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Über dieses Buch:

Berlin in den Goldenen Zwanzigern: Als Tochter einer gefeierten Opernsängerin hat sich die junge Ursula nie Gedanken um den Luxus gemacht, der sie umgibt – oder diejenigen, die ihn durch ihre harte Arbeit jeden Tag ermöglichen. Doch das ändert sich, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter im mondänen Hotel Adlon absteigt. Hier begegnet sie Karl, einem einfachen Pagen. Trotz aller Standesunterschiede fühlt sie sich vom ersten Moment an zu ihm hingezogen. Aber kann diese zarte Liebe wirklich eine Zukunft haben? Als die beiden in den Wirren des Krieges auseinandergerissen werden und später der Mauerbau Deutschland spaltet, sieht es aus, als könnten Ursula und Karl nie zusammenfinden …

»›Eine Liebe im Adlon‹ ist ein ungemein bewegendes Buch, weil es von einer bedingungslosen, geduldigen und zeitlosen Liebe handelt, wie es sie nur ganz, ganz selten gibt.« WDR Buchtipp

Über die Autorin:

Anke Gebert studierte u.a. am Deutschen Institut für Literatur in Leipzig. Sie arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor sie in Hamburg an der Master School Film ein Drehbuch-Studium absolvierte.

Sie ist freie Autorin von Romanen, erzählenden Sachbüchern und Drehbüchern und gibt Seminare für fiktives und autobiografisches Schreiben. Für ihre Arbeiten erhielt sie diverse Preise.

Die Autorin im Internet: ankegebert.de

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eBook-Neuausgabe November 2016, Februar 2022

Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Die Summe der Stunden« bei S. Fischer und 2016 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2009 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Copyright © der Neuausgabe 2016, 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von

© shutterstock / Andrey Arkusha / Arelix / Red Umbrella and Donkey / urjanephoto / SSY.11 / Pocholo Calapre / canadastock / AR Pictures / Dimitris Leonidas

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95824-777-2

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Anke Gebert

Eine Liebe im Adlon

Roman

dotbooks.

Für Ralf

»Wer liebt, der entschuldigt alles,

er hofft und bangt,

er wartet und übt sich in Geduld.«

Irina Liebmann

Kapitel 1: 31. Dezember

Ursula steht am Fenster und sieht zum Brandenburger Tor. Sie fragt sich, wie oft sie dies in ihrem Leben bereits getan hat und wie oft in den Tagen zuvor. Und in den über siebzig Jahren, seit sie mit Karl zum ersten Mal im Adlon war. Das erste Mal, es ist Ursula, als wäre es erst kürzlich gewesen. Heute.

Auch wenn sie jahrelang nicht diese Aussicht vom Hotelzimmer aus aufs Brandenburger Tor gehabt hatte, war sie ihr immer möglich gewesen. Ursula hatte sich die vier überlebensgroßen grünen Pferde und die Kutscherin eingeprägt und diesen Anblick viel häufiger vor Augen gehabt, als sie tatsächlich an diesem Ort gewesen war.

Vor Ursulas Augen sammelt sich Wasser und lässt alles aussehen wie durch ein Kaleidoskop. Durcheinander. Schön. Schön und durcheinander. Sie denkt nicht an das, was Karl ihr aufgetragen hat.

Er sitzt hinter ihr. Ursula dreht sich nicht um zu ihm. Er soll sie so nicht sehen. Sie will ihn so nicht sehen. Noch nicht.

Sie blickt hinaus. Schneeflocken fallen herab. Die ersten in diesem Jahr. Nun wird es wohl doch noch kalt, eher als vermutet, denkt Ursula.

Sie hat diese Aussicht, die ihr plötzlich weniger vertraut vorkommt als all die Male zuvor. Bühnen für Rockbands werden aufgebaut, die Imbissbuden für Millionen Gäste, die hier ins neue Jahr hineinfeiern möchten. Feuerwerk.

