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Martina Hoblitz

Mit dem Herzen sehen


Für alle, die mit einem Handikap leben müssen.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

MIT DEM HERZEN SEHEN

 

 

von Martina Hoblitz

 

 

Kapitel 1

 

 

 

„Autsch! – Welcher Idiot hat denn wieder das Mischpult umgestellt? Ich soll mir wohl die Knochen brechen?!“

 

Howard war mehr als wütend, als er sich das Knie rieb, mit dem er an dem Gerät angestoßen war. Wenn er etwas hasste, dann dass Dinge die eigentlich ihren angestammten Platz hatten, auf einmal ganz woanders standen. Seine Wut war verständlich, denn Howard Doyle war blind! ---

 

Nicht von Geburt an, sondern durch einen schrecklichen Unfall als Teenager. Er und 2 Kommilitonen an der technischen Universität hatten ein (vom Professor verbotenes) Experiment durchgeführt, wobei es zu einer ungewollten Explosion kam, die Howard sein Augenlicht kostete.

 

Doch der junge Mann hatte einen starken Willen, ließ sich nicht unterkriegen und beendete sein Studium an einer speziellen Schule für Blinde und Sehbehinderte mit einem ausgezeichneten Examen. –

 

 

Nun war er seit 2 Jahren leitender Tontechniker und nebenbei schon ein recht bekannter Komponist für Filmmusik in den <Rainbow> Filmstudios, deren Inhaber und Produzent sein Vater Donald (Don) Doyle war.

 

Da erklang die fröhliche Stimme von Arnold: „Tschuldigung! Meine Schuld, Howie! Mein Glückskuli ist mir runter gerollt. Ich musste ihn suchen und hab vergessen, alles wieder richtig zu rücken.“

 

Arnold Green war Howards Assistent und sein bester Freund. Zudem hatte er noch eine besondere Aufgabe: er betätigte sich als sog. Geräuschemacher! Zwar konnten viele Hintergrundgeräusche im Film schon mechanisch hergestellt werden; aber eben nicht alle! Und für diesen geringen Rest war Arnold zuständig. – Außerdem zeigte er ein gutes Händchen bei der Auswahl passender Synchronstimmen, die sehr oft besser klangen als das Original. Manchmal war er aber auch mit Howard, der das absolute Gehör besaß, nicht einer Meinung und es entbrannte ein heiteres Streitgespräch zwischen ihnen. ---

 

Die beiden jungen Männer waren befreundet seit der High School und gingen später zusammen zur selben Universität. Howard konnte sich das Studium von Haus aus leisten (mit einem Vater als Studioboss und Filmproduzent im Hintergrund), wo hingegen sich Arnold (dessen Eltern eine Farm bewirtschafteten und außer ihm noch 5 Kinder hatten) den Zugang zum Studium nur durch ein Stipendium sichern konnte. – Beide Jungs waren sehr gesellig und immer von einer Menge junger Leute umgeben, männlich und weiblich. Das hörte schlagartig auf, als Howard seinen Unfall hatte. Danach blieb Arnold Howards einziger Freund. – Auch als sie sich kurzzeitig trennen mussten, weil Howard auf die Spezialschule ging, blieben sie weiter in regem Kontakt. Und als beide fast gleichzeitig ihren Abschluss machten, und Howard von seinem Vater ins Tonstudio bei <Rainbow> gesteckt wurde, holte der kurzerhand seinen Freund dazu. Zu guter Letzt zog Arnold sogar zu Howard und seinem Vater in den luxuriösen Bungalow in Beverly Hills.

