1. Wenn die Ordnung schwindet.

 

 

Der 18. Januar 1914 war ein kühler Tag. Nieselregen ließ das Straßenpflaster im Schein der Laternen matt schimmern. Es war noch früh. Gerade hatte die Kirchturmuhr von St. Joseph sieben Uhr geschlagen. Mürrisch und noch völlig unausgeschlafen folgte der Delinquent verschüchtert dem Beamten. Den Kragen seines abgewetzten Mantels hoch geschlagen, den Kopf gesenkt, schlurfte er in ausgetretenen Schuhen neben dem Polizisten her. Das hagere, eingefallene Gesicht, die ungesund graue Haut, der ungepflegte Schnauzbart, das schlecht geschnittene Haar und sein gebeugter Gang ließen einige frühe Passanten mitleidig aufblicken.

Wieder so ein armer Teufel, dachten sie, der von der Polizei in aller Frühe ins Präsidium verbracht wird. Aber hier in Schwabing trieb sich auch eine ganze Reihe arbeitsscheues Gesindel herum. Es war nur gut, wenn die Polizei da hart durchgriff.

Frau Sondermann betrat in Begleitung ihres Jüngsten, des dreizehnjährigen Ferdinand, das Schneidergeschäft in der Schleißheimer Straße Nummer 34. „Was will denn die Polizei von dem?“, fragte sie noch in der Tür und blickte dem Abgeführten nach.

„Ich weiß nicht. Aber irgendwas wird er schon auf ´m Kerbholz ha'm, dieser Österreicher“, erwiderte die Frau des Schneidermeisters.

„Ist ja auch kein Leben, was der Kerl führt.“ Viktoria Sondermann schüttelte verächtlich ihren Kopf. Dann nahm sie das Kopftuch ab, lockerte ihren wärmenden Schal und sagte, beinahe vorwurfsvoll: „Hab´ ihnen doch gleich gesagt, dass sie mit diesem Untermieter vielleicht Schwierigkeiten kriegen, liebe Frau Popp.“ Sie entnahm ihrer Einkaufstasche ein geblümtes Sommerkleid, faltete es auseinander und reichte es der Schneiderin.

„Ich bring´s Ihnen jetzt schon, da ham ´s Zeit mit der Änderung.“ Viktoria blickte an sich herab. „Ein bisserl weiter machen, wie immer“, lächelte sie leicht errötend. Frau Popp nickte verständnisvoll.

Meister Popp kam herein. Er trug einen dicken Stoffballen auf dem Arm. „Grüß Gott, Frau Sondermann“, sagte er und ließ den Stoffballen auf einen Tisch fallen. „Grüß dich, Bub. Ich begreif nicht, warum die Gendarmen immer in aller Früh die Leut´ abholen.“ Er schüttelte über solches Verhalten den Kopf. „An der Tür geklopft hat der Polizist, dass ein Toter davon hätte aufwachen können. Mussten diesen Kerl erst aufwecken. Der schläft aber auch immer bis in die Puppen. Treibt sich ganze Nächte rum. Sollte lieber schau ´n, dass er ´ne Arbeit kriegt, der Faulenzer.“

„Aber, mein Lieber“, warf seine Frau ein, „er ist doch Künstler.“

„Ich werd auch Künstler“, ereiferte sich Ferdinand.

„Untersteh dich!“, rief Viktoria. „Geh zur Polizei, wie Onkel Alex, oder zum Militär, wie dein Vater. Oder willst du später vielleicht so wie dieser österreichische Hungerleider ´rumlaufen?“

Ferdinand blickte beschämt zu Boden. Viktoria Sondermann fuhr fort: „Hab´ Ihnen doch gesagt, liebe Frau Popp, mit dem Untermieter werden Sie Ihre Schwierigkeiten kriegen, so wie der ausschaut. Wie lang ist er denn jetzt schon bei Ihnen?“

„Seit letztem Jahr. Seine Miete hat er aber immer bezahlt.“

„Und wo kommt der her?“

„Aus Wien, hat er gesagt. Will hier in München Architektur studieren, wenn er genug Geld beieinander hat. Will seine Bildchen verkaufen.“

„Nun ja, die Bildchen sind ja auch recht hübsch, die er malt und auf der Strass´ verkauft“, meinte Viktoria, „aber ob das zum Leben reicht?“

„Vielleicht wird er ja mal berühmt und reich, so wie der Lenbach“, warf Ferdinand ein.

„Vielleicht marschierst du jetzt ab zur Schule, Bub. Aber dalli!“, mahnte ihn seine Mutter. Ferdinand packte seinen Schulranzen und trottete zur Tür.

„Servus, Ferdi“, riefen Herr und Frau Popp dem Jungen nach.

Aus dem Nieselregen wurde nach und nach Schnee. Winzige Flocken wirbelten herum. Ferdinand blickte in den grauen Himmel. Er hoffte sehnsüchtig, dass es bald richtig schneien würde. Dann könnte er mit seinem Freund Christian am Monopteros Schlitten fahren. Mit dem neuen Schlitten, den er zu Weihnachten bekommen hatte. Oder sie könnten eine Schneeballschlacht machen.

Die Straße herunter kam ein Tross Reiter. Ferdinand erkannte, dass es ein Regiment der Hofwache aus der Türkenkaserne war, welches zu seinem morgendlichen Ausritt aufs Oberwiesenfeld zog. Er winkte den Soldaten zu, bewunderte ihre Uniformen. Die Pferde schnaubten, ihre Hufeisen ließen hin und wieder auf dem Pflaster kleine Funken auf stieben. Wenn er einmal zu den Soldaten ging, dann wollte er unbedingt zur Kavallerie, da war sich Ferdinand sicher. Und nicht so einen langweiligen Posten haben wie sein Vater, der Tag ein Tag aus in der Kaserne Dienst tat, nun, da er befördert worden war. Andererseits bewunderte er seinen Vater, der es vom einfachen Soldaten zum Hauptmann gebracht hatte. Und das war viel, denn die höheren Posten im Militär wurden vorwiegend von Adeligen besetzt.