Ursula sieht, was sie hier erlebt hat mit Karl. Jetzt. Damals. Wie durch ein Kaleidoskop. Durcheinander. Schön. Zum Beispiel das Weihnachtsessen, das sie und Karl vor ein paar Tagen im Restaurant Quarre genossen haben, mit Ausblick aufs Brandenburger Tor. Was ihr noch alles einfällt. Schönes. Durcheinander will Ursula nicht sein. Sie wird die Blicke ordnen, die Gedanken und das, was zu tun ist, bevor sie sich umdreht – zu Karl.

Kapitel 2: 18. Dezember

Schneeglöckchen und Krokusse hatten zu blühen begonnen, mitten im Dezember im Garten. Ursula hatte vor den Blumen gestanden und sich gefragt, ob es daran liege, dass der gesamte Herbst und auch der bisherige Winter warm gewesen waren.

Während ihres täglichen Spaziergangs zum See hatte sie beobachtet, dass Anwohner dabei waren, ihre Häuser und Wohnungen weihnachtlich zu schmücken. Ziemlich spät für Ursulas Geschmack, sie selbst schmückte immer schon vor dem ersten Advent.

Es war bald Weihnachten, der vierte Advent stand unmittelbar bevor. In keinem der fremden Gärten hatte Ursula Schneeglöckchen und Krokusse gesehen. Sie beugte sich hinunter, um eine der zerbrechlichen Blüten zu berühren. Am liebsten hätte sie einen kleinen Strauß mit ins Haus genommen, doch das verbat sie sich.

Weihnachten war Ursulas Fest. Eigentlich freute sie sich immer darauf, doch dieses Jahr war es anders. Vielleicht lag es daran, dass Karl die gewohnten gemeinsamen Spaziergänge nicht mehr mit ihr unternahm. Vielleicht lag es an diesem Winter, der keiner war und deshalb nur so schwer weihnachtliche Stimmung aufkommen ließ. Vielleicht lag es an Ursula selbst. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass etwas anders war als all die Jahre zuvor, die achtzehn Jahre, die sie Karl hatte. »Hatte«, das war das richtige Wort. Endlich hatte Ursula ihn. Für immer. Für ewig.

Ursula klopfte sorgfältig die Schuhe in der Diele ab, bevor sie sie auszog und an die Garderobe stellte. Karl sah von seiner Arbeit auf und seiner Frau lächelnd entgegen, als sie auf ihn zukam und ihm über die Schulter sah, wobei sie ihn am Rücken berührte.

Karl arbeitete seit Tagen an der Illustration eines Zaubertricks, den er unter vielen anderen in einem Lehrbuch für angehende Zauberkünstler veröffentlichen wollte. Auf dem Tisch, daneben und auch darunter lagen sämtliche Utensilien, die er für seine Tricks benötigte. Immer wieder probierte er den einen mit den drei Kugeln, den er gerade zeichnerisch darstellen wollte, und hätte ihn am liebsten in Zeitlupe festgehalten, denn wie sollte er sonst genau die einzelnen Schritte reproduzieren können. Ursula war ihm öfter eine Zuschauerin und Ratgebende, doch sie meinte nicht nur keinerlei zeichnerisches Talent, sondern überhaupt keines der Talente, die Karl eigen waren, zu besitzen. Sie bewunderte ihren Mann.

Ihre Mutter hatte sie auch lange bewundert, für deren Stimme. Ursulas Mutter war von vielen Menschen für ihre Stimme bewundert worden. Sie hatte diese Bewunderung zwar genossen, regelrecht gebraucht, doch wirklich zu schätzen gewusst hatte sie sie wohl nicht, sonst hätte sie mit sich nicht einen solchen Raubbau betrieben, bis ihre Stimme nichts mehr wert war. Sonst wäre sie wohl auch mit einigen Menschen anders umgegangen. Ursula hatte lange gebraucht, dies zu begreifen, beinahe ein ganzes Leben lang hatte sie dafür gebraucht. Erst als Karl kam, vor achtzehn Jahren, begann sie wirklich zu verstehen.