 

 

An diesem Tag nun suchten sie die passende Synchronstimme für die Hauptdarstellerin in einem schwedischen Film; einer leicht frivolen Liebesschnulze. Wie immer hatte Arnold ein paar Stimmproben auf Band mitgebracht und begann nun mit seiner Beschreibung für Howard: „Mittelgroß – vollbusig – wohl gerundeter Hintern – gebärfreudiges Becken – lange, goldblonde, glatte Haare – himmelblaue Kulleraugen – herzförmiger Kussmund!“

 

Howard lachte schallend. „He, du sollst mir nicht deine Traumfrau beschreiben, sondern die Hauptdarstellerin!“ – „Genau das tu ich doch! Kann ich was dafür, dass dies Weib genau mein Typ ist? – Aber mal im Ernst. Typisch Schweden! Filmgenre: Softporno. Was kann man da erwarten?“ – „Reden die überhaupt in solchen Filmen?“ fragte Howard grinsend. „Für Stöhnen und Keuchen brauchst du nix Lebendiges. Das macht die Technik genauso gut.“

 

Darauf lachten die beiden jungen Männer herzlich und konnten sich lange nicht beruhigen. –

 

In diesen Heiterkeitsausbruch platzte ein rollender, leicht klappernder Etagenwagen, beladen mit gefüllten, mit Folie überzogenen Tellern und Schalen, sowie obenauf 2 große Pumpthermoskannen und Stapel von leeren Tassen. – „Mahlzeit!“ erklang eine glockenhelle weibliche Stimme durch einen Schleier blauschwarzer Haare, die an der linken Seite absichtlich ins Gesicht gekämmt waren. Trotzdem verbarg diese außergewöhnliche Frisur kaum das blaurote Feuermal, welches sich über die linke Schläfe bis beinah halb in die Wange zog. –

Gwendolyn Frazer schämte sich immer sehr für diese Verunstaltung ihres sonst recht hübschen Gesichtes. Besonders Männern gegenüber. Sie traute sich nie, andere Menschen direkt anzuschauen, sondern blickte immer so zur Seite, dass man nur ihre makellose Gesichtshälfte sah. Das machte ihre Mitmenschen im Umgang mit ihr oft unsicher, weil sie niemandem in die Augen schaute und umgekehrt Andere nie in ihre blicken ließ. Dabei waren diese so wunderschön warm und rehbraun!

 

Gwendolyn hatte diesen Makel von Geburt an und musste eigentlich daran gewöhnt sein. Doch in all den Jahren hatte sie nur gelernt, ihn so gut sie konnte zu verbergen, was ihr kaum gelang. Viel zu oft reagierten die Leute mit blankem Entsetzen, wenn sie diese unverhofft voll ansah. So als wäre sie eine Figur aus einem Horrorkabinett. – Selbst die eigene Familie strafte sie mit Nichtachtung, seit ihre 1 Jahr jüngere Schwester Brenda auf der Welt war! Die kleine Brenda war ein so niedliches, süßes Kind, dass die „hässliche“ Gwendolyn in ihrer Gegenwart glatt übersehen wurde. – Schon in der Schule wusste Brenda ihr blendendes Aussehen dazu einzusetzen, um stets ihren Willen zu kriegen. Wo hingegen Gwendolyn sich die Anerkennung der Lehrer nur durch ihren Fleiß und Ehrgeiz erkämpfte. Trotzdem nutzte sie ihren recht guten Schulabschluss nicht zur Weiterbildung, sondern besuchte eine Hauswirtschaftsschule. – Als sie diese beendet hatte, erhielt sie durch Zufall den Job im Catering der <Rainbow> Filmstudios, weil irgendein Filmmensch mit Einfluss im Hotel der Eltern logiert und sich besonders lobend über die Verpflegung geäußert hatte, für die Gwendolyn zu der Zeit verantwortlich war.---

 

 

Nun arbeitete Gwendolyn seit 3 Monaten im Catering, welches sie eigentlich nie verließ. Doch gerade an diesem Tag, als sie eine kranke Kollegin, die für den Verpflegungswagen zuständig war, vertrat, traf sie auf den einzigen Menschen in dem großen Studio, der ebenfalls ein körperliches Handikap hatte; der blinde Sohn vom Chef!

