zuordnung

4 Ausmaß und Entwicklung häuslicher Gewalt

4.1 Gewaltprävalenz- und Viktimisierungsstudien

4.1.1 Gewalt gegen Frauen – eine EU-weite Erhebung

4.1.2 Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – Eine repräsentative Untersuchung zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland

4.1.3 Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen in Niedersachsen

4.2 Polizeiliche Kriminalstatistik

4.2.1 Aussagekraft

4.2.2 Opfer

4.2.3 Tatverdächtige

4.2.4 Landesspezifische Erhebungen

4.3 Schweregrade, Muster und Risikofaktoren

4.3.1 Schweregrade

4.3.2 Muster schwerwiegender Gewalt

4.3.3 Alter, Bildung und soziale Situation

4.3.4 Trennung und Scheidung

4.3.5 Menschen mit Migrationshintergrund

4.3.6 Menschen mit Behinderungen

4.4 Kinder als Betroffene

4.5 Hochrisikofälle

4.6 Justizielle Bearbeitung häuslicher Gewalt

5 Polizeiliches Handeln in der Einsatzlage

5.1 Leitsätze

5.2 Ziele

5.3 Erster Angriff

5.3.1 Begriff, Ziele und Rechtsgrundlagen

5.3.2 Sicherungsangriff

5.3.2.1 Eingang der Ereignismeldung
5.3.2.2 Eintreffen am Ereignisort
5.3.2.3 Abwehr von Gefahren
5.3.2.4 Schutz und Sicherung des Tatortes
5.3.2.5 Verdacht eines Kapitaldeliktes
5.3.2.6 Sonstige Delikte der häuslichen Gewalt

5.3.3 Auswertungsangriff

5.3.3.1 Objektiver Tatbefund
5.3.3.2 Subjektiver Tatbefund

5.3.4 Dokumentation

5.3.5 Einsatztaktische Grundsätze und Eigensicherung

5.3.6 Rechtsgrundlagen der Eingriffsmaßnahmen

5.3.6.1 Doppelfunktionalität von Maßnahmen
5.3.6.2 Betreten der Wohnung
5.3.6.3 Durchsuchen der Wohnung
5.3.6.4 Durchsuchen von Personen und Sachen
5.3.6.5 Sicherstellen und Beschlagnahme von Gegenständen
5.3.6.6 Körperliche Untersuchung und Blutprobe
5.3.6.7 Freiheitsentziehende Maßnahmen
5.3.6.8 Unmittelbarer Zwang

5.3.7 Befragung, Anhörung und Vernehmung

5.3.7.1 Gefahrenabwehr und Strafverfolgung
5.3.7.2 Vernehmung von Zeugen
5.3.7.3 Beschuldigtenvernehmung
5.3.7.4 Wesentliche Vernehmungsinhalte

5.4 Gefährderansprache

5.5 Gefahrenprognose

5.6 Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot

5.6.1 Ziele

5.6.2 Rechtsgrundlagen der Länder

5.6.3 Grundrechtseingriffe

5.6.4 Tatbestandliche Voraussetzungen

5.6.4.1 Häusliche Gewalt
5.6.4.2 Gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person

5.6.5 Rechtsfolgen

5.6.5.1 Wohnungsverweisung
5.6.5.2 Rückkehrverbot
5.6.5.3 Adressat

5.6.6 Ergänzende Regelungen

5.6.6.1 Mitnahme dringend benötigter Gegenstände
5.6.6.2 Feststellung des Aufenthalts der betroffenen Person
5.6.6.3 Beratung und Aufklärung der gefährdeten Person
5.6.6.4 Mitteilungen des Gerichts und der Polizeil
5.6.6.5 Überprüfung des Rückkehrverbotes
5.6.6.6 Aushändigung von Unterlagen

5.6.7 Weitere Handlungspflichten

5.6.7.1 Unterbringung der gefährdeten Person
5.6.7.2 Kinder als Opfer und Zeugen
5.6.7.3 Obdachlosigkeit oder Betreuung der betroffenen Person