Karl hatte seine Begabungen immer wertgeschätzt, auch wenn er sie erst jetzt als alter Mann auslebte. Karl war den Dingen und den Menschen, die ihm wichtig waren, treu. Er vernichtete sie nicht.

Viele Skizzen lagen auf dem Tisch. Manche hatte er wütend durchgestrichen. Wütend über sich selbst, weil die Hand, mit der er zeichnete, oft nicht mehr ruhig genug war, um präzise Anleitungen festzuhalten. Er war ein Künstler, der zu spät begonnen hatte, Kunst zu machen.

Karl lehnte seinen Kopf an Ursulas Brust und schmiss den feinen Bleistift über den Tisch.

»Ich höre für heute auf, es hat keinen Sinn mehr.«

»Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte Ursula.

»Wenn du meinst«, antwortete Karl.

Kapitel 3: 19. Dezember

Das Wasser in der Wanne floss nur langsam ab. Ursula saß vor dem Spiegel und bürstete ihr langes weißes Haar, das ihr bis auf die Hüften fiel. Sie beschloss, es an diesem Abend nicht hochzustecken, sondern die Haare offen zu tragen, so wie Karl es liebte.

Von draußen war plötzlich das Geräusch eines Notarztwagens zu hören. Blaulicht flackerte bis in Ursulas Badezimmer hinein. Die Hunde der Nachbarn bellten aufgeregt. Ursula eilte zum Fenster und sah hinaus. Der Krankenwagen hielt bei Kruses, das Martinshorn wurde abgestellt, die Rundumleuchte verstrahlte ihr kaltes blaues Licht. Kruses Hund bellte, als würde er angegriffen. Wie oft hatten Ursula und Karl über dieses Tier, das so bösartig schien, geredet. Der Postbote, der seit Jahren kam, musste den Hund jeden Tag aufs Neue beruhigen. Irgendwann hatte er begonnen, gegen die Angst vor dem Tier mit einer kleinen Leckerei, die er dem Hund schon von weitem hinwarf, anzukämpfen. Kruse war ein Mann, der seinem Hund ähnlich war, darüber waren Ursula und Karl sich einig. Wer sich dabei wem angeglichen hatte, blieb Ursula unergründlich.

Ursula und Karl hatten kaum Kontakt zu den Nachbarn gepflegt. Obwohl sie hier in diesem kleinen Ort zwischen Berlin und Potsdam seit vielen Jahren gemeinsam lebten, hatte es meistens nicht mehr als einen »Guten Tag« oder »Frohe Weihnachten« zwischen ihnen gegeben. Als Kruses Frau vor einigen Jahren verstarb, war Ursula, ohne eingeladen zu sein, zur Beerdigung gegangen. So wie Frau Kruse es Jahre zuvor ebenfalls unerwarteterweise getan hatte, als Ursulas Mutter beerdigt worden war. Ursula war damals über die Geste der Nachbarin überrascht gewesen, sie hatte diese der Frau nicht zugetraut und schämte sich dafür, denn sie hatte Frau Kruse eigentlich nie wirklich kennengelernt, nie kennenlernen wollen, was einzig und allein mit deren Mann zu tun gehabt hatte – und mit diesen Hunden, die sie nacheinander gehabt und die wie Mauern zwischen den Nachbarn und Ursula gewirkt hatten.

Auf der Beerdigung hatte Frau Kruse Ursula eine Weile länger als die anderen Trauergäste die Hand gedrückt. Ursula hatte das nicht vergessen, es kam ihr danach vor, als hätten sie und Frau Kruse ein Geheimnis miteinander.

