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Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA), in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Der erste Schuss

Bis ans Ende der Fährte

Andere:

Heul doch den Mond an

Martin und Lara

Tage im Leben eines Feiglings

WERNER J. EGLI

DER FREMDE
IM STURM

Roman

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ISBN 978-3-03864-208-4

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

1. Kendra unter der Eiche

2. Der Nachbar

3. Der Fremde

4. Nach dem Sturm

5. Bayouland

6. Spuren im Sumpf

7. Pointe au Chien

8. Alte Bekannte

9. Der rote Faden

10. Überlistet

1. Kapitel

Kendra unter der Eiche

Luc Bodine musste sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen, damit er überhaupt vorankam und nicht von den Beinen geblasen wurde.

Es war nur ein kurzes Wegstück vom kleinen Schuppen, in dem die Geräte und die Werkzeuge und eine ganze Menge Gerümpel untergebracht waren, bis zum Haus, zwanzig Schritte vielleicht, aber der Sturmwind, der durch die Wälder fauchte, als wollte er die Bäume mit aller Gewalt aus dem Sumpf reißen, in dem sie schon eine Ewigkeit den schrecklichsten Stürmen getrotzt hatten, kam ihm direkt entgegen.

Luc zog den Kopf tief in den Kragen seiner alten Öljacke, die einmal seinem Vater gehört hatte, und ging zur Rückseite des Hauses, die etwas windgeschützt war. Hier richtete er sich erst einmal auf, um sich zu vergewissern, dass die Leiter noch immer an der Bretterwand lehnte und nicht vom Wind weggetragen worden war, als wäre sie gar keine richtige Leiter, sondern nur ein Spielzeug. Die Leiter stand noch da und ragte mit dem oberen Ende über den Rand des Schrägdaches hinaus in den bleigrauen Himmel, der sich so tief und schmutzig über das Land gelegt hatte, dass die kahlen Spitzen der größten Zypressen in ihm verschwanden. Sogar die mächtigsten der alten Bäume zitterten und wankten. Der Wind peitschte das Wasser des Sumpfes auf und trieb salzige Sprühnebel vom Golf her über den Petit Catfish Lake und die Bucht des Bayou La Hache, an der das kleine Haus stand. In Wellen fegten die heftigen Böen durch die Felder von Riedgras, in denen tausende von Wildvögeln Zuflucht gesucht hatten. Manchmal flatterten die ängstlichsten unter ihnen erschreckt auf, wurden vom Wind erfasst und schossen durch die Luft, als hätten sie gar keine Flügel.

Luc packte den Teerkübel, den er aus dem Schuppen geholt hatte, fester am Henkel, rüttelte zur Vorsicht noch einmal an der Leiter und stieg dann langsam Sprosse um Sprosse hinauf. Als er den Kopf über den Rand des Daches schob, traf ihn der Wind so hart, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und nach hinten von der Leiter gefallen wäre. Doch es gelang ihm im letzten Moment, sich mit der linken Hand an einem der Dachbretter festzuhalten, auf denen die Wellblechstücke und die Dachpappe festgenagelt waren. Links von ihm hatte einer der vergangenen Stürme ein Stück Dachpappe weggerissen, und obwohl seine Großmutter ihn immer wieder ermahnt hatte, das Dach auszubessern oder wenigstens die Fugen zwischen den Brettern mit Teer zu verschmieren, war er nie dazu gekommen. Jetzt wünschte Luc, er hätte die Arbeit nicht bis zum heutigen Tag aufgeschoben.

Niemand, der nicht absolut verrückt war, kletterte bei solch einem Wetter auf das Giebeldach einer windschiefen Hütte, die auf Pfählen stand und bei jedem Windstoß ächzend zu wimmern anfing, als hätte sie eine zu Tode verängstigte und gequälte Seele.

Im Bayouland war bei diesem Wetter kein wirkliches Lebewesen unterwegs.

Luc kletterte aufs Dach und er blieb auf einem Stück Wellblech liegen, das rot bemalt war, weil es einmal zu einem Coca-Cola-Reklameschild an der Hauptstraße gehört hatte, als es in Ville-St-Marie noch eine Kneipe gegeben hatte mit einem Coca-Cola-Automaten neben der Eingangstür auf dem Vorbau, auf dem immer die Alten hockten und in die Sumpfwälder hinaus starrten, als warteten sie darauf, dass irgendwann einmal wie aus dem Nichts die Schatten der Vergangenheit zurückkehrten, um sie wegzuholen von Ville-St-Marie, wo tagein, tagaus nie etwas passierte.