5.6.8 Verwaltungsverfahrensrechtliche Aspekte

5.6.8.1 Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot als Verwaltungsakte
5.6.8.2 Verwaltungsakt mit Dauerwirkung
5.6.8.3 Bestimmtheit des Verwaltungsaktes
5.6.8.4 Schriftlichkeit des Verwaltungsaktes
5.6.8.5 Wirksamkeit des Verwaltungsaktes
5.6.8.6 Anhörung der betroffenen Person
5.6.8.7 Zustellung der schriftlichen Verfügung
5.6.8.8 Zwangsgeldverfahren

5.6.9 Übersicht

6 Polizeiliche Sachbearbeitung

6.1 Öffentliches Interesse an der Strafverfolgung

6.2 Spezialisierte Sachbearbeitung

6.3 Strafprozessuale Maßnahmen

6.4 Opferbetreuung

6.5 Gefahrensituation und Gefährderansprache

6.6 Maßnahmen in Hochrisikofällen

6.7 Perspektiven

7 Exkurs: Gewalt in der Pflege

7.1 Gewaltgefährdung

7.2 Gewaltprävention

Anhang
Klausur mit Lösungsbemerkungen und Fallvarianten, auch zur zwangsweisen Durchsetzung von Maßnahmen

Anlagen

1 Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen – Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung: Partnerschaft und Tatverdächtigen-Opfer-Beziehung: Partnerschaft, Baden-Württemberg, PKS 2013

2 Zahlenreihe „Häusliche Gewalt“ in Nordrhein-Westfalen

3 Übersicht der Befugnisnormen in den Polizeigesetzen der Länder zu Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot

4 Dokumentation des Einsatzes „Häusliche Gewalt“

5 Schriftliche Bestätigung der Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot

6 Merkblatt der Landesärztekammer Baden-Württemberg zur ärztlichen Schweigepflicht in Fällen häuslicher Gewalt

7 Formblatt zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht

Zu den Autoren

Literaturverzeichnis

1 Gesellschaftliche Wahrnehmung, gesellschaftspolitische Initiativen und staatliches Handeln

1.1 Allgemeines

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein aufgeklärtes, demokratisch verfasstes Gemeinwesen. Die unveräußerlichen Menschenrechte sind als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens unmittelbar geltendes Recht.1) Es gelten die Freiheitsrechte, daneben das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. 2)

Doch es gibt auch Ungleichheiten. Beziehungsgewalt und häusliche Gewalt ist – nicht nur in Europa oder weltweit – überwiegend Gewalt gegen Frauen. Sie ist es auch in Deutschland.

In der Präambel des im Mai 2011 verabschiedeten „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“3) (die sog. Istanbul-Konvention) wird dazu ausgeführt, dass „Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben.“ Geschlechtsspezifische Gewalt hat danach strukturellen Charakter.

Nicht in allen Ländern sind die ökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen, die tradierten gesellschaftlichen Normen und Werte und die daraus resultierenden Benachteiligungen für Frauen gleich. So gibt es neben häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung und Vergewaltigung in manchen Ländern und Gesellschaften auch Zwangsverheiratung, im Namen der „Ehre“ begangene Gewalttaten oder Genitalverstümmelung. Aber in fast allen Ländern der Welt kommt der Ächtung und Unterbindung all dieser Formen von Gewalt besondere Bedeutung zu.

1.2 Internationale Entwicklung

1.2.1 Vereinte Nationen

Erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts rückte die vielfach von gesellschaftlicher Benachteiligung, Unterdrückung und Diskriminierung gekennzeichnete Lebenssituation von Frauen in der Welt, deren durchgängig fehlende rechtliche Gleichstellung sowie die Ausübung von physischer, psychischer und sexueller Gewalt gegen Frauen im familiären und gesellschaftlichen Kontext als eine zentrale gesellschaftliche Problematik in das Bewusstsein der Weltgemeinschaft.