Kruse trank seit dem Tod seiner Frau. Der Hund lag ausschließlich an der Kette, die jedoch so angebracht war, dass er auf dem Weg zum Haus laufen und am Zaun hochspringen konnte, wenn ahnungslose Spaziergänger vorbeikamen. Kruse stand oft im Trainingsanzug im Garten, einem braunen mit schwarz-rot-gelben Streifen. Den hatte er noch aus seiner Zeit als Angehöriger der Armee, als Berufssoldat. Frau Kruse hatte meistens eine Kittelschürze getragen – etwas, wofür Ursula nie Verständnis gehabt hatte. Kruses Trainingsanzug war inzwischen verschlissen und seit langem viel zu eng. Seine Nase war grob und wie perforiert durch große Poren, seine Augen verquollen, seine Hände fleischig und sein Blick starr, wenn er am Zaun stand und die Straße entlangsah, in der sein Haus und das von Ursula inzwischen ringsum zugebaut worden waren: Überall weiße Bungalows, manche mit blauen Dächern. Überall Menschen, die man nicht kannte, die morgens zur Arbeit nach Potsdam oder Berlin pendelten und im Sommer an den Wochenenden mit ihren Kindern zum Sonnen und Baden an den See wanderten. Tagsüber und in der Nacht war der Ort beinahe still; im Winter ab neunzehn, spätestens ab zwanzig Uhr, wenn es draußen dunkel war und wenn fast alle in ihren Stuben saßen und fernsahen, weil es keine Jahreszeit zum Rasenmähen oder Grillen war.

So wie heute.

Doch die Stille war jäh durch den Krankenwagen, der vor Kruses Haus gehalten hatte, unterbrochen worden. Und Ursula fürchtete plötzlich um Kruse wie um einen Menschen, der ihr nahestand. Jahrzehnte hatten sie hier nebeneinander gelebt, sich in die Gärten und auch Fenster sehen können und dabei kaum etwas voneinander gewusst. Und doch hatten sie auf diese Weise gemeinsam gelebt, waren hier an diesem Ort gemeinsam alt geworden, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Hatten das Sterben der Angehörigen miterlebt und für sich festgestellt, dass sie es nun waren, die übrig blieben, bis …

Kruse durfte nicht als Nächster gehen! Was würde das für Ursulas Leben bedeuten?

Zwei Krankenpfleger räumten eine Trage aus dem Wagen, ein Arzt eilte mit einem Koffer in der Hand voran in Kruses Haus. Der Hund lief bellend auf die Männer zu. Einer der Sanitäter ließ vor Schreck die Trage fallen und nahm sie eilig wieder auf. Ursula wollte sich abwenden, nachdem die Männer in Kruses Haus verschwunden waren, doch es gelang ihr nicht. Kruse wurde auf der Trage herausgebracht. Der Hund wurde plötzlich still. Ursula wandte den Blick ab. Der Rest des Badewassers floss mit einem lauten Geräusch, das Ursula erschrecken ließ, ab. Sie spülte die Wanne aus und ließ heißes Wasser ein.

»Karl!«, rief sie.

Karl antwortete nicht.

»Karl!«, rief sie noch einmal. »Mach Schluss für heute, deine Wanne ist gleich voll.«

Karl antwortete wieder nicht.

»Karl, dein Wasser wird kalt«, sagte Ursula, als sie ins Wohnzimmer kam. Karl hatte einen weiteren Versuch unternommen, eine perfekte Skizze anzufertigen. Er schmiss den Bleistift aufs Papier.

»Jetzt hast du mir einen Schrecken eingejagt, deswegen habe ich mich verzeichnet!«

Ursula umfasste Karls Schultern und küsste ihn auf den Kopf.

»Das tut mir leid, das wollte ich nicht.«

»Wieso soll ich schon wieder baden? Ich habe doch gerade gebadet.«

»Heute ist Samstag.«

»Und samstags wird gebadet…? Das war einmal so, als wir Kinder waren. Ich musste immer in das Wasser, in dem mein Vater vorher gebadet hatte. Hat mir nichts ausgemacht.«

»Ich weiß.«

»Habe ich schon hundertmal erzählt, das weiß ich. Aber dass schon wieder Samstag ist. Je älter man wird …«

»… desto schneller vergeht die Zeit«, fiel Ursula mit ein.