Jetzt gab es die Kneipe nicht mehr und Payette hatte das Wellblech herausgebracht und er hatte zu Luc Bodines Großmutter gesagt, dass es sich ganz gut dazu eignen würde, ein Stück des Hausdaches abzudecken, wo das Holz schon verrottet war.

Luc lag flach auf dem Bauch und versuchte den kleinen Blecheimer mit einem Schraubenzieher aufzumachen, aber der runde Deckel war derart mit Teer verschmiert, dass es ihm nicht gelingen wollte. Außerdem zerrte der Wind an ihm und das ganze Haus schwankte auf den alten, morschen Pfosten, die sechs Meter tief im Boden steckten. Als Luc sein rechtes Bein anzog, um einen besseren Halt zu finden, schlug ihm ein loses Stück Wellblech gegen das Knie. Luc rutschte mit dem Schraubenzieher in der Fuge zwischen Blecheimer und Deckel aus. Der Schraubenzieher fiel ihm dabei aus seinen Fingern und rollte langsam über die zerrissene Dachpappe auf den Rand des Daches zu. Blitzschnell griff Luc nach ihm, verfehlte ihn aber und gab ihm dabei ungewollt noch einen Schubs, so dass er noch schneller ins Rollen kam und schließlich über den Dachrand auf eine Sprosse der Leiter fiel und von dort auf den Boden.

Luc drehte sich so weit herum, dass er mit einer Hand die Leiter festhalten konnte. Vorsichtig richtete er sich ein wenig auf. Es hatte keinen Sinn, in der Hosentasche nach seinem Messer zu suchen; er wusste, dass es in seinem Zimmer auf dem Fensterbrett lag. Dort hatte er es heute Morgen hingelegt, nachdem er aus lauter Langeweile so lange damit herumhantiert hatte, bis er sich in den Daumen seiner rechten Hand schnitt.

So blieb ihm jetzt nichts anderes übrig, als noch einmal die Leiter hinunterzusteigen und den Teereimer mitzunehmen, damit er ihn auf sicherem Boden und im Windschatten des Hauses aufmachen konnte. Schon tastete er mit dem linken Fuß nach der obersten Sprosse der Leiter, als sein Blick auf eine kleine dunkle Gestalt fiel, die im düsteren Zwielicht unter einem der mächtigen alten Eichenbäume stand, zwischen denen der schmale Pfad vom Deich her durch den Sumpf zum Haus führte.

Luc verharrte mitten in der Bewegung. Ungläubig blickte er zum Pfad hinüber und eigentlich erwartete er, dass sich die Gestalt von einer Sekunde auf die andere in Luft auflösen würde, da es sich bestimmt bei ihr nicht wirklich um ein Lebewesen handeln konnte, sondern nur um ein Trugbild, aber die Gestalt blieb still dort stehen, unter den weit ausladenden verbogenen Ästen des Baumes, von dem grünlich grau und beinahe silbern schimmernd die langen Moosbärte herunterhingen und im Wind flogen.

»Kendra«, sagte Luc leise. »Bist du das wirklich?«

Luc hob die Hand und wollte ihr ein Zeichen geben, schnell nach Hause zu laufen, aber dann fiel ihm ein, dass ja sein Schraubenzieher unten lag, und wenn es ihm gelang, Kendra herbeizulocken, konnte sie ihm das Werkzeug aufs Dach werfen und er brauchte nicht hinunterzuklettern und dann noch einmal hinauf.

»Kendra!«, rief er, »komm her, wenn du das wirklich bist! Hörst du, bleib nicht einfach dort stehen! Komm her, ich brauche deine Hilfe!«

Eigentlich erwartete Luc gar nicht, dass Kendra herkommen würde. Sie war noch nie hergekommen. Er hatte es schon oft versucht. Mit allen möglichen Tricks. Nie hatte einer geklappt. Kendra war misstrauisch. Kendra war scheu. Ängstlich. Er solle sie in Ruhe lassen, hatte seine Großmutter geraten. Kendra fürchtete sich vor ihm, selbst wenn es dafür keinen Grund gab. Vielleicht hatte ihr einmal jemand etwas Böses angetan, früher, als ihr Vater noch zu Hause gewesen war, bevor er von einer Fahrt mit seinem Boot nicht mehr zurückkehrte. Und bevor ihre Mutter mit einem Piraten abgehauen war, was natürlich überhaupt nicht stimmen konnte, weil es seit über hundert Jahren keine Piraten mehr gab, sondern nur noch Gerüchte und Hirngespinste.