Für das Jahr 1975 rief die UNO-Generalversammlung das Internationale Jahr der Frau aus. Im gleichen Jahr richteten die Vereinten Nationen erstmals zum Internationalen Frauentag am 8. März eine Feier aus; in Mexiko-Stadt wurde die erste UN-Weltfrauenkonferenz abgehalten.

Seither ist Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen als Verletzung der Menschenrechte geächtet sowie für staatliche und nichtstaatliche Organisationen zu einem wichtigen Thema von Intervention und Prävention sowie von sozialer Arbeit geworden.

1993 verabschiedete die Generalversammlung der UN als Grundlage für die Bekämpfung von Gewalttaten gegen Frauen eine Erklärung zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und entwickelte in der Folge einen Aktionsplan (1995) mit dem strategischen Ziel der Gleichstellung von Mann und Frau. 2006 veröffentlichte der Generalsekretär der UN eine Untersuchung über Erscheinungsformen der Gewaltphänomene und die international geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen zum Phänomen.

Andere über- bzw. zwischenstaatliche Organisationen griffen die Thematik auf. 4)

1.2.2 Europäische Union

Auf europäischer Ebene und der Ebene der Nationalstaaten in Europa vollzogen sich jeweils im zeitlichen Kontext parallele Entwicklungen.

So brachte der Europarat seit Beginn der 1990er-Jahre eine Reihe von Initiativen zur Förderung des Schutzes von Frauen vor Gewalt auf den Weg. Angestoßen durch die Ministerkonferenz zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Jahr 1993, wurden Strategien und ein Aktionsplan für die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft erarbeitet. Dieser mündete 2002 in die Empfehlung des Ministerkomitees 5), in der die Mitgliedstaaten erstmals aufgefordert wurden, in einem Gesamtkonzept den Schutz von Frauen vor Gewalt durch gesetzliche Maßnahmen zu gewährleisten, Maßnahmen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Opfer landesweit zu koordinieren sowie die Polizei und Justiz zur Verfolgung und Bestrafung von Gewalttätern anzuhalten.

Im Anschluss an eine groß angelegte Kampagne zur Unterstützung der Umsetzung der Maßnahmen in den Mitgliedstaaten von 2006 bis 2008, die in verschiedenen Mitgliedstaaten durch wissenschaftliche Erhebungen zum Ausmaß der Gewalt gegen Frauen begleitet wurde, verabschiedete der Europarat im Mai 2011 das wegweisende „Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ 6). Darin wird häusliche Gewalt – ohne Beschränkung auf Gewalt an Frauen – explizit als eigenständiges Themenfeld ausgewiesen und geächtet.

Mit der Ratifizierung des am 01.08.2014 in Kraft getretenen Übereinkommens verpflichten sich die Mitgliedstaaten verbindlich zu umfassenden Maßnahmen in allen darin geregelten Bereichen, z. B. zu Maßnahmen der Prävention, zu Unterstützungsangeboten und gesetzgeberischen Maßnahmen im Straf-, Zivil- und Ausländerrecht.

Flankiert wird das Übereinkommen durch die 2012 verabschiedete EU-Opferschutzrichtlinie7), die Mindeststandards für die Rechte, den Schutz und die Unterstützung von Opfern von Straftaten vorsieht sowie u.a. erweiterte Informationsrechte des bzw. der Verletzten festlegt.8)

Im März 2014 veröffentlichte die Agentur der Europäischen Union (EU) für Grundrechte schließlich die Ergebnisse der ersten in allen 28 Mitgliedstaaten der EU durchgeführten Erhebung zu Gewalt gegen Frauen 9), die für den Bereich der gesamten EU Erfahrungen von Frauen mit körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt darstellt.10)

1.3 Nationale Ebene

1.3.1 Staat und Gesellschaft

Mit der Thematisierung der Formen häuslicher Gewalt auf internationaler Ebene entstanden auch in Deutschland, getragen durch eine erstarkende Frauenbewegung, frühzeitig erste gesellschaftspolitische Initiativen. Daneben entwickelte sich staatliches Engagement.