 

Die Reiter waren lärmend vorüber gezogen. Noch lange hörte Ferdinand das Getrappel der Hufe, welches von den Häuserwänden widerhallte. Eine Wolke von Pferdegeruch hing über der Straße. Ferdinand dachte an seinen Freund Christian. Der konnte mit Pferden gut umgehen. Fast in seiner ganzen freien Zeit arbeitete er in den Stallungen der Reitschule. Schon öfter hatte Ferdinand ihn dorthin begleitet, ihm geholfen die Boxen auszumisten, die Gäule zu striegeln. Und immer wenn Ferdinand dann aus den Ställen nach Hause kam, schimpfte seine Mutter mit ihm, weil er so erbärmlich stank. „Du sollst dich nicht mit diesem Lümmel, diesem Weber Christian, herumtreiben. Das ist unter unserem Niveau. Der Kerl ist schon zweimal sitzen geblieben, er ist dumm und faul und ein schlimmer Rabauke.“

Und wenn der Vater am Wochenende heim kam, setzte es was mit dem Rohrstock. Aber das war Ferdinand egal. Schließlich war Christian sein Freund. Und Freundschaft ist etwas ganz Besonderes, dass hatte er in dem Roman Ohm Krüger gelesen. Zudem war Christian sehr stark, alle fürchteten ihn. Und solange Christian sein Freund war, traute keiner der Schulkameraden ihn, den kleinen Ferdi, wegen seiner schmächtigen Statur zu hänseln.

 

Tatsächlich hatte es die ganze restliche Woche über kräftig geschneit. Am Sonntag, gleich nach dem Essen, war Ferdinand dann mit seinem Schlitten los gezogen. Was für ein herrlicher Tag das gewesen war, freute sich Ferdinand. Sie hatten sich mit den Buben aus dem Lehel eine Schneeballschlacht geliefert, später gemeinsam Mädchen gejagt und mit Schnee eingerieben. Zum Schluss hatte Ferdinand seinen Freund Christian noch zu den Stallungen der Tierärztlichen Hochschule begleitet. Nun eilte er in der Dunkelheit des frühen Abends nach Hause.

 

„Nein, er ist wieder frei“, hörte Ferdinand seinen Onkel sagen, gerade als er die Wohnstube betrat. Polizeiinspektor Alexander Breitner saß im Armsessel, sein Vater, der Hauptmann, stand im wärmenden Hausmantel ihm gegenüber. Er blickte aus dem Fenster. Ferdinands Schwester Marianne brachte gerade die Aufschnittplatte fürs Abendbrot herein. Im Schein der Deckenleuchte schimmerte ihr Haar golden auf.

„Das lob´ ich mir“, verkündete Onkel Alexander, den alle Alex nannten, und sah auf die große Standuhr, „pünktlich auf die Minute ist der junge Herr.“ Ferdinand ging auf seinen Onkel zu, machte einen Diener und reichte ihm die Hand. „Braver Bub“, brummelte Alex und streichelte Ferdinand übers Haar, was dieser überhaupt nicht leiden konnte.

      „Er hat sich wieder den ganzen Tag herumgetrieben“, quengelte Marianne, „und ich hab´ der Mutter geholfen.“ Sie hob stolz ihren bezopften Kopf, streckte ihr Kinn vor und schritt hoheitsvoll aus dem Zimmer. Hauptmann Karl-Friedrich Sondermann reckte sich, trat vom Fenster zurück, nahm sein Monokel ab und ließ sich am gedeckten Esstisch nieder. „Was hat man ihm denn vorgeworfen, diesem windigen Österreicher?“, fragte er den abendlichen Besucher.

„Er hat Stellungsflucht begangen, so hat man ihn gesucht.“

„Oha“, tönte der Hauptmann, „wollte sich also vor dem Militärdienst drücken“; er klemmte sein Monokel wieder ein und blickte streng auf seinen Sohn. „Sich vor ´m Militärdienst zu drücken, dass ist äußerst verwerflich, mein Sohn. Militärdienst muss sein, sonst lernt ihr Burschen keine Disziplin. Hände vorzeigen!“ Ferdinand trat zu seinem Vater, hielt ihm beide Hände hin, zuerst die Handflächen noch oben, dann die Handflächen nach unten. Karl-Friedrich nickte zufrieden. „Wegtreten“, befahl er.

Als wenn ich ´s geahnt hätte, dachte Ferdinand und war froh sich gleich nach dem Betreten der Wohnung ausnahmsweise Gesicht und Hände gründlich gewaschen zu haben.

Ja und nun,“ setzte Alex seinen Bericht fort, „muss dieser Rumtreiber nach Salzburg. Wie aus dem Protokoll hervorgeht, hat er beim österreichischen Konsul gejammert, dass er doch Waise sei und so viel Schwierigkeiten hätte seinen Lebensunterhalt als Künstler zu verdienen. Da hatte der Konsul ein Einsehen und gewährte diesem Nichtsnutz einen kleinen Aufschub. Denn eigentlich hätte dieser Mensch, einen komischen Namen hat er, Hiller oder so ähnlich heißt er, ja in Linz zur Musterung gemusst.“ Er machte eine Pause, beugte sich etwas vor, schaute flüchtig nach Ferdinand dann wieder den Hauptmann an und flüsterte, „und das hab´ ich aus gut unterrichteten Kreisen, man munkelt der Kerl sei homosexuell. Zumindest verkehrt er mit so einigen stadtbekannten Typen.“

Die Mutter kam ins Wohnzimmer, hinter ihr stolzierte Marianne herein. Sie trug den Brotkorb, stellte ihn auf den Tisch. „Bitte Platz zu nehmen“, sagte Viktoria. Polizeiinspektor Breitner erhob sich aus dem Sessel am Fenster, ging zum Tisch. Ferdinand stellte sich hinter dem Stuhl auf, der sein Stammplatz war. Der Vater steckte sein Monokel in die Brusttasche des Hausmantels, strich ihn glatt, rückte seinen Stuhl am Kopfende des Tischs zurecht, setzte sich und kommandierte: „Essen fassen.“

Viktoria seufzte leicht, ließ sich auf ihrem Platz nieder und sagte: „Lieber Karl-Friedrich, du weißt ich mag diesen Militärjargon nicht. Nicht bei uns zu Hause.“

Ferdinand setzte sich, ebenso seine Schwester, der Onkel nahm Platz. Die Mutter ermahnte die Tischrunde: „Lasst uns beten.“ Sie taten es. Der Hauptmann nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bierhumpen. Onkel Alex trank ebenfalls. Ferdinand hatte riesigen Hunger. Alle aßen schweigend.