 

 

Zum Glück kannte Arnold das Mädchen Gwendolyn schon, da dieser Luftikus häufig in der Küche auftauchte, um zu naschen und mit den Küchenmädchen zu schäkern. Sein Verhalten gegenüber dem verschüchterten Fräulein war darum ganz ungezwungen, als er ihr zurief: „Hallo, da haben wir ja heut ´ne neue Esswagenchauffeurin! Tag, Gwennie! Was treibt Sie denn in unsre Gefilde?“ – „Guten Tag, Mr.Arnold! Ich bin heut nur die Vertretung. – Was möchten Sie denn von mir haben?“

 

Und Arnold scherzte: „Einen Thunfischsalat und einen Kuss, holde Maid!“

 

Gwendolyn wurde ganz verlegen und wagte zu entgegnen: „Es ist nicht nett von Ihnen, wenn Sie sich so über mich lustig machen!“

 

Plötzlich bemerkte Howard: „Arnie, alter Junge! Möchtest du mir nicht die junge Dame mit der wundervollen Stimme vorstellen?“

 

Seit Gwendolyn die ersten Worte ausgesprochen hatte, lauschte Howard angespannt. Was aus dem Mund des Mädchens kam, war kein normales Sprechen, sondern fast schon Gesang; so rein und melodisch. Howard war von ihrem Klang schlichtweg verzaubert!

 

„Howie, mein Lieber! Du lauscht der Stimme einer unsrer fleißigen Küchenmamsellen. Ms.Gwendolyn Frazer!“ – „Guten Tag, Mr.Doyle!“ grüßte das Mädchen schüchtern und ziemlich leise.

 

„Ach, sagen Sie doch einfach Howard zu mir, Ms.Gwendolyn!“ – „Gut, Mr.Howard! Was möchten Sie denn gern essen?“ – „Haben Sie Eiersalat?“ – „Aber sicher. Mit oder ohne Toast?“ – „Gerne mit. Und haben Sie Tee?“

 

Gwendolyn nickte und zählte an den Fingern ab: „Kamille, Pfefferminz, Hagebutte, Fenchel. Oder schwarzen, grünen, Früchte?“ – „So viel Auswahl?“ staunte Howard.

 

Worauf Gwendolyn achselzuckend erklärte: „Leider kein frischer. Alles nur Beutel.“

 

Sie sprach mit ihm mit Mimik und Gestik, als ob sie nicht wusste, dass er blind war. Doch natürlich wusste sie es! Jeder im Studio wusste, dass der leitende Toningenieur und Sohn vom Boss blind war. Deswegen schaute Gwendolyn ihm auch ganz ungezwungen ins Gesicht. Leider konnte sie durch die schwarze Brille die Farbe seiner Augen nicht erkennen. Wahrscheinlich waren sie dunkel, denn er hatte braune, lockige Haare. Aber das täuschte, und man erschrak sich leicht, wenn Howard mal die Brille abnahm. Denn seine Augen waren grau-blau und wirkten eisig, weil sie blicklos waren. –

 

 

Jedenfalls bekam Gwendolyn einen Riesenschreck, als Howard seinen Freund bat: „Beschreib mir doch bitte die junge Dame! Aber sei nicht unverschämt!“

 

Arnold lachte kurz auf und beschrieb sie dann ernst: „Also, Gwendolyn ist recht klein, bestimmt einen Kopf kleiner als du. Sie hat eine wohlproportionierte Figur mit weiblichen Rundungen an genau den richtigen Stellen.“

 

Gwendolyn wurde puterrot. Als Arnold begann, ihr Gesicht zu beschreiben, legte sie hastig ihren Zeigefinger auf ihre Lippen und bat mit flehendem Blick um Stillschweigen. So beschränkte sich Arnold auf die Ausdrücke: „Gesichtszüge ebenmäßig – warme, rehbraune Augen – wohl geformte Nase und fein geschwungene Lippen. Dazu pechschwarze, glatte, kinnlange Haare. Reicht dir das, Alter?“ – „Sehr gut beschrieben, Mann!“ lobte Howard lächelnd. „Ich seh Sie direkt vor mir. Und zu einer so wundervollen Stimme kann ja nur eine schöne Frau gehören.“

 