Aber nicht einmal Luc war sicher, dass es wirklich nur Hirngespinste waren, über die die Menschen in dieser abgelegenen Gegend hinter vorgehaltener Hand redeten. Nicht alles ging hier im Bayou-Land mit rechten Dingen zu. Nicht alles war so wie es schien. Luc war in diesem Moment nicht einmal sicher, ob es tatsächlich Kendra war, die dort drüben stand, mit ihrem vom Wind zerzausten Haar und dem finsteren Gesicht.

»Kendra!«, rief Luc, so laut er konnte. Der Wind trug seine Stimme ganz bestimmt bis zu ihr hinüber. Es waren ja nicht mehr als etwa hundert Meter zwischen dem Haus und der Wegkrümmung, wo dieser mächtige, uralte Baum mit seinen verwitterten Moosbärten stand. Luc konnte trotz der schlechten Sicht, trotz des düsteren Zwielichtes und des Sprühnebels ganz deutlich erkennen, dass Kendra direkt zu ihm herauf blickte und dass sie barfuß war und nichts anderes trug als ein graues Kleid und eine Schürze.

»Komm her, Kendra!«, rief Luc. »Der Schraubenzieher ist vom Dach gefallen und ich brauche ihn dringend, damit ich diesen Teereimer hier aufmachen kann. Bald wird es zu regnen anfangen und es wird einen Sturm geben und dann solltest du zu Hause sein. Bestimmt suchen sie alle schon nach dir, Mr. Payette und Mr. Allan, und wenn sie dich nirgendwo finden, werden sie die Polizei in der Stadt alarmieren und alle werden sich ganz furchtbare Sorgen machen um dich und in den Wäldern mit Hunden nach dir suchen.«

Kendra rührte sich nicht vom Fleck. Regungslos stand sie da und starrte ihn an. Und obwohl sie nie näher gekommen war, wenn er sie dazu aufgefordert hatte, und es auch nie das geringste Anzeichen dafür gegeben hatte, dass sie ihm mehr vertraute als allen anderen, hatte Luc jetzt das Gefühl, als wollte sie herkommen. Er streckte seine freie Hand aus. »Komm, Kendra!«, rief er. »Schau, gleich beginnt es zu regnen und ich bin sicher, dass Großmutter nichts dagegen hat, wenn du bei uns bleibst, bis Mr. Payette herkommt, um dich abzuholen. Du brauchst dich vor ihr nicht zu fürchten, sie ist manchmal kratzbürstig wie ein alter Besen, aber…«

»Luc!«

Die Stimme seiner Großmutter drang messerscharf durch das Dach. »Luc, mit wem redest du dort draußen?«

»Mit niemandem! Ich bin hier oben auf dem Dach.«

»Luc, sieh zu, dass du weitermachst, damit es mir nicht ins Bett regnet, wenn der Himmel seine Schleusen öffnet.«

Luc winkte zu Kendra hinüber und verrenkte sich beinahe den Arm, um ihr deutlich zu machen, dass sie entweder herkommen oder nach Hause laufen sollte. Und wenn sie sich dazu entschied, nach Hause zu laufen, dann sollte sie es schnell tun, denn der Himmel über den Baumwipfeln wurde dunkler und dunkler und der Wind nahm ständig an Stärke zu.

Luc sah ein, dass es keinen Sinn hatte, auf Kendras Hilfe zu warten. Er tastete mit dem anderen Fuß nach der nächsten Sprosse, während er gleichzeitig den Kopf nach Kendra drehte, um zu sehen, ob sie noch dort unter dem alten Baum stand. Als er das Gewicht verlagerte, rutschte die Leiter mit einem plötzlichen Ruck ein Stück zur Seite. Lucs Fuß verfehlte die nächste Sprosse und er geriet aus dem Gleichgewicht. Da er sich noch immer mit einer Hand an der Leiter festhielt, zog er diese mit sich und sie prallte zum Glück unter dem Dachvorsprung gegen die Bretterwand, bevor sie endgültig umfiel. Luc landete neben einer Regenwassertonne auf einer Stelle des Bodens, die hart getreten war, weil hier der Pfad vorbeiführte, der beim Klohäuschen, etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt, endete. Er schlug so hart mit dem Kopf auf, dass er im ersten Moment glaubte, er würde die Besinnung verlieren. Es wurde ihm richtig schwindlig, und als er sich aufrappeln wollte, drehte sich alles vor seinen Augen: das Haus auf den schwarzen dicken Pfählen, die mächtigen ineinander verschlungenen Bäume mit den Moosbärten, an denen der Wind zerrte, als wollte er sie ihnen abreißen, der Himmel, an dem sich die finsteren Wolken jagten und ineinander schoben, die Sprühnebel, die sich aus dem Sumpf hoben wie Rauch, der aus der Hölle aufsteigt.