 

Nach dem Essen machte es sich Karl-Friedrich in seinem Armsessel bequem, nachdem er zuvor, wie jeden Sonntagabend, die alte Standuhr aufgezogen hatte. „Solange deine Frau, Anneluise, in Weilheim bei ihren Eltern ist, kannst du jederzeit zu uns zum Essen kommen, lieber Alex“, wandte er sich an seinen Schwager, der ihm gegenüber auf einem gepolsterten Stuhl Platz genommen hatte.

Die Petroleumlampe auf der Anrichte erhellte nur eine Ecke des Zimmers, der restliche Raum lag im Dämmerlicht. Der Hauptmann bevorzugte an den langen, dunklen Winterabenden, wie er sich gern auszudrücken pflegte, den gemütlichen Schein glorreicher, vergangener Zeiten. Denn diese Lampe aus poliertem Messing mit einem von Jagdszenen verziertem Glaszylinder, war ein Geschenk seines Vaters, der als junger Mann im siegreichen Krieg gegen die Franzosen Siebzig-Einundsiebzig hohe Auszeichnungen erhalten hatte.

Der Kachelofen verbreitete eine wohlige Wärme. Das Laufwerk der Standuhr ächzte, dann schlug es acht. Karl-Friedrich beugte sich zur Seite und öffnete den Deckel einer kleinen hölzernen Truhe. Er hielt sie Alex hin. Der griff hinein, nickte dankbar, lächelte dem Hauptmann zu und nahm eine der dunkelbraunen duftenden Zigarren heraus. Er drehte sie andächtig zwischen Zeigefinger und Daumen leicht hin und her. Dann hielt er sie sich unter die Nase, schnupperte daran, dass sein Schnauzbart zitterte und schmunzelnd sagte er: „Es geht doch nichts über einen gemütlichen Abend daheim.“

Auch der Hauptmann hatte sich inzwischen eine Zigarre ausgesucht, schloss mit großem Bedacht den Deckel des Kästchens und stellte es auf das kleine Tischchen neben seinem Armsessel. Danach griff er eine winzige Schere, schnitt besonnen einen kaum sichtbaren Keil in das Mundstück der Zigarre, leckte sie kurz an, steckte sie in den Mund, legte die Schere zurück, nahm eine Streichholzschachtel und entzündete zischend ein Schwefelholz. Der aufflammende Zündkopf reflektierte sich gelblich-rot im grau matten Fensterglas. Kurz schienen hinter der Scheibe tanzende Schneeflocken auf. Alex blickte hinaus. „Jetzt ist ´s doch noch Winter worden“, meinte er nachdenklich. Dann schwiegen beide Männer und rauchten.

„Nichts gegen unseren König“, unterbrach Karl-Friedrich die besinnliche Ruhe und stieß eine Qualmwolke aus, die langsam um die Petroleumlampe waberte, „aber Ludwig III. interessiert sich so gar nicht für Politik. Sitzt da auf seinem Gut in Leutstetten, kümmert sich um sein Weidevieh und produziert Milch.“

„Nun, Landwirtschaft hat er schließlich studiert. Aber davon einmal abgesehen ist er sehr an moderner Technik interessiert“, warf Alex ein, „und das ist doch auch ein Vorteil.“

„Wenn er sich nur mehr ums Militär kümmern würde. In diesen unruhigen Zeiten ist das unabdingbar, ja, von allergrößter Wichtigkeit.“ Mahnend hob Karl-Friedrich die Hand mit der qualmenden Zigarre. „Zumal sich Großbritannien, Frankreich und Russland gegen unseren Kaiser Wilhelm, gegen das deutsche Reich zusammen getan haben. Und Österreich, unser Verbündeter, hat ständig Probleme in seinen östlichen Provinzen.“ Der Hauptmann ließ die Hand mit der Zigarre sinken. Er blickte nachdenklich auf die glimmende Spitze.

Alex, ihm gegenüber, legte seinen Kopf in den Nacken, stieß den Zigarrenrauch in kleinen Kringeln gegen die Zimmerdecke aus, neigte sich vor und seufzte. Schließlich blickte er sich kurz nach allen Seiten um und sagte dann: „Wir haben Hinweise, dass eine so genannte Serbische Akademische Lesegruppe nichts anderes ist als eine gefährliche, radikale Gruppe von Panslawisten. Viele Studenten aus Russland und Serbien gehören ihr an. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, so zu sagen. Solche subversiven Umtriebe müssen wir streng im Auge behalten.“ Er unterstrich jedes seiner Worte, indem er die Zigarre zwischen Ring- und Mittelfinger haltend mit ihr in die Luft stach und so mit ihrer Glutspitze auf imaginäre Feinde zielte.

„Bayern könnte bei einem Waffengang seine Position im Reich verbessern und gleichziehen mit dem alles dominierenden Preußen. Nur dann müsste sich Ludwig stärker für das Waffenwesen engagieren,“ setzte Karl-Friedrich seine Gedanken fort, ohne auf die Worte seines Schwagers einzugehen. Dann machte eine Pause, zog die Stirn in Falten und ergänzte: „Tut er aber nicht. Er ist eben kein Militär, leider.“ Der Hauptmann schüttelte missbilligend den Kopf. „Ach, es ist eine Schande wie unser König rumläuft; die faltigen Hosen, wie eine Ziehharmonika schlottern sie um die Beine, der unordentlich gewickelte Regenschirm, den er ständig bei sich trägt.“ Er sah betrübt ins gelbe Licht der Petroleumlampe, blickte dann sein Gegenüber an. „Hätte er als junger Mensch eine strenge militärische Ausbildung genossen, unser König, würde er nicht so rumlaufen, sondern mehr auf sein Erscheinungsbild achten.“

Der Polizeiinspektor nickte zustimmend. „Ja, irgendwie flößt er keinen Respekt ein, das ist wohl wahr. Wenn ich da an Wilhelm II. von Preußen denke, das ist schon eine imposante Erscheinung.“

„Ausgerechnet jetzt macht Bayern überhaupt keinen guten Eindruck. Der eigentliche Thronfolger, der Otto, nicht zurechnungsfähig, wenn ich das mal so sagen darf, und Ludwig untätig wie sein Vorgänger. Traurig ist das.“

Die Männer pafften schweigend ihre Zigarren.