Karl erhob sich. Ursula klopfte die beiden Sofakissen auf, auf denen Karl gesessen hatte.

»Die sind schon ganz platt von deiner Zeichnerei.«

»Was kann ich dafür, der Tisch ist zu hoch. Ich habe keinen Tisch, an dem ich vernünftig arbeiten kann.«

Ursula drehte ihr Gesicht zur Seite, weil sie lachen musste.

»Ach was, der Tisch war schon immer so hoch! Du bist kleiner geworden.«

Karl machte sich gerade.

»Vergiss nicht, welch stattlichen Mann du geheiratet hast! Im Übrigen bin ich jetzt in einem Alter, in dem ich schrumpfen darf. Andere Männer meines Jahrgangs gibt es schon gar nicht mehr.«

Jetzt machte Ursula sich gerade.

»Das stimmt. Aber klein warst du schon immer. Denk an unser Hochzeitsfoto! Als wir das haben machen lassen, hat dir der Fotograf auch schon ein Kissen unter deinen Allerwertesten gelegt. Damit du nicht so klein bist neben mir.«

Karl ging in Richtung Badezimmer.

»Was du da erzählst! Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern.«

Im Badezimmer half Ursula ihrem Mann sich auszukleiden. Nackt stand Karl vor der Wanne, seine Arme waren dünn, die Beine ebenfalls. Der Bauch leicht gewölbt. Wie ein Junge, dachte Ursula und half ihm ins Wasser. Karl plätscherte mit den Armen.

»Ich möchte mehr Schaum!«

Ursula goss Badezusatz ins Wasser.

Bevor sie hinausging, sah sie durch das Fenster zu Kruses Haus hinüber. Es lag im Dunkeln, durch ein Fenster drang etwas Licht. Der Hund lief an seiner Kette aufgeregt hin und her, ohne zu bellen.

»Du solltest nicht mehr so viel arbeiten«, sagte Ursula.

Karl tauchte kurz unter.

»Das Buch muss fertig werden.«

»Seit du daran arbeitest, sitzt du Tag für Tag fast nur noch im Haus. Das ist nicht gut für dich«, entgegnete Ursula.

»Ach, ich dachte, du würdest mich loben, aber stattdessen kritisierst du mich! Ich muss das Buch fertigbekommen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Wer soll es denn sonst machen?«

»Ich kritisiere dich nicht, ich mache mir Sorgen! Ich bin stolz auf dich, weil du so gut zeichnen kannst – und schreiben, aber ich mache mir Sorgen, weil du kaum noch rausgehst, das ist nicht gut.«

»Mir geht es bestens. Und außerdem mache ich das alles auch für dich. Wenn das Buch ein Erfolg wird, kannst du von dem Geld, das es einspielt, in Saus und Braus leben.«

»Wir können in Saus und Braus leben, wir!«

»Ja, wir, und damit wir das bald können, muss ich mich beeilen, verstehst du!«

»Ich finde, wir leben jetzt auch gut.«

»Tun wir, das stimmt, aber wenn ich mal nicht mehr bin, dann werden dir die Rechte übertragen, dann hast du auch was davon, wenn du allein bist.«

»Ich werde jetzt Abendessen bereiten.«

Karl tauchte noch einmal mit dem Kopf unter Wasser.

Ursula stellte in der Küche zwei Teller auf ein Tablett, zwei Teetassen. Mit einer mechanischen Brotmaschine schnitt sie Brot. Draußen fuhr der Krankenwagen mit eingeschaltetem Martinshorn los. Kruse lebt noch, dachte Ursula.

»Möchtest du ein oder zwei Tomaten?«, rief sie in Richtung Badezimmer.

Karl antwortete nicht.

Sie legte ihm zwei auf einen Teller. Das Geschirr war von KPM, die Silberbestecke aus der Aussteuer ihrer Mutter. Das Tablett war ein altes aus Holz mit Sprelacart beschichtet.