Schwankend kniete Luc neben der Leiter am Boden und da fiel ihm Kendra ein. Er wandte sich nach ihr um und er sah, wie sie davonlief, den Pfad zurück, den sie gekommen war. Sie rannte, so schnell sie konnte, und ihr Rock flog hinter ihr her, und dann war sie auch schon hinter der Wegkrümmung verschwunden.

Luc verharrte eine Minute oder zwei auf den Knien, bevor er sich vorsichtig erhob. Der Teereimer lag einige Schritte entfernt am Boden. Beim Aufprall war der Deckel aufgesprungen. Der schwarze, zähe Bitumenbrei lief heraus. Luc stellte die Leiter auf, nahm den Eimer beim Drahthenkel, der nun mit Teer verschmiert war, und stieg noch einmal aufs Dach. Mit Hilfe eines Stückes Holz bepflasterte er die Stelle, wo die Dachpappe fehlte, mit Teer, achtete vor allem darauf, dass die Risse im Holz mit der klebrigen, schwarzen Masse vollkommen abgedichtet waren, und als ihm der Wind die ersten Regentropfen ins Gesicht peitschte, war er mit seiner Arbeit fertig. Obwohl er sich beeilt hatte, um schnell wieder vom Dach herunterzukommen, blickte er zuerst noch einmal zum Pfad unter den moosbehangenen Bäumen hinüber.

Kendra war nicht mehr dort. Bestimmt lief sie den ganzen Weg nach Hause, ohne einmal anzuhalten, verfolgt von den Wolken, die der Wind in Fetzen durch das knorpelige Geäst der Bäume trieb.

Vom Dach aus konnte er nur ein Stück des Pfades sehen. Weiter hinten verschwand er im Halbdunkel, als führte er hinaus in die verbotene Welt der Geister. Aber Luc wusste, dass er dem Deich folgte bis zur Brücke über den Bayou La Pluie, wo sich Mr. Payettes Farm befand und wo Kendra seit etwa einem Jahr zu Hause war. Natürlich führte der Pfad von dort aus noch weiter. Hinter der Brücke war er eigentlich kein Pfad mehr, sondern eine richtige Straße, die sogar asphaltiert worden war, als man den Deich gebaut hatte, um das große Sumpfgebiet zwischen dem Bayou La Pluie und dem Bayou La Hache und der Golfküste abzuholzen und trockenzulegen, damit es als Farmland oder als Viehweide benutzt werden konnte. Es waren ungefähr sieben Kilometer bis zur Payette Farm und zum Bayou La Pluie, über den man eine Eisenbrücke gebaut hatte, und von der Brücke waren es noch einmal zwei Kilometer bis zum Dorf Ville-St-Marie und vom Dorf führte die Straße nach Norden durch die Reisfelder und die Viehweiden und die Sumpfwälder bis zur Hauptstraße nach Houma und weiter nach New Orleans, der großen Stadt, von der Luc nur wusste, dass sie vorhanden war, weil ab und zu der Himmel über den Baumkronen schmutzig wurde, obwohl die Sonne schien.

Luc kletterte vom Dach, brachte die Leiter und den Eimer in den Schuppen und wusch sich mit Kerosin den Teer von den Händen. Aus den Fenstern des Hauses fiel schwacher Lichtschein und aus dem langen Blechrohr über dem Dach stieg jetzt Rauch. Seine Großmutter hatte Feuer gemacht und bestimmt war sie dabei, das Abendessen zuzubereiten. Es würde heute früher als sonst dunkel werden. Wenn der Sturm nur nicht mitten in der Nacht die Küste erreichte. Es war schon schlimm genug, am Tag auf ihn zu warten und nicht zu wissen, wann er kommt und wo er durchziehen würde. In der Nacht war es noch viel schlimmer. Kaum jemand würde schlafen können, solange die Gefahr spürbar war.

Großmutter würde die halbe Nacht beten. Vielleicht sogar die ganze Nacht. »Es lohnt sich zu beten, Lucien«, würde sie sagen, wenn er die Kerze ausblies und still in seinem Bett lag und darauf wartete, dass die ersten Blitze aufzuckten und das Krachen des Donners den Lärm des Windes übertönte.