 

Föhnwetter hatte den Schnee schmelzen lassen. Für Anfang Februar war es eigentlich viel zu warm. Viktoria betrat die Schneiderei Popp. „Grüß Gott, Frau Nachbarin. Ist mein Sommerkleid fertig?“

Die Schneiderin nickte beflissen. „Freilich. Aber woll´n Sie ´s jetzt etwa schon anzieh´n?“

„Nein, wenn man auch meinen könnt der Frühling ist ausgebrochen.“

„Wird schon noch mal kalt wer´n, bin ich sicher“, Frau Popp ging in den rückwärtigen Raum und holte das frisch gebügelte Kleid. Sie kam zurück und legte es sorgfältig zusammen. „Nun wird’s wieder passen“, sagte sie und lächelte ihre Kundin an, „hab´ die Nähte ausgelassen, so etwa drei Zentimeter ist ´s jetzt weiter.“

Viktoria Sondermann nickte zufrieden.

„Stell´n Sie sich vor, lieber Frau Sondermann,“, schüttelte Schneiderin Popp ihren Kopf, „da ist doch unser Untermieter, dieser Adolf Hitler, dieser Österreicher, gar nicht zum Militär kommen. Die in Österreich konnten ihn nicht brauchen, zu kränklich, zu schwach.“ Sie hielt inne, strich mit der flachen Hand über den geblümten Kleiderstoff, entfernte einen winzigen Fussel, blickte zu ihrer Kundin auf und fuhr in einem anklagenden Ton fort: „Aber der junge Mann isst ja auch nichts Gescheit´s. Sitzt die meiste Zeit im Caféhaus rum, hat aber kein Geld, um sich mal richtig satt zu essen. Ich hab´ ihm gesagt, er soll sich eine Arbeit suchen. Aber da winkt er ab, will er nicht. Ich bin Künstler, hat er gesagt. So was!“ Sie schüttelte erneut ihren Kopf. „Was aus dem noch werden soll? Denn von seinen Bildchen kann er nicht leben, nie nicht“, betonte sie.

„Vielleicht wird er ja noch mal vernünftig. Vielleicht findet er eine Frau. Dann wird er schon ernsthaft werden, glauben Sie mir.“ Viktoria nahm das Kleid, legte es vorsichtig über ihren Arm. „Ich hab´ gehört, der Kerl hat für Frauen nichts übrig. Hab´ ich gehört“, wiederholte Viktoria flüsternd.

„Ach, das ist ja furchtbar, wenn ´s stimmt, furchtbar“, schüttelte Frau Popp ihren Kopf. Dann hielt sie inne und fragte unvermittelt: „Wird’s so gehen?“

„Ich hab ´s ja nicht weit.“

 

Polizeiinspektor Alexander Breitner ließ sich von seinen beiden Agenten Bericht erstatten. „Haben Sie sich ´s notiert, Krause?“, fragte er, als dieser seine mündlichen Ausführungen über die Arbeiterversammlung der SPD im Kindl-Keller beendet hatte. Der Angesprochene nickte und reichte seinem Vorgesetzten ein beschriebenes Blatt. Breitner las: Wir werden jeden Versuch vereiteln Europa in einen Krieg zu stürzen. Wenn ein Mann von Blut und Eisen wie Bismarck trotz Ausnahmegesetz mit uns nicht fertig geworden ist, wie wollen das die Knirpse fertig bringen, die heute an der Spitze stehen!

Langsam ließ der Inspektor das Blatt sinken, warf noch einmal einen Blick darauf und legte es auf seinem Schreibtisch. „Und das hat diese polnische Schlampe, diese Sozialistin Rosa Luxemburg, wirklich so wörtlich gesagt?“, fragte er mit strengem Ton. Krause hatte, während sein Vorgesetzter las, seine rechte Hand lässig in die Hosentasche geschoben. Jetzt zog er sie schnell heraus und nahm Haltung an. „Ja wohl“, antwortete er, „wörtlich.“ Sein Nebenmann nickte beflissen. Dann fügte Krause unaufgefordert hinzu: „Und am End´ hat die Versammlung noch eine Resolution verabschiedet. Darin haben sie festgehalten, dass alle Kriegsvorbereitungen unbedingt verurteilt werden soll ´n.“

Breitner bedankte sich. „Gut, gute Arbeit.“ Er wedelte mit der linken Hand in Brusthöhe, was bedeuten sollte, dass die beiden Spitzel entlassen waren. Während sie zu Tür gingen sagte er leise, auf das Protokoll blickend. „Der roten Rosa werden wir ´s noch zeigen.“ Er setzte sich. Es kann doch nicht sein, dass Leute wie diese Rosa Luxemburg einfach die Obrigkeit öffentlich beleidigen. Breitner war empört.

Was für Auswüchse heutzutage, dachte er. Wie war ´s früher doch so viel gemütlicher. Alles hatte seine Ordnung, alles lief seinen gewohnten Gang. Der König war der König, der Priester der Priester, es gab den Adel und es gab das einfache Volk, Militär und Polizei wurden respektiert. Und heut'? Lauter dahergelaufene Möchtegernpolitiker, sogenannte Volksvertreter, die dem einfachen Mann auf der Strass´ das Blaue vom Himmel versprechen und sie verrückt machen mit ihrem Geschwätz. Parteien, überflüssig wie ein Kropf. Und dann die ganzen Ausländer in der Stadt, vor allem in Schwabing. Gesindel die meisten, arbeitsscheues Gesindel, nichts weiter. Künstler, lächerlich. Was da so einige als Kunst verkaufen, grauenhaft. Dieser Franz Marc, zum Beispiel. Oder dieser August Macke. Und dann die lichtscheuen jungen Figuren im Dunstkreis von diesem Stefan George, diesem Männer liebenden Poeten. Nun, der Thomas Mann, viel bekannter als all die anderen, ist ja recht umgänglich und ein angesehener Bürger. Ebenso Oscar Maria Graf, und auch der sympathische Ludwig Thoma. Aber der Rest? Nur alles Sympathisanten der Linken, alle Vaterlandsverräter! Man wird sie im Auge behalten müssen!