So wurde am 01.11.1976 in Berlin das erste deutsche Frauenhaus als Modellprojekt der Bundesregierung und des Berliner Senats gegründet 11), im Folgejahr nahmen die ersten „Notrufe“-Fachberatungsstellen für vergewaltigte Frauen die Arbeit auf.12)

Waren in Deutschland häusliche Gewalt und Frauenhäuser zunächst die im Vordergrund stehenden Themen, kamen in den Folgejahren sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen, Menschenhandel und Prostitutionstourismus, sexuelle Übergriffe in Institutionen und Einrichtungen sowie Gewalt gegenüber ausländischen Frauen und Behinderten als weitere Themen hinzu.

In Bund und Ländern entstanden Hilfeeinrichtungen, wurden Untersuchungen durchgeführt sowie Publikationen und Fortbildungsmaterialien veröffentlicht. Es entstand eine stärkere Vernetzung der Hilfeeinrichtungen auf der Ebene der Länder und des Bundes.

Gesetzgeberische Initiativen griffen die fortschreitende Erkenntnislage auf. Bereits das erste Opferschutzgesetz von 1986 13) führte zu einer Besserstellung von Opfern, insbesondere von Opfern von Sexualdelikten, im Strafverfahren. Ergänzt wurde es im weiteren Verlauf durch Regelungen im Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 14), dem Zeugenschutzgesetz 1998 15) sowie den Opferrechtsreformgesetzen von 200416) und 2009 17). Insgesamt wurden Rechte des Opfers auf Information und anwaltlichen Beistand eingeführt und der Persönlichkeitsschutz von Opfern und Zeugen verbessert, ohne zwischen weiblichen und männlichen Opfern zu differenzieren. Die Nebenklage wurde umgestaltet; es wurden Regelungen zur Schadenswiedergutmachung zugunsten des Opfers getroffen.18)

Seit 1997 ist zudem durch Änderung des § 177 StGB die Vergewaltigung in der Ehe strafbar.

Bereits im Vorgriff auf anstehende Initiativen der EU wurde auf Bundesebene 1999 mit einem Aktionsplan zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt ein umfassendes Gesamtkonzept mit den Schwerpunkten Prävention, Recht, Kooperation zwischen Institutionen und Projekten, Vernetzung von Hilfsangeboten, Täterarbeit, Sensibilisierung von Fachleuten und Öffentlichkeit sowie internationale Zusammenarbeit vorgelegt.19)

Der Bundesrat unterstützte mit Beschluss vom 09.06.2000 den Aktionsplan der Bundesregierung und unterstrich die Notwendigkeit struktureller Veränderungen. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Häusliche Gewalt“ erarbeitete „Rahmenbedingungen für polizeiliche/gerichtliche Schutzmaßnahmen bei häuslicher Gewalt“20) und legte damit u.a. grundlegende Empfehlungen für den polizeilichen Wohnungsverweis und zivilgerichtliche Schutzanordnungen vor.

Am 01.01.2002 trat als wesentlicher Meilenstein das „Gesetz zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung“ 21) in Kraft. Die so auf Bundesebene getroffene Regelung für Kontakt-, Näherungs- und Belästigungsverbote durch die Zivil- bzw. Familiengerichte bei vorsätzlichen und widerrechtlichen Verletzungen von Körper, Gesundheit oder Freiheit einer Person sowie in Fällen der Drohung mit diesen Taten erleichtert den Opfern gerichtliche Hilfen.22)

Die zivilrechtlichen Schutzmöglichkeiten für Opfer können im Einzelfall die Zuweisung der Wohnung, Schadensersatz und Schmerzensgeld, das alleinige Sorgerecht über die Kinder sowie die Aussetzung oder Beschränkung des Umgangsrechts betreffen.

Parallel dazu wurden ab Ende der 1990er-Jahre in den Ländern mit unterschiedlicher Intensität Aktionspläne und Programme gegen häusliche Gewalt entwickelt. Ab 2001 wurden in fast allen Polizeigesetzen der Länder die notwendigen Rechtsgrundlagen für die Verweisung gewalttätiger Personen aus der Wohnung und ein Rückkehrverbot geschaffen.