Die Küche war mit Raufasertapete renoviert worden, die Fensterrahmen und Türen in dunklem Braun gestrichen, so wie es gerade modern gewesen war, als Ursula das letzte Mal renoviert hatte. Das war kurz nachdem ihre Mutter verstorben war, kurz bevor Karl kam. Damals fand Ursula es schön, endlich nach ihrem Geschmack zu wohnen. Heute würde sie einiges anders machen, doch meistens sah sie die Dinge gar nicht mehr, die sie eigentlich störten. Sie fielen Ursula nur noch auf, wenn sie mal länger weg war von zu Hause. Dass sie mal länger weg war, war auch schon lange her.

Aus dem Kühlschrank nahm sie Käse und Aufschnitt und ein Schälchen Nachtisch, das beim Mittagessen übrig geblieben war. Für Karl. Ursula kostete davon, strich die Oberfläche des Puddings wieder glatt, kostete noch einmal, strich die Oberfläche wieder glatt, leckte den Löffel ab und legte ihn mit auf das Tablett.

Sie deckte im Wohnzimmer den Tisch. Es war so still, dass das Ticken der Wanduhr zu hören war.

»Vielleicht noch etwas Frisches«, überlegte Ursula.

In der Küche suchte sie nach einer Dose Obst, nahm den Dosenöffner und ging damit zu Karl.

Er lag regungslos in der Wanne. Das Wasser reichte ihm bis über den Mund. Der Wasserhahn tropfte laut. Ursula hielt ihm die Dose und den Öffner hin. Karl rührte sich nicht.

»Karl, jetzt nicht!«, sagte Ursula.

Karl rührte sich nicht.

»Karl, das Abendessen ist gleich fertig.«

Keine Regung.

»Karl, bitte!« Ursula legte Öffner und Dose ab und setzte sich zu Karl auf den Wannenrand. Sie fuhr mit der Hand ins Wasser und tippte ihn an. Er bewegte sich nicht. Sie kraulte seine Füße. Karl regte sich nicht. Ursula beugte sich über ihn und sah ihm in die Augen, sie blieben starr.

»Karl?«

Sie packte ihn, um ihn aus dem Wasser hochzuziehen, doch er war zu schwer.

»Karl!«, flehte Ursula.

Im nächsten Moment spritzte Karl Ursula nass. Er lachte dabei, bis auch sie lachen musste.

»Du bist schrecklich«, sagte Ursula und hatte ihm längst verziehen.

Karl hielt ihr die Bürste hin. Ursula schrubbte ihm den Rücken.

»Komm, sag auf!«, verlangte er.

Ursula verdrehte die Augen.

»Erstens: mit dem Notarzt telefonieren. Zweitens: das Beerdigungsinstitut anrufen…«

»Aber nur das von Thiele & Söhne«, fiel Karl ihr ins Wort.

»Drittens: eine Todesanzeige aufgeben …«

»Ich habe mir überlegt, dass das Quatsch ist«, meinte Karl. »Mich kennt doch hier gar keiner. Zu meiner Beerdigung brauchen keine Leute zu kommen. Solche Typen wie Kruse will ich dort nicht haben.«

Ursula sah zum Fenster.

»Viertens: Karls Buchrechte verjubeln – und in Saus und Braus leben!«

Karl spritzte Ursula nass.

Sie wich lachend zurück.

Karl wurde ernst.

»Was soll nur ohne mich aus dir werden? Du bekommst ja nicht einmal eine Dose allein auf.«

Ursula reichte ihm die Büchse und den Öffner hin.