Alex Breitner griff zum Telefon. „Geben sie mir den Chefredakteur der Münchener Neuesten Nachrichten, dringend“, befahl er. Als er mit dem leitenden Redakteur verbunden war sagte er: „Ich hab´ da was für Sie. Das Protokoll der SPD-Versammlung von heute. Ich lass es Ihnen per Boten rüber schicken.“

 

Es herrschte eine eigenartig nervöse Stimmung in der bayerischen Metropole. Man spürte eine allgemeine Anspannung von der niemand hätte die Ursache benennen können. Es waren nicht die gut besuchten Versammlungen der Arbeiterbewegung, welche verständlicherweise das bürgerliche Lager beunruhigten, an die hatte man sich gewöhnt; und man fühlte sich stark genug den wenigen extremen Randgruppen Paroli bieten zu können. Es waren auch nicht die immer wieder auftretenden Spannungen zwischen den einzelnen anderen politischen Parteien. Es war auch nicht der Wandel durch den allenthalben sichtbaren Fortschritt, der für viele eine Veränderung des Lebens mit sich brachte, für manch einen weniger erfreulich, für den einen oder anderen aber wiederum äußerst erfreulich. Hatte sich doch München allmählich, langsam aber stetig, aus einer eher verschlafenen Residenz- und Verwaltungsstadt zu einem aufstrebenden Industriestandort entwickelt.

Nein, es war so etwas wie ein aufziehendes Unwetter, das die Menschen in eine Hektik versetzte, die ihrem bis dato biergeschwängerten und behäbigen Lebensgefühl so gänzlich fremd war. Wie in einem siedenden Kessel, dessen Deckel fest verschlossen ist, brodelte es in der Stadt. Was aber besonders beunruhigte war, dass niemand im Stande gewesen wäre zu sagen, welche Bedrohung sich da abzeichnete. Die Menschen fühlten eine sinnlos eigentümliche Furcht und zugleich eine sinnlos unbegründete Freude.

Auch die Schwabinger Künstler verspürten eine bedrückende Enge, die beklommen machte. All der Elan der vergangenen Jahre war verflogen. Viele Kollegen hatten Schwabing verlassen, waren nach Berlin gegangen oder aufs Land hinaus gezogen. Sicher, nach wie vor trafen sich die verbliebenen Künstler in diversen Zirkeln, man diskutierte, plante Ausstellungen, man scherzte. Aber diese unbekümmert zuversichtliche Stimmung, wie sie geherrscht hatte zu Beginn dieses Jahrhunderts, und die Schwabing zu einem Mekka von Malern und Schriftstellern hatte werden lassen, diese Stimmung wollte nicht mehr aufkommen. Zwischen all ihren Scherzen, hinter all ihrem Lachen lauerte eine merkwürdig diffuse Verdrossenheit. Man fühlte sich seltsam seiner selbst entfremdet.

Und obwohl alles ganz normal seinen Gang ging, der deutsche Kaiser, wie jeden Sommer, mit der Hohenzollern auf Nordlandtour war, im vergangenen Jahr noch die gekrönten Häupter Großbritanniens und Russlands in Berlin zu Gast gewesen waren und das Haus Wittelsbach derzeit am Starnberger See in der Sommerfrische weilte, hatte man ein ungutes Gefühl als die Nachricht vom Attentat auf den österreichischen Thronfolger sich wie ein Lauffeuer verbreitete.

Hauptmann Sondermann war nach Berlin abkommandiert worden und kam nun an den Wochenenden nicht mehr heim.

 

 

2. Freude viel und auch viel Leid.

 

Ferdinand und sein Freund Christian erkletterten die Fassadensimse der Theatiner-Kirche. So hatten sie einen guten Blick über die Menge. Der Odeonsplatz war voller Menschen. Dicht gedrängt standen Männer, Frauen, Kinder. Von der Feldherrenhalle herab verkündete ein Redner, dass Deutschland, von den Feinden herausgefordert, nunmehr zu einem Waffengang bereit sei. Von einigen Uniformierten flankiert und unter dem Jubel der Zuhörer rief er aus: „Es ist Krieg!“

Ein unbeschreiblicher Tumult brach aus. Viele Männer umarmten sich, warfen ihre Hüte in die Luft, Frauen schluchzten, Kinder schrien.

Ferdinand und Christian kletterten auf das Pflaster des Bürgersteigs hinab. Sie hatten Mühe in dem Gedränge einen Standplatz zu finden. Sie wurden hin und her geschubst. Sie mussten aufpassen sich nicht aus den Augen zu verlieren. Christian voran schlängelten und schoben sie sich durch die gedrängten Leiber in Richtung Ludwigstrasse. „Schau, da ist ja auch der Österreicher, den wo´s verhaftet ham.“ Ferdinand zeigte mit der rechten Hand auf den Untermieter der Schneiderfamilie Popp. „Mei, wie der sich freut, Schau!“ Hitler schwenkte begeistert seinen Hut.

„Oh mei, is da was los“, sagte Christian und rieb sich erfreut die Hände. „Jetzt geht ´s auf. Hoffentlich dauert es `ne Weil, dass auch ich noch mit machen kann. Is schon großer Mist, wenn ma z´jung is, gell?“ Er hatte einen roten Kopf vor Begeisterung und malte sich die kühnsten Heldentaten aus, die er an der Front würde vollbringen wollen.

 

Einige Zuhörer auf dem Odeonsplatz stimmten patriotische Lieder an. Die Menge begann zu singen: Heil Dir im Siegeskranz, dann: Gott mit dir du Land der Bayern, und schließlich: Die Wacht am Rhein.

Beide Buben schlenderten Richtung Schwabing weiter. Sie schwärmten von Kriegsabenteuern. Endlich hatte der langweilige Alltagstrott ein Ende. Nun könnte und würde bestimmt auch etwas Aufregendes geschehen.

Der Jubelgesang vom Odeonsplatz drang bis zu den Buben herüber.

Ferdinand erzählte seinem Freund von den heldenhaften Taten, die sein Großvater im Krieg gegen die Franzosen vollbracht hatte. „Das ist zwar schon lange her“, endete er, „aber damals haben die Deutschen den Krieg gewonnen. Und jetzt werden wir wieder siegreich sein. Nur schade, dass ich noch nicht zum Militär darf.“ Doch Ferdinand war stolz darauf, dass sein Vater, der Hauptmann, jetzt ein Kriegsheld würde, das stand für ihn außer Zweifel. Er verabschiedete sich von seinem Freund und rannte nach Hause. Diese großartige Neuigkeit vom Beginn des Krieges wollte er schnellstmöglich seiner Mutter mitteilen.