Luc ging mit dem Milcheimer zum Schuppen hinüber, um nach den Schweinen und der Ziege Della zu sehen. Die Schweine lagen dicht beisammen in ihrem Pferch und schienen überhaupt nicht unruhig zu sein, aber Della stand unter dem vorstehenden Schrägdach des Schuppens vor der Tür des kleinen Stalles. Als Luc zum Zaun kam, meckerte sie ihn an und er öffnete ihr die Stalltür und ließ sie hinein, um sie im Trockenen zu melken. Bevor er zum Haus ging, vergewisserte er sich, dass Della genug Wasser hatte, und er schüttete ihr Mais in den Futtertrog und füllte die Raufe mit Heu, von dem mehrere Ballen im Schuppen gelagert waren. Ganz schwach vernahm er entferntes Donnergrollen, als er mit dem vollen Milcheimer den Schuppen verließ.

Es war jetzt schon beinahe dunkel.

2. Kapitel

Der Nachbar

Lucs schwarze Gummistiefel waren derart voll Dreck, dass er sie auszog, bevor er die drei Stufen zur Veranda hinaufstieg. In seinen dicken Wollsocken, die Stiefel in der Hand, betrat er den kleinen Vorraum des Hauses, in dem seine Großmutter ein Stück Karton auf den Holzboden gelegt hatte, damit sie beide ihre schmutzigen Schuhe oder Stiefel hinstellen konnten, ohne den Boden dreckig zu machen. Er hängte seine nasse Jacke auf einen der Drahthaken neben den fleckigen Regenumhang seiner Großmutter und öffnete die Tür, die in die große Wohnküche führte.

»Ich habe dir eine heiße Schokolade gemacht, und wenn du dich beeilst, kriegst du auch ein Stück Kuchen«, sagte seine Großmutter, während sie mit einem Eisenhaken im Herd herumstocherte, damit die Asche durch den Rost fallen konnte. Es war warm im Haus. Über dem Tisch brannte die Petroleumlampe und spendete ein heimeliges Licht, in dem der Raum kleiner wirkte, als er tatsächlich war. Alex lag in seiner Kiste neben dem Ofen, der gleichzeitig der Kochherd war. Erst ein Mal, früh am Morgen, noch bevor die ersten Wolken über den Baumwipfeln auftauchten, war Alex draußen gewesen. Jetzt öffnete er nur ein Auge, als Luc hereinkam, und sein Schwanzstummel bewegte sich zwei- oder dreimal so zaghaft hin und her, als fürchtete er, Luc würde ihn noch einmal hinausschicken, damit er sein Geschäft verrichten konnte, bevor es ganz dunkel wurde und sich der Sturm in einen Hurrikan verwandelt hatte.

»Angsthase«, sagte Luc leise, als er am Herd vorbeiging, und Alex machte das Auge schnell wieder zu.

Luc setzte sich an den Tisch, den er im Sommer dick mit meergrüner Farbe angestrichen hatte.

»Ich hätte das Holz für den Herd schon hereingebracht«, sagte er. »Es ist in der letzten Stunde unwahrscheinlich kalt geworden, Grandma. Glaubst du, dass es ein richtiger Hurrikan wird?«

Die alte Frau legte noch ein Scheit in die Flammen, machte das Ofentürchen mit dem Haken zu und erhob sich ächzend.

»Es wird ein Hurrikan, ganz bestimmt, Luc«, sagte sie. »Ich spür es ganz deutlich in meinen Gliedern. Das letzte Mal, als ich diese Schmerzen hatte, war es ein Hurrikan und er hat das Haus von Savoie L‘Ecuyer zerstört und bei Payette ist das Dach vom Stall auf die Tiere heruntergefallen und es sind zwei seiner Schweine ums Leben gekommen und sein bester Hund hat sich ein Bein gebrochen. Das war vor zwei Jahren und du erinnerst dich bestimmt, weil ich damals über die gleichen Schmerzen gejammert habe, nur sind sie heute noch etwas schlimmer, weil meine Knochen zwei Jahre älter und morscher geworden sind.«

Mrs. Bodine ging zum Küchenschrank und nahm den Maiskuchen heraus, den sie am Nachmittag gebacken hatte.