»Weißt du was, Karl, ich werde dich einfach behalten!«

Das Teelicht flackerte unter der Kanne, als Karl endlich zum Abendessen ins Wohnzimmer kam. Ursula stand am Fenster und sah draußen einen Mann und eine Frau, die gemeinsam einen Tannenbaum durch die Dunkelheit trugen. Tannenbaum, Weihnachtsschmuck, um all diese Dinge würde Ursula sich auch demnächst kümmern müssen. Auch wenn Karl behauptete, er lege auf diesen »Klimbim« keinen Wert mehr, glaubte sie doch, er sagte dies nur, damit sie nicht so viel Arbeit hätte. Für Ursula war es nicht Weihnachten, wenn kein geschmückter Baum im Zimmer stand, wenn es nicht nach Weihnachten roch.

Karl hatte sein Haar fein gekämmt, er goss Ursula und sich Tee ein. Ursula überlegte, wann sie ihm die Sache mit Kruse erzählen sollte. Gar nicht, beschloss sie und reichte ihrem Mann den Brotkorb.

»Weißt du was, ich habe heute von einem Ehepaar in Schweden gehört, das jeden Tag Weihnachten feiert«, erzählte sie. »Sie sind auch schon älter, nicht ganz so alt wie wir, aber auch nicht mehr jung, so um die siebzig. Die haben das ganze Jahr über einen Weihnachtsbaum, einen geschmückten, und machen sich jeden Tag ein kleines Geschenk.«

Karl meinte mit vollem Mund: »Ideen haben die Leute. Wahrscheinlich haben sie einen künstlichen Baum. Künstliche Bäume finde ich stillos.«

»Aber schön ist es doch: Jeden Tag Weihnachten! Du hast dir noch gar nichts gewünscht. Es wird Zeit, in ein paar Tagen ist es so weit.«

»Was soll ich mir denn wünschen? Ich habe doch alles. Ich brauche doch nichts mehr.«

Ursula legte Messer und Gabel beiseite und sah Karl an.

»Ich habe einen Wunsch!«

Karl hörte auf zu kauen.

Ursula zögerte.

»Ich wünsche mir, dass wir in diesem Jahr nicht hier feiern.«

»Wo denn sonst?

»Im Adlon!«

Karl legt das Besteck beiseite.

»Weißt du, wie viel das kostet?«

»Na und! Wir haben doch das Geld. Einmal noch ins Adlon. Wir beide. Es ist der einzige Ort, an den ich noch mal möchte. In unser Adlon! Mal sehen, wie es dort aussieht, nach all den Jahren.«

Karl lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust.

»Du bist verrückt geworden.«

»Es wird bestimmt wunderschön. Raus hier und noch einmal in unserem Leben ins Adlon, ja, das wünsche ich mir!«

»Wann willst du denn da hin? Heilig Abend bis zum ersten Weihnachtstag – oder sogar bis zum zweiten?«

»Nein, sobald wie möglich und die ganze Zeit, bis nach Silvester! Silvester will ich dort auch mit dir feiern. So wie damals, weißt du noch? Nur anders. Du und ich Silvester im Adlon. Champagner, Musik. Und wir beide in einem Zimmer. Nicht ich allein. Weshalb ich darauf nicht eher gekommen bin! Wir müssten eigentlich längst dort gewesen sein. Es wird Zeit. Es ist unser Hotel!«

»Silvester im Adlon. Du bist verrückt«, wiederholte Karl und aß weiter.

Dabei lächelte er.

Kapitel 4: 22. Dezember

Ursula goss die Pflanzen in ihrem Haus. Zwei Koffer standen bereits an der Tür. Gleich wollte sie ein Taxi bestellen. Karl war im Keller und stellte die Heizungsanlage für die Zeit während ihrer Abwesenheit ein.

Ursula spürte Unruhe. Reisefieber kannte sie erst, seitdem sie kaum noch wegfuhr. Als das Reisen mit ihrer Mutter noch Alltag gewesen war, war sie eher unruhig geworden, wenn sie sich ungewohnt lange an einem Ort aufgehalten hatten. Ursula war in Hotels aufgewachsen, Hotels waren ihr Zuhause gewesen. Ihr Kinderzimmer war ein kleiner Koffer gewesen, in dem sie die ihr wichtigsten Sachen verstaut hatte, die ihr liebsten Sachen.