 

 

„In dem Alter wachsen die Buben ja so schnell“, stöhnte Viktoria Sondermann und packte einige Hosen ihres Sohnes auf den Tresen. „Vielleicht kann man an der einen oder anderen etwas an stückeln. Diese hier kann der Bub so auf keinen Fall mehr tragen. Schaun ´s doch mal was da zu machen ist, liebe Frau Popp.“

Die Schneiderin nahm die Hosen, betrachtete sie eingehend. „Hab ´n Sie schon was von Ihrem Mann gehört?“, fragte sie betont beiläufig, „wo ist er denn?“

Die Frau des Hauptmanns antwortete: „Er ist jetzt an der Westfront und schreibt, dass sie weiter vorstoßen in Feindesland.“ Stolz klang in ihrer Stimme mit, Stolz und ein wenig Wehmut. „Jetzt kann er nur noch nach Hause, wenn er mal Heimaturlaub bekommt und so muss ich mich allein um die Kinder kümmern. Der Bub ist ganz wild darauf so schnell wie möglich älter zu werden, damit er Soldat sein kann. Und das macht es mir leicht, weil immer, wenn er nicht folgt, ich ihm sag´, dass ein erwachsener Bub das nicht tut, ja, und erwachsen möcht’ er auf jeden Fall sein, der Ferdi.“ Sie lächelte. „Drum treibt er sich auch nicht mehr mit diesem Christian herum, dem Rabauken von den Webers. Kennen Sie die Familie Weber?“

„Nein, nicht so recht. Hab´ schon von diesem Lümmel, dem Christian gehört, aber kennen tu ich ihn nicht.“ Frau Popp legte die Hosen von Ferdinand in einen Korb. Viktoria wandte sich zur Tür, wollte gehen. Die Schneiderin hielt sie auf. „Das soll einer versteh ´n! Da hat doch dieser Österreicher, dieser Hitler, den die in seiner Heimat nicht haben wollten beim Militär, da hat sich doch dieser Kerl tatsächlich an unseren König gewandt, man soll's nicht glauben, und hat die Erlaubnis erhalten bei den Bayerischen Soldat werden zu dürfen. Nun trägt auch er Uniform, dieser Schwächling und ist weg.“

„Na ja, ein Gewehr halten wird er ja wohl noch können. Und was Gescheites zu Essen kriegt er so wenigstens auch“, meinte Viktoria, „und außerdem wird aus ihm dann auch ein richtiger Mann.“ Beide Frauen lachten.

„Da ham ´s recht“, ergänzte Frau Popp.

 

 

Die Kunstszene Schwabings blutete aus. Literaten, Maler, Schauspieler verreckten an der Front. Die letzten Bohemien verließen die Stadt, beziehungsweise verkrochen sich verschämt auf ihren Stuben oder in ihren Ateliers. Fremde Besucher blieben weg. Restaurants, Geschäfte und Caféhäuser leerten sich. Die einfache, konservative Bevölkerung begrüßte diese Entwicklung. War doch so ein großer Teil all der fremden Schmarotzer, die ständig an der bayerischen Behäbigkeit herum nörgelten, waren doch nun all´ die Auswärtigen endlich aus der Stadt verschwunden.

Die sogenannten besseren Stände allerdings verloren, zwar kaum merklich zunächst, aber doch nach und nach ihre Privilegien.

Die anfängliche Euphorie wich mehr und mehr einer allgemeinen Trostlosigkeit. Die Schulen wurden eine nach der anderen umfunktioniert zu Lazaretten. Ein geregelter Unterricht fand kaum noch statt. Viele Stunden verbrachten die Menschen damit, sich die lebensnotwendigen Dinge zu besorgen. Denn alle Lebensmittel waren rationiert und reichten nicht aus. Hunger wurde zum täglichen Begleiter. Der Schwarzmarkt blühte, die Preise liefen davon.

Kriegskrüppel störten auf Straßen, Plätzen und in Parks das idyllische Bild. Und Siegesmeldungen waren langsam verebbt.

Gerüchte über feindliche Agenten, die unter Isarbrücken Sprengladungen anbringen würden, verbreiteten sich. Loderndes Misstrauen versengte jedwede Freundlichkeit.

Und zu guter Letzt stiegen auch noch die Bierpreise. Das Bier wurde schlechter und damit auch die Laune der Münchener.

Frauen arbeiteten anstelle der Männer in Fabriken und in der Verwaltung.

Die Stromversorgung brach häufig zusammen. Straßenbahnen verkehrten nur unregelmäßig.

Hauptmann Karl-Friedrich Sondermann fiel bei Verdun.

 

Die Beerdigung fand auf Bitten der Schwiegereltern im Familiengrab in Weilheim statt. Zur Trauerfeier reisten Viktoria und ihre Kinder an, sowie Alexander mit seiner Frau Anneluise.

Eine Ehrenkompanie schoss Salut. Der Kommandeur des sechzehnten bayerischen Infanterie-Regiments kondolierte.

 

 

Polizeiinspektor Alexander Breitner folgte einer Einladung. Der Verleger Jakob Lindner hatte zu einem Herrenabend gebeten. Im Hotel Vier Jahreszeiten, in einem Hinterzimmer, traf man sich. Als der Polizeiinspektor eintrat, fiel sein Blick auf fünf Männer, die um einen Mahagonitisch versammelt waren. Lindner stand auf, begrüßte den Gast und stellte ihn den anderen Anwesenden vor. Breitner setzte sich. Die Männer tranken Wein. Die Luft war geschwängert vom Rauch der Zigarren. Lindner ergriff das Wort. „Meine Herren, es geht nicht an, dass Arbeiter, Frauen und sogar Kinder auf den Straßen randalieren. Es darf nicht sein, dass dieser Pöbel Parolen schreit und das Ende des Krieges fordert. Deutschland steht in einem existentiellen Kampf. Es geht um die Zukunft Deutschlands, um die Zukunft Bayerns.“ Er blickte seine Zuhörer der Reihe nach an. Diese nickten zustimmend. Dann griff der Verleger zu seinem Glas, trank einen Schluck und fuhr fort: „Wir dürfen diesen Krieg nicht vorzeitig beenden. Die Aktivitäten an allen Fronten müssen verstärkt werden. Wir haben dazu jedwedes Mittel. Flugzeuge, U-Boote, Panzer, Giftgas, all unsere Möglichkeiten müssen nur voll ausgeschöpft werden, dann bleibt der Erfolg nicht aus!“

„Sehr richtig, bravo“, stimmte ein Dicker zu, der dem Verleger gegenüber saß.