Im Jahr 2004 wurden Ergebnisse repräsentativer wissenschaftlicher Untersuchungen zur „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland 23) sowie zu Unterstützungspraxis, staatlicher Intervention bei häuslicher Gewalt und Täterarbeit im Kontext von Interventionsprojekten“ 24) vorgestellt. 2007 griff der Aktionsplan II der Bundesregierung 25) die Untersuchungsergebnisse insbesondere zu den Themen Schutz von Migrantinnen, von Frauen mit Behinderungen und von Frauen in Trennungssituationen auf.

Einen umfassenden Überblick über Ausmaß und Risikofaktoren der Gewalt vermittelt die Studie „Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen – Eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt“ 26) aus dem Jahr 2008.

Die fortschreitende Erkenntnislage und die Erfahrungen mit der Umsetzung der neuen polizeirechtlichen Maßnahmen führten auch in den Ländern zur Fortschreibung von Aktionsplänen, stellvertretend z.B. in Niedersachsen 27) und Baden-Württemberg 28), von Handlungsempfehlungen bzw. -leitlinien 29) sowie Initiativen 30). Diese bezogen zunehmend auch Männer als Opfer häuslicher Gewalt ein.

1.3.2 Polizei und Justiz

Häusliche Gewalt in Deutschland ist auch heute noch geprägt durch die Gewalt von Männern gegenüber Frauen. Sie galt in Deutschland bis in die 1970er-Jahre gemeinhin noch als Privatangelegenheit und war damit staatlicher Reglementierung und Einflussnahme weitgehend entzogen.

Das polizeiliche Handeln war entsprechend dem gesellschaftlich vorherrschenden Grundverständnis in der Regel darauf beschränkt, die akute Fortsetzung von Körperverletzungen, Beleidigungen oder Drohungen zu unterbinden, durch kurzfristige Trennung von Täter und Opfer den „Streit“ zu schlichten, für „Ruhe“ zu sorgen und die Ordnung wiederherzustellen.31) Erwies sich dies, z.B. infolge von Alkoholkonsum oder weiterer Aggressivität des Täters, als schwierig oder nicht möglich, konnte die Polizei einen Platzverweis aussprechen oder den Täter vorübergehend in Gewahrsam nehmen.

Zu einer Strafverfolgung kam es in der Regel nicht, da die verwirklichten Straftatbestände zumeist Antrags- und Privatklagedelikte waren. Die Kraft, eine Strafverfolgung des Partners einzuleiten und durchzusetzen, hatten aus vielfältigen und nachvollziehbaren Gründen die wenigsten Opfer. So unterblieben weithin auch die Spurensicherung zur Beweissicherung im Strafverfahren und eine statistische Erfassung des Sachverhalts. Ein Aufbrechen verfestigter Gewaltbeziehungen war auf diese Weise nicht möglich. Immer wieder kam es auch zu Tötungshandlungen, denen ganz überwiegend Frauen zum Opfer fielen.

Mit der zunehmenden Enttabuisierung und Ächtung von Beziehungsgewalt und dem wachsenden Bewusstsein um ihre gesellschaftliche Dimension und schädliche Wirkung begann ein Umdenken. Dies und der Wandel der rechtlichen Rahmenbedingungen führten Ende der 1990er-Jahre auch zu einer deutlich veränderten staatlichen Intervention bei häuslicher Gewalt. Dies galt zunächst insbesondere für die Polizei, die bei Einsätzen häuslicher Gewalt häufig das Ausmaß der Gewalt und die schwierige Situation der Opfer und betroffener Kinder erlebte.32)

Als erster wichtiger Schritt wurde in Nordrhein-Westfalen seit 1996 in allen Fällen häuslicher Gewalt die Strafverfolgung immer von Amts wegen durch Anzeige der Polizei eingeleitet, unabhängig von dem Strafantrag eines Opfers.33) Zudem hat das Innenministerium NRW die Bearbeitung von Strafanzeigen häuslicher Gewalt im „Vereinfachten Verfahren zur Bearbeitung Ausgewählter Delikte“34), das eine Äußerung der Verfahrensbeteiligten im schriftlichen Anhörungsverfahren vorsieht, ausgeschlossen. Ähnliche Regelungen ergingen in anderen Ländern.