»Er ist wunderbar aufgegangen und noch warm«, sagte sie. »Man sollte ihn nicht warm essen, obwohl er so am besten schmeckt. Du riechst nach Kerosin, Luc. Ich werde dir den großen Bottich voll mit Wasser machen, damit du dich baden kannst. Wer weiß, wie lange wir im Haus eingesperrt sein werden, und wenn etwas an mir noch funktioniert wie eh und je, dann ist es meine Nase.«

Sie setzte sich Luc gegenüber an den Tisch und goss heiße Schokolade in seine Tasse. Ihre eigene Tasse füllte sie mit Kaffee aus einer Kanne, die den ganzen Tag auf dem Herd stand, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten im Bayouland, die ihren café noir dick und schwarz tranken, mochte sie ihn am liebsten mit viel Zucker und Milch und manchmal tat sie ein bisschen Kakaopulver hinein. Luc war schon so lange mit seiner Großmutter zusammen, dass er alle ihre Eigenarten kannte und oft schon im Voraus wusste, was sie im nächsten Moment tun oder sagen würde. Zum Beispiel sagte sie schon seit Jahren immer, wenn sie einen Maiskuchen aufschnitt, dass es vielleicht ihr letzter sei, weil sie mit ihrem Gelenkrheumatismus einfach nicht mehr die Kraft aufbringen könne, den Teig so lange umzurühren, dass er im Ofen dann richtig aufgehen konnte.

»Lass dir dieses Stück Kuchen zum Wohle sein, Luc«, sagte sie auch dieses Mal, als sie ihm ein Stück auf den Teller legte. »Ich glaube nicht, dass ich noch einmal die Kraft dazu aufbringe, einen zu backen.«

»Ich könnte für dich den Teig umrühren, wenn ich da bin«, sagte Luc.

»Ja, das könntest du. Aber ich weiß nicht, ob es dasselbe wäre.«

»Natürlich wäre es dasselbe. Mrs. Payette hat sogar eine Maschine, mit der sie den Teig umrührt.«

Mrs. Bodine blickte auf und auf ihrer Stirn, direkt über der Nase, entstanden zwei tiefe, steile Falten.

»Willst du damit etwa sagen, dass ihr Kuchen genauso wunderbar aufgeht und so schmeckt wie meiner?«

Luc schüttelte den Kopf. Selbst wenn es so gewesen wäre, er hätte es ihr niemals sagen können, denn er wusste, dass seine Großmutter auf ihre Koch- und Backkünste genauso stolz war wie auf die Sauberkeit in ihrem Haus.

»Natürlich nicht, Grandma«, sagte er deshalb. »Dein Kuchen ist der beste weit und breit im Bayouland. Das wissen alle.«

Die Falten verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Nur einmal, vor etwa einem Jahr, hatte er den Fehler gemacht und ihr gesagt, dass er die beste Tabasco- und Kräutersauce aller Zeiten bei Mrs. Payette gegessen hatte, und zwar über Katzenwelsfilets und Krabbenfleisch, und da hatte Mrs. Bodine vier Wochen lang bei Tisch kein Wort mit ihm gesprochen.

Während Luc den noch warmen Kuchen verschlang, dachte er daran, ihr zu sagen, dass Kendra draußen gewesen war, aber sie hätte sich bestimmt nur Sorgen um das Mädchen gemacht. Und Kendra befand sich bestimmt längst in Sicherheit.

Während draußen der Sturm tobte, war es im Haus, bis auf das Knistern des Herdfeuers, vollkommen still und friedlich. Solange sie am Tisch saßen, wurden sie von Alex mit einem Auge teils schläfrig, teils wachsam beobachtet. Maiskuchen gehörte nicht zu seinen Lieblingsspeisen, obwohl er nahezu alles aß, was vom Tisch kam.

Der Sturmwind nahm von Minute zu Minute zu. Manchmal rüttelte er heftig an der Tür und an den Läden, mit denen die Fenster vermacht waren. Manchmal schien es sogar, als wollte er das Haus packen und von den Pfählen reißen, die Mr. Bodine vor mehr als fünfzig Jahren in den Boden gerammt hatte. Luc hätte gerne das Transistorradio eingeschaltet, das auf einer alten, handgeschnitzten Kommode stand, aber er wusste, dass seine Großmutter es ihm verbieten würde. »Im Radio hört sich alles immer viel schlimmer an, als es in Wirklichkeit ist«, würde sie sagen. »Früher, als hier noch niemand ein Radio hatte, kamen und gingen die Stürme so schnell, dass wir oft kaum dazu kamen, uns im richtigen Moment zu ducken. Jetzt ist das anders. Jetzt sagen sie uns zwei Wochen im Voraus, wo der Sturm entsteht, wo er überall durchzieht und wie viele Menschen er auf seinem Weg umbringen wird. Als ob jemand hier vor einem Hurrikan davonlaufen könnte.«