Polizeiinspektor Breitner blickte schweigend in die Runde und wusste nicht, was diese patriotische, aber, wie er fand, ziemlich sinnlose Zusammenkunft, jetzt, im beinahe vierten Jahr des Blutvergießens, noch bringen sollte. Es war ja sehr ehrenwert, dass sich verantwortliche Persönlichkeiten um das Vaterland sorgten, dass tat auch er. Auch er fand diese Demonstrationen der Bevölkerung gegen Krieg und für bessere Versorgung äußerst unpatriotisch. Aber, andererseits, waren die Menschen nicht im Recht, wenn es um ihr nacktes Überleben ging? Obwohl, dulden konnte er diese Aktionen als verantwortlicher Inspektor natürlich nicht.

Er griff nach der Flasche und goss sich Wein ins Glas.

Lindner dozierte weiter. „Mit dem dann errungenen Sieg werden wir endlich die notwendigen Gebiete im Osten bekommen. Dann kann Deutschland durch Gewinnung des nötigen Neulands erstarkt, sich in der Folge auf landwirtschaftlichem und natürlich auch auf industriellem Gebiet unabhängiger machen.“

Die Runde applaudierte. Der Dicke räusperte sich, schlug mit seiner speckigen Hand wuchtig auf die Tischplatte und mit einer quäkenden Stimme trompetete er: „Die Vaterlandspartei unterstützt jedes Wort, jede Silbe, die Sie, verehrter Herr Lindner, da geäußert haben. Und übrigens die besten Grüße von Admiral Alfred von Tirpitz“, stolz hob er seinen speckigen Kopf und blickte herausfordernd in die Runde.

Der Verleger bedankte sich mit einer leichten Verneigung. „Auch hier in München werden wir weiterhin dafür Sorge tragen, dass die großdeutsche Idee nicht von Krämerseelen zu Schande gemacht wird.“ Er deutete auf Breitner. „Drum hab´ ich mir erlaubt den Polizeiinspektor, Herrn Alexander Breitner, heut´ zu uns zu laden. Auch von ihm wird man in Zukunft noch hören. Da bin ich sicher, meine Herren.“

Alle blickten auf Breitner. Der lächelte verlegen und erhob sich zu einer Verbeugung.

 

 

Die nun verwitwete Viktoria Sondermann zog mit ihren beiden Kindern zu ihrem Bruder. In der Schleißheimer Straße kündigten sie und wechselten von Schwabing ins Gärtnerplatzviertel. Sie nahmen in der Buttermelcherstraße Quartier. „Der Bub braucht eine männliche Bezugsperson, eine strenge Hand“, hatte Alex gesagt.

Ferdinand fand den Umzug in die Wohnung seines Onkels eher störend. Hatte er doch in Schwabing seine Freunde und Spielkameraden. Marianne dagegen war begeistert. Ganz in der Nähe von Onkel Alex´ Wohnung konnte sie nun bei den Ursulinen eine weiterführende Schule besuchen. Für die Hauptmannswitwe Viktoria bedeutete dieser Umzug eine große Erleichterung, denn ihr Bruder Alex hatte keine eigenen Kinder, konnte so für den Buben den Vater ersetzen. Auch war die Wohnung in der Buttermelcherstraße groß genug, hatte sogar ein eigenes Bad; und Viktoria verstand sich ausgezeichnet mit ihrer Schwägerin Anneluise. Vor allem aber würde es durch die guten Beziehungen von ihrem Bruder sehr viel leichter sein die Kinder ausreichend zu ernähren.

„Von den verhafteten Schwarzhändlern bleibt immer die eine oder andere Ware in den Händen der Polizei. Und da fällt so manches für unsereins ab“, erklärte Alex die gut gefüllte Speisekammer.

Außerdem waren da noch die Eltern von Anneluise in Weilheim, durch die so manches Stück Speck, so mancher Schinken, vor allem aber Kartoffeln, die so rar geworden waren wie exotische Früchte, in die Buttermelcherstraße nach München gelangten.

 

Viktoria und Anneluise hatten den Tisch festlich gedeckt. Das Nymphenburger Porzellan aufgelegt, das Silberbesteck geputzt, Kerzen hingestellt. Heute sollte es zur Feier des Tages einen Schweinskrustenbraten geben, dazu Kartoffelknödel und Rotkraut. Als Nachtisch, sehr zur Freude von Ferdinand, Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Marianne hatte ein Gedicht auswendig gelernt. Anneluises Eltern aus Weilheim waren angereist. Eine gute Flasche Rotwein wurde entkorkt. Alle warteten auf Onkel Alex.

Gerade befördert zum Oberinspektor nahm Alex die Glückwünsche der Familienmitglieder entgegen. Seine Frau kommentierte dieses Ereignis mit dem Satz: „Es wurde aber auch Zeit.“ Ihr Vater meinte lakonisch: „So kommen die Besten auf die besten Posten.“ Viktoria lächelte milde und dachte an ihren gefallenen Mann.

Ferdinand freute sich vor allem, weil es etwas Gutes zu essen gab und langte kräftig zu. Marianne hatte einen roten Kopf und verschwitzte Hände. Immer wieder rezitierte sie im Geiste das Gedicht. Es haben viel Dichter gesungen im schönen deutschen Land, nun sind ihre Lieder verklungen, die Sänger ruhen im Sand.

Die Frauen trugen das schmutzige Geschirr in die Küche. Alex öffnete die zweite Flasche Wein. Seine Schwiegermutter zupfte ihr Spitzentuch zurecht, ihr Mann war ans Fenster getreten und blickte auf die Straße. Draußen war es trüb. Es hatte geregnet. Das Straßenpflaster glänzte. Der Schwiegervater sagte: „Nun geht auch das Jahr bald zu end´, aber der Krieg noch immer nicht.“

Marianne schlich sich aus dem Wohnzimmer und schaute noch einmal im Gedichtband nach: Aber so lange noch kreisen die Stern um die Erde rund, tun Herzen in neuen Weisen die alte Schönheit kund.