Für die Justiz waren die in Fällen häuslicher Gewalt anzuwendenden Voraussetzungen für die Strafverfolgung in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) geregelt. Danach soll der Verweis auf den Privatklageweg bei entsprechenden Delikten im öffentlichen Interesse unterbleiben bzw. bei Körperverletzungsdelikten ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung auch ohne Strafantrag bestehen, wenn der verletzten Person aufgrund ihrer persönlichen Beziehung zum Täter nicht zuzumuten ist, die Privatklage zu erheben 35) oder Strafantrag zu stellen.36) Zunehmend ging die Justiz dazu über, diese Vorschrift in Fällen häuslicher Gewalt anzuwenden.

Für die Polizei vollzog sich seit 2002 mit dem Inkrafttreten der polizeilichen Befugnisse zu Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot unter der Maxime „Wer schlägt, der geht“ ein Paradigmenwechsel in der Handlungspraxis. Unterstützt wurde er durch eine immer enger werdende Kooperation mit dem Unterstützungs- und Hilfenetzwerk für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen bzw. Personen.

Mit der Durchsetzung von Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot ging das klare Signal an den gewalttätigen Partner, dass Gewalt in Beziehungen keine Privatangelegenheit ist und er zur Rechenschaft gezogen wird. Opfer häuslicher Gewalt wurden in dem Bewusstsein gestärkt, dass staatliche Stellen Hilfe leisten.

Damit wurde den Opfern erstmals die Möglichkeit eröffnet, zur Ruhe zu kommen und ggf. nach Beratung und Unterstützung weitere Schritte zu unternehmen, um sich – oftmals mit Kindern – aus einer dauerhaft gewaltbelasteten Beziehung zu lösen.

Vor dem Hintergrund immer wieder im Rahmen häuslicher Gewalt verübter schwerwiegender Misshandlungen oder Tötungen initiierte die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder im Jahr 2005 u.a. zeitnahe Situations- und Gefährdungsanalysen sowie konsequente Gefährderansprachen, um durch konsequente polizeiliche Intervention weitere Gewalttaten zu verhindern.37) Im Jahr 2015 griff sie das Thema mit weiteren Handlungsempfehlungen zum Management von Hochrisikofällen erneut auf 38).

2 Charakteristika der Gewaltbeziehung

Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Häusliche Gewalt“ beschreibt in ihrem Bericht 39) aus dem Jahr 2002 in dem Abschnitt „Männliche Gewalt an Frauen, Mädchen und Jungen in der Familie“ sehr präzise das, was nach der damaligen Wahrnehmung eine länger dauernde Gewaltbeziehung zwischen Mann und Frau und ihre Wirkungen ausmacht.

„Frauen erfahren Gewalt häufig in engen sozialen Beziehungen durch den Ehemann oder den (Ex-)Partner. Sie geschieht meist zuhause und damit in einem Bereich, der eigentlich als privater Schutzraum empfunden wird. Von Seiten des gewalttätigen Mannes handelt es sich in aller Regel um ein komplexes, sich mit der Zeit verstärkendes System von Macht und Kontrolle, die mit physischer, sexualisierter und psychischer Gewalt, durch Zwang, Nötigung und Drohung, durch Demütigung und Isolation ausgeübt werden. Bei den betroffenen Frauen bewirken solche Gewalterfahrungen, zumal über einen längeren Zeitraum, eine Schwächung bis hin zur Zerstörung des Selbstwertgefühls. Dies verstärkt wiederum ihre Abhängigkeit vom Mann und die eigene Verstrickung in die Gewaltbeziehung.