Sie hatte Recht. Niemand hier hätte sein Hab und Gut im Stich gelassen, nur weil ein Sturm im Anzug war, der vielleicht irgendwo auf Kuba oder in Zentralamerika schon hunderte oder gar tausende von Menschen obdachlos gemacht oder sogar um ihr Leben gebracht hatte. Stürme kamen und gingen seit ewigen Zeiten. Manche wüteten außer Rand und Band, bis sie alles zerstört hatten, was ihnen in den Weg geriet, andere hatten sich woanders schon ausgetobt. Sie kamen jeden Herbst und den gewaltigsten von ihnen hatte man Namen gegeben. Audrey, zum Beispiel, ein Hurrikan, von dem die alten Leute heute noch redeten, weil er allein im Cameron Parish fünfhundertvierundvierzig Menschenopfer gefordert hatte. Oder Betsy, der vor einigen Jahren genau über dem Mississippidelta an Land kam und mit Windgeschwindigkeiten von zweihundert Kilometern in der Stunde den Strom entlang nordwärts raste, bevor er sich schließlich im Inland beruhigte.

Es hatte wirklich keinen Sinn, sich vom Radio in Angst und Schrecken versetzen zu lassen. Der Sturm kam so oder so, ob man nun jammerte oder nicht. Wer sich rechtzeitig in Sicherheit brachte, konnte ihm später hinterher lachen.

Der große Holzbottich, der niemals zum Waschen der Bisamratten- und Nutriafelle benutzt worden war, sondern nur zur Körperreinigung, stand bei der Hintertür des kleinen Vorraumes auf einer Plastikplane, randvoll mit heißem Wasser. Solange Luc zurückdenken konnte, badete er jede Woche einmal in diesem Bottich. In einem Fotoalbum im Schrank gab es sogar ein Chamois Bild mit gezacktem Rand, das ihn mit Seifenschaum bedeckt im Bottich stehend zeigte, eine Gummiente in der linken Hand. Hinter ihm, an der Bretterwand des Hauses, war der Schatten der Frau, die das Foto gemacht hatte. Früher hatte Luc das Foto oft lange angesehen, bis im Schatten ein Gesicht entstand, und obwohl er sich nicht mehr an seine Mutter erinnern konnte und es im Haus nicht ein einziges Bild von ihr gab, erschien ihm im Schatten an der Bretterwand immer dasselbe Gesicht.

Luc dachte an das Bild, während er mit angezogenen Beinen im Bottich hockte. Wie oft hatte er früher gedacht, dass er einmal das Bayouland verlassen würde, um seine Mutter zu suchen. Fast keine Nacht war vergangen, in der er sich vor dem Einschlafen nicht vorgestellt hatte, wie er eines Tages vor seiner Mutter stehen würde, irgendwo draußen in der Welt, in New Orleans vielleicht oder in einer anderen Stadt, weiter entfernt, in San Francisco oder in Seattle oder wo immer sie auch sein mochte. Jetzt waren all die Jahre vergangen und er hätte heute oder morgen einfach weggehen können, aber er wusste nicht, wohin, und er fürchtete, dass er sich in der Welt, in der ihm alles fremd war, genauso verirrt hätte wie seine Mutter.

Dass sich seine Mutter dort draußen verirrt hatte, war für Luc eine unumstößliche Tatsache. Wie sonst hätte er sich erklären sollen, dass sie nie mehr den Weg zurück gefunden hatte, obwohl sie wissen musste, wie sehr sich Luc nach ihr sehnte.

Außerdem konnte er seine Großmutter nicht einfach verlassen, auch wenn es Leute im Bayouland gab, die sagten, dass Mrs. Bodine mit ihrem Gelenkrheuma in einem Heim für pflegebedürftige Alte besser aufgehoben wäre als in ihrem kleinen Haus zusammen mit einem Jungen, der nun alt genug war, sein eigenes Leben zu führen.

Luc schmierte sich Seife ins Haar. Der kleine Vorraum war voll mit Dampf, der nicht abziehen konnte, weil die Tür und das kleine Fenster zu waren. Im anderen Raum war Mrs. Bodine dabei, das Abendessen vorzubereiten. Luc hörte, wie sie mit dem Kochgeschirr herumhantierte.

Mit seinen Gedanken bei seiner Mutter, verbrachte Luc fast eine Stunde im Bottich, bevor er sich erhob. Das Wasser war schon fast kalt geworden. Er rieb sich mit einem Tuch trocken, zog eine frische Hose und ein frisches Hemd an. Sein dunkles, strähniges Haar klebte an seiner nassen Stirn, als er in die Wohnküche zurückkam, wo Mrs. Bodine dabei war, ein Stück Schweinefleisch in Stücke zu schneiden.