Wieder errötete Gwendolyn vor Verlegenheit und blickte zur Seite, wo das Bild der schwedischen Filmschönheit von einem Diaprojektor auf eine weiße Wand geworfen wurde. Erneut bat sie Arnold mit dem Zeigefinger auf den Lippen um Schweigen. Und plötzlich schien die Frau von der Wand zu sprechen: „Für welche Sorte haben Sie sich also entschieden, mein Herr?“

 

Aber mit was für einer Stimme?! Sie klang rauchig, tief und sehr erotisch. – Verblüfft fragte Howard: „Nanu? Wer sind Sie denn? Ich hab Sie gar nicht reinkommen hören. Und ich hör sonst sehr gut!“

 

Während Arnold vor unterdrücktem Lachen den Mund zusammen kniff, antwortete Gwendolyn, wieder mit ihrer eigenen Stimme: „Oh, entschuldigen Sie, Mr.Howard! Ich muss an einen Knopf geraten sein. Da lief plötzlich ein Tonband.“ – „Mensch, Arnold! War das eine von deinen Stimmproben? Die würde prima zu dem schwedischen Blondchen passen. Meinst du nicht auch?“

 

Arnold nickte, was Howard ja nicht sehen konnte, und antwortete mit erzwungener Gelassenheit: „Du sagst es, mein Lieber! Da bin ich ausnahmsweise deiner Meinung. Ich werd die Dame, zu der die Stimme gehört, ausfindig machen und sie vom Fleck weg engagieren.“ – „Tu das bitte! Die Frau ist perfekt! – Finden Sie nicht auch, Ms.Gwendolyn?“

 

Sie war verblüfft, als er sie so plötzlich ansprach und musste sich erst räuspern, ehe sie erwiderte: „Naja, ich kenn mich da nicht so aus. Aber wenn ich das Bild an der Wand seh, denk ich, das könnte passen.“

 

Und Arnold nickte heftig. Dann wandte sie sich direkt an ihn: „Also, Mr.Arnold, für Sie Thunfischsalat mit Toast und Milchkaffee, wie ich Sie kenne. Und für Ihren Freund Eiersalat mit Toast und schwarzen Tee, wenn ich das richtig rate.“ – „Stimmt genau!“ nickte Howard lächelnd. „Geben Sie ruhig alles Arnie. Der stellt’s mir dann hin, wo ich’s haben will.“

 

So machte es Gwendolyn und verabschiedete sich eilig. – Sie hatte noch nicht den Fahrstuhl erreicht, da stand Arnold neben ihr und rief begeistert: „Gwennie, was für ein Talent schlummert da in Ihnen? Können Sie auch noch andre Stimmen nachahmen?“ – „Ich weiß nicht genau.“ zuckte sie unsicher mit den Achseln.

 

„Das müssen wir unbedingt ausprobieren! Wann haben Sie Feierabend?“ – „Heute um 5.“ – „Sagen wir um 5.30 Uhr hier im Tonstudio?“ – „Wird Mr.Howard auch dabei sein?“ – „Ich glaub nicht. Er wollte heute früh nach Hause. Gestern Abend war’s sehr spät, schon Nacht, bis er endlich mit dem Ergebnis seiner Arbeit zufrieden war.“ – „Das ist gut so. Denn ich glaub, aus Dauer werd ich ihn nicht täuschen können.“ – „Aber eben ist es Ihnen doch gelungen! Er hat tatsächlich geglaubt, dass da noch ´ne andre Person ist.“

 

Nachdenklich fragte sie: „Haben Sie das mit dem Engagement ernst gemeint?“ – „Vollkommen ernst! Trauen Sie sich denn zu, diese Dame über den ganzen Film zu synchronisieren?“

 

Da schmunzelte Gwendolyn und erwiderte: „Hauptsache, sie redet nicht allzu großen Schwachsinn! Das würde mir etwas schwer fallen.“ – „Sie können sich den Text ja erst angucken, eh Sie sich entscheiden.“ – „Einverstanden. Aber jetzt muss ich weiter. Bis nachher!“

 

Und Gwendolyn verschwand schnell im Fahrstuhl, bevor Arnold noch irgendwas sagen konnte.