Tante Anneluise und Viktoria kamen aus der Küche und setzten sich. Alex ging zur seitlichen Anrichte, auf der jetzt auch die alte Petroleumlampe aus der Schleißheimer Straße stand. Er zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Zigarrenkiste, jene, die einst dem gefallenen Hauptmann, seinem Schwager, gehört hatte. Eine Minute verharrte er im stillen Gedenken. Er blickte auf seinen Neffen, der mit dösigen Augen auf das Tischtuch starrte, auf dem nichts zu sehen war, als die, bis auf einen winzigen Rest, leeren Weingläser und die neu entkorkte Flasche Rotwein.

Ferdinand schmeckte in Gedanken dem Schokoladenpudding nach. Gern hätte er mehr davon gehabt, aber er war bis auf den letzten Löffel gegessen worden. In seiner Fantasie machte Manfred von Richthofen gerade mit seinem roten Dreifachdecker verwegene Kunststücke am blauen Himmel. Flieger wollte Ferdinand werden. So ein Teufelskerl wie dieser Rote Baron. Er vollführte mit seiner rechten Hand einen Sturzflug, strich knapp am leeren Weinglas vorbei. Sein Unterarm streifte das Glas, es fiel um. Ferdinand blickte erschrocken hoch. Keiner schien etwas bemerkt zu haben. Das Glas war heil geblieben. Ferdinand stellte es wieder auf und schob es weit von sich weg. Ein Fleck auf weißem Damast, rot wie Blut, starrte ihn tückisch an. Ferdinand verdeckte ihn mit seiner Hand. Am liebsten wäre er trotz des miesen Wetters hinausgegangen auf die Straße. Aber noch war es ihm nicht erlaubt. Er musste warten, bis seine Schwester dieses blöde Gedicht vorgetragen hatte.

Der Schwiegervater ging langsam vom Fenster auf seinen Schwiegersohn zu, streckte seine Hand aus. Alex reichte ihm die kleine Zigarrentruhe. Der Alte nahm sich einen Stumpen.

Viktoria fragte: „Wo ist Marianne?“ Niemand antwortete.

Marianne hatte sich die Strophen noch einmal durchgelesen. Jetzt kniff sie die Augen zu und sprach die Verse leise vor sich hin.

Im Walde da liegt verfallen der alten Helden Haus, doch aus den Toren und Hallen bricht jährlich der Frühling aus.

Dann ging sie mit entschlossenem Mut und schlotternden Knien ins Wohnzimmer. Sie stellte sich mit auf dem Rücken verschränkten Armen, rotem Kopf und einem schüchternen Lächeln neben der Tür auf. Viktoria rief: „Da ist ja das Kind!“ Alex und sein Schwiegervater kamen, Zigarren paffend, zum Esstisch. Anneluise sprang auf und holte von der Anrichte einen Aschenbecher. Ferdinand legte die linke Hand über die rechte, dass es aussah, als würde er aufmerksam zuhören. Marianne räusperte sich und sagte mit belegter Stimme: „Trost – Gedicht von Joseph Freiherr von Eichendorff.“ Dann räusperte sie sich noch einmal, sah flehend zu ihrer Mutter hinüber, die ihr aufmunternd zunickte. Marianne begann, zuerst langsam, dann immer schneller die Verse herunter zu sagen, so als hätte sie Angst in nächsten Augenblick alles zu vergessen.

... und wo immer müde Fechter sinken im mutigem Strauß, es kommen frische Geschlechter und fechten es ehrlich aus.

Mit großen Augen, so als könne sie es gar nicht fassen, dass sie es ohne Stottern geschafft hatte, stand Marianne da und starrte die Tischrunde an. Viktoria weinte vor Rührung, wischte sich mit ihrem Taschentuch die Tränen ab, erhob sich, ging zu ihrer Tochter, umarmte sie. Die anderen Anwesenden applaudierten. Ferdinand rührte keine Hand. Marianne machte einen Knicks und lächelte stolz. Ihr Bruder zappelte auf seinem Stuhl herum, die Hände krampfhaft über dem Weinfleck haltend. Onkel Alex nahm die Weinflasche und füllte erneut die Gläser. „So“, sagte er, „auf Marianne und das schöne Gedicht.“ Er prostete in die Runde. Anneluise hob ihr Glas bis in Augenhöhe, blickte über den Glasrand hinweg strahlend auf ihren Mann und ergänzte: „Und auf die Beförderung von Alex und eine siegreiche Zukunft.“ Sie stießen die Gläser zusammen und tranken. Marianne setzte sich neben ihre Mutter. Ihr Bruder behielt seine Hände auf der Tischdecke und blickte voll Ungeduld auf die Zeiger der Standuhr.

„So, und nun zu dir, Ferdinand“, sagte Onkel Alex. Ferdinand wollte sich erheben, wandte seinen Blick erwartungsvoll dem Onkel zu. Der aber wedelte mit der Hand, deutete ihm damit an sitzen zu bleiben. Dann machte er noch einen kräftigen Zug an seiner Zigarre, stieß den Rauch aus, trank einen Schluck aus seinem Glas, setzte es bedächtig ab und sagte: „Wir haben gründlich alles Für und Wider besprochen. Und sind einhellig zu dem Schluss gekommen, dich auf ein Internat zu schicken. Hier in der Stadt ist die schulische Ausbildung aufgrund der Kriegsumstände äußerst mangelhaft.“

Ferdinand drehte sich seitlich zu seinem Onkel hin. Dabei vergaß er den Rotweinfleck. Er nahm die Hände vom Tischtuch. Seine Mutter schüttelte den Kopf und sagte streng: „Ferdinand!“ Der bekam einen roten Kopf und schaute verlegen zu Boden. Seine Schwester kicherte schadenfroh. Tante Anneluise erhob sich, nahm den Salzstreuer und schüttete Salz auf den Fleck, blickte ihren Neffen dabei strafend an.

Der Onkel fuhr von all den hektischen Aktivitäten um ihn herum unbeeindruckt fort. „Du wirst nach Schäftlarn gehen zu den Benediktinern. Ein gutes und strenges Internat. Angemeldet bist du schon. Es wird dir gefallen, vor allem aber wird es für deine schulische Entwicklung förderlich sein.“

Marianne grinste ihren Bruder unverschämt an. Ferdinand hatte plötzlich keine Lust mehr hinunter auf die Straße zu gehen. Er saß starr und steif auf seinem Stuhl.