»Lass das Wasser nur im Bottich, Luc«, sagte sie. »Du kannst es morgen ausschütten, wenn der Sturm vorbei ist.«

»Glaubst du, dass er länger anhalten wird?«

»Das kann gut sein. Vielleicht ist es nicht nur ein Hurrikan. Vielleicht ist es schlechtes Wetter, das eine Weile anhalten wird. So wie vor zwei Jahren im Herbst, als das ganze Land im Wasser unterging und wir nicht wussten, ob es die Sintflut ist oder ob es einmal aufhört zu regnen.«

»Wir waren eine Woche lang von allen Nachbarn und vom Dorf abgeschnitten, Grandma«, erinnerte sich Luc. »Und beinahe hatten wir nichts mehr zu essen, weil das Mehl nass wurde und unsere Vorräte zu Ende gingen. Zum Glück kam Mr. Payette in seiner Piroge heraus und brachte uns Lebensmittel, die die Payettes entbehren konnten.«

»Wir hätten es auch ohne …« Mrs. Bodine brach ab, als Alex plötzlich den Kopf hob und die Ohren spitzte. Im nächsten Moment rannte er zur Tür, die in den Vorraum führte. Dort blieb er stehen und wedelte mit seinem Stummelschwanz.

»Das kann nur Payette sein«, sagte Mrs. Bodine. Luc war schon im Vorraum und öffnete die Tür. Der Sturmwind riss sie ihm fast aus der Hand. Es war jetzt ganz dunkel draußen, aber das Scheinwerferlicht von Mr. Payettes Motorrad beleuchtete das kleine Haus auf den Pfählen. Luc wurde vom Licht geblendet und er konnte nur die Umrisse von Mr. Payette sehen, der auf seinem Motorrad saß, beide Füße auf den Boden gestellt.

»Mr. Payette, kommen Sie herein«, rief ihm Luc zu. »Grandma hat einen Maiskuchen gemacht!«

Mr. Payette fuhr bis an die Veranda heran. Der Sturm machte so viel Lärm, dass Luc kaum das Motorengeräusch des Zweizylinders vernehmen konnte. Als das Scheinwerferlicht ausging, wurde es dunkel. Mr. Payette stieg mit steifen Gliedern vom Motorrad und Luc trat zurück und gab die Tür frei, aber Mr. Payette blieb auf der Veranda stehen und schob die Motorradbrille von den Augen hinauf, bis sie über seiner Stirn auf der nassen Ledermütze ruhte.

»Wir dachten gleich, dass Sie es sind, Mr. Payette«, sagte Luc. »Alex hätte bei jeder anderen Person sofort wie verrückt losgebellt.«

Mrs. Bodine kam in den Vorraum.

»Herrgott, was ist nur los mit dir, Payette? Hat dich dein Weib aus dem Haus gejagt oder sind dir die Schweine davongelaufen? Komm herein und mach die Tür gut hinter dir zu. Dieser Sturm ist kein Gast, den ich gern im Haus haben möchte.«

»Ich kann mich nicht aufhalten, Azalea«, antwortete der große hagere Mann und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Augen.

»Aufhalten! Ich habe nicht gesagt, du sollst dich hier lange aufhalten, Payette, aber ich habe frischen Kaffee für dich und ein Stück Maiskuchen. Komm wenigstens in den Vorraum. Mit deinen Dreckstiefeln lass ich dich sowieso nicht in die Küche.«

Mr. Payette trat ein und Luc machte hinter ihm die Tür zu. Das Licht in der Wohnküche beleuchtete das scharf geschnittene Gesicht mit den dunklen Augen und der großen Hakennase. Die Kleider des Farmers waren über und über mit schwarzem Dreck bedeckt. Selbst sein Gesicht war schwarz, bis auf die Stelle um die Augen, die von seiner Motorradbrille geschützt gewesen war.

»Ich bin hierhergekommen, weil Kendra nicht zu Hause ist«, sagte er. »Ich dachte, vielleicht ist sie bei euch, weil der Sturm so plötzlich kam und sie sich zu weit von zu Hause entfernt hat.«

»Warum sollte Kendra zu uns kommen? Payette, du weißt doch, dass sie sich vor anderen Leuten fürchtet.«

»Das stimmt. Sie fürchtet sich vor den meisten Leuten.« Mr. Payette blickte Luc an. »Nur vor dir hat sie, glaube ich, keine Angst, Luc.«

»Ich glaube nicht, dass Kendra hier war«, sagte Mrs. Bodine. »Warte, ich hole dir eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, damit du …«

»Ich will mich lieber wieder auf den Weg machen«, wurde sie vom Farmer unterbrochen, noch bevor sie sich umdrehen und in die Wohnküche gehen konnte.