Aufgrund der besonderen Dynamik des Gewaltgeschehens verhalten sich Frauen in Misshandlungsbeziehungen häufig ambivalent hinsichtlich einer Trennung vom gewalttätigen Mann. Auch sprechen aus ihrer Sicht z.B. Faktoren wie die Verantwortung für gemeinsame Kinder, ökonomische Abhängigkeit und ein gesellschaftliches Umfeld, das Gewalt im häuslichen Bereich bagatellisiert oder der Frau selbst anlastet, gegen eine Trennung. Diese wird objektiv erschwert durch strukturelle Bedingungen wie z.B. in ihren jeweiligen Folgen für die Frauen nicht abschätzbare Bestimmungen des Sozialhilfe-, Ausländer- und Kindschaftsrechts, die zudem oftmals restriktiv ausgelegt werden. Nicht zuletzt ist die Gewaltbereitschaft von misshandelnden Männern in der akuten Trennungssituation am größten, so dass Frauen in dieser Zeit besonders gefährdet sind.“

Auch wenn sich einzelne Aspekte dieser Beschreibung aufgrund einer größer gewordenen Selbstständigkeit der Frauen und einer gewandelten gesellschaftlichen Sichtweise in der Tendenz verändert haben, sind die Charakteristika einer andauernden Gewaltsituation in einer Partnerschaft auch heute nicht grundsätzlich anders.

Ein in Niedersachsen ressortübergreifend vorgelegter Rechtsratgeber für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen „Ohne Gewalt leben – Sie haben ein Recht darauf!“ 40) umreißt in der Einleitung durch sehr konkrete Fragen das, was häusliche Gewalt ausmacht.

„Ihr Lebenspartner

beleidigt Sie und macht Sie bei Freundinnen und Freunden oder Familienmitgliedern schlecht?

hindert Sie, Ihre Familie oder Freundinnen und Freunde zu treffen?

hält Sie davon ab, Ihr Haus zu verlassen?

kontrolliert Ihre Finanzen?

droht damit, Sie, Ihre Kinder, Verwandte, Freundinnen und Freunde, Ihre Haustiere oder sich selbst zu verletzen?

wird plötzlich wütend und rastet aus?

beschädigt Ihre Sachen?

schlägt, stößt, schubst, beißt Sie?

zwingt Sie zum Sex?

akzeptiert nicht, dass Sie sich getrennt haben oder trennen wollen und verfolgt, belästigt oder terrorisiert Sie?

Alles das sind Formen von Gewalt – und Sie müssen das nicht hinnehmen.“

Diese konkreten Formulierungen von denkbaren Verhaltensweisen schaffen für Opfer häuslicher Gewalt Klarheit, wo Gewalt in einer Beziehung beginnt und welche Verhaltensweisen sie umfasst.

3 Definition häuslicher Gewalt

3.1 Bundesebene

Eine einheitliche und verbindliche Definition des Begriffs der häuslichen Gewalt gibt es im deutschen Recht nicht.

Nach dem Wortlaut der Istanbul-Konvention bezeichnet der Begriff häusliche Gewalt

„alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte.“ 41)

Damit ist der Begriff ausdrücklich nicht auf Gewalt von Männern an Frauen beschränkt.

Das gilt auch für das deutsche Gewaltschutzgesetz, das die gerichtlichen Maßnahmen der Wohnungsverweisung sowie des Kontakt- oder Näherungsverbotes zum Schutz von Gewaltopfern ohne geschlechtsspezifische Beschränkungen an bestimmte tatsächliche Voraussetzungen knüpft. So hat das Gericht auf Antrag der verletzten Person zum Schutz vor Gewalt und Nachstellungen zur Abwendung weiterer Verletzungen erforderliche Maßnahmen zu treffen,

wenn „eine Person vorsätzlich den Körper, die Gesundheit oder die Freiheit einer anderen Person widerrechtlich verletzt“ 42) hat

oder entsprechend,

„wenn

1. eine Person einer anderen mit einer Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit widerrechtlich gedroht hat oder

2. eine Person widerrechtlich und vorsätzlich

a) in die Wohnung einer anderen Person oder deren befriedetes Besitztum eindringt oder

b)43)