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Staffel 1, Folge 1 (»Alles auf Anfang«) – erste Szene in Luke’s Diner

Lorelai: »Bitte, Luke. Bitte, bitte, bitte!«

Luke: »Wie viele Tassen hast du dir heute schon genehmigt?«

Lorelai: »Keine.«

Luke: »Bis auf?«

Lorelai: »Fünf. Aber deiner ist besser.«

Luke: »Du hast ein Problem.«

Lorelai: »Ja!«

Luke: »Junkie.«

Lorelai: »Engel. Dich hat der Himmel geschickt, Baby.«

»Where you lead, I will follow« –
Eine Liebeserklärung

Where you lead, I will follow
Anywhere that you tell me to
If you need, you need me to be with you
I will follow where you lead
Als im April 2004 die Gilmore Girls zum ersten Mal im deutschen Fernsehen (bei VOX) liefen, war ich Anfang 20 und hatte gerade mein Studium begonnen – und somit genug Zeit, um mich (lange bevor der Trendbegriff »Binge Watching« offiziell erfunden wurde) voll und ganz in die amerikanische Serie und vor allen Dingen ihre schönen, charmanten, lustigen Hauptdarstellerinnen zu verlieben. Zwei Frauen, die ebenso wie ich waren: nach Koffein süchtige, zielstrebige, schnell redende Verrückte mit Hang zu Fast Food und Literatur – ich stand unter Schock, seit Friends hatte ich nicht mehr so eine Nähe zu Fernsehfiguren empfunden. Montag bis Freitag kam jeweils eine Folge, jedes Jahr eine Staffel und die Zeit dazwischen konnte man im Idealfall nur mit Wiederholungen zu irgendwelchen unsittlichen Uhrzeiten füllen. Bis heute habe ich alle sieben Staffeln mit insgesamt 153 Episoden sicherlich über zwei Dutzend mal gesehen und dennoch hatte ich sie nie satt, ganz im Gegenteil. Es entstand eine tiefe Freundschaft zu Rory und Lorelai Gilmore, und sie ist über die Staffeln und Jahre immer intensiver geworden. Wo ich mich am Anfang als junge Studentin noch mehr in der Tochter wiederfand, so fühle ich inzwischen eher mit der Mutter, und egal, mit welchen Problemen rund um die Liebe, den Job oder die Familie die beiden konfrontiert wurden – ich teilte all ihre ironischen Kommentare und Augenrollmomente, ihre Verzweiflung mit den Eltern und den Männern und die Begeisterung für ein übervolles Leben mit zu viel Kaffee. Sie brachten mir viel über Feminismus bei, teilten mein großes Interesse für Bücher und nächtliche Lieferservicegelage, wandelten Fleiß und Ehrgeiz zu sympathischen Tugenden und vermittelten die Botschaft, dass mit den richtigen Menschen jede Katastrophe, jede durchgeknallte weibliche Gefühlslage irgendwie zu meistern ist.

Ich selbst entdeckte bereits sehr früh meine Liebe zur Literatur. Das ging sogar so weit, dass ich den aktiven Umgang mit anderen Menschen als kaum empfehlenswert empfunden habe, wenn man doch ebenso gut ohne große Wäsche und Umstände mit Helden jeglicher Art durch die Seiten fliegen konnte. Nerd sein war Ende der 80er-Jahre noch nicht cool und ich dementsprechend wenig beliebt. Mein Heimatort war klein, mein Freundeskreis ebenso und meine Leidenschaft zu Tolstoi und Ende wollte erst recht niemand teilen. Bücherlesen, das war lange vor Harry Potter eher noch ein guter Grund für den Kopf in der Schultoilette. Im Unterricht habe ich mich gelangweilt, Sport habe ich gehasst: Meine einzige Motivation war die Aussicht auf die ersehnten Ferienwochen, an denen mich mein Vater über Stunden und Tage mit meinen Büchern im Bett liegen ließ. Meine Großeltern hatten wie Emily und Richard Gilmore ein großes Haus mit eigener Bibliothek, in der ich mich tief versunken im Ledersessel in Herz und Kopf sattlesen konnte.

Mit Rory traf ich also endlich auf eine Gleichgesinnte und mit Stars Hollow auf eine Welt, die mir über die Jahre ein zweites Zuhause wurde – ein Gefühl, das ich sonst nur aus Büchern kannte. Eine Welt, die Frauen gleichberechtigt behandelt, sie ein selbstständiges Leben führen und an Karriereplänen stricken lässt, mit Problemen wie Teenagerschwangerschaft und Geldnöten konfrontiert und von der amerikanischen Autorin und Produzentin Amy Sherman-Palladino dennoch ausgleichend mit so viel Zuckerguss und konservativem Heile-Welt-Gefühl überzogen wurde, dass selbst Autounfälle und Herzinfarkte stets mit einem bis mehreren Bechern Kaffee samt Donuts irgendwie zu überstehen sind. Falls einmal nicht, gibt es die reichen Großeltern oder den ebenfalls aus wohlhabendem Haus stammenden Logan Huntzberger, die ihre Mädchen (selbstverständlich erst nach deren großem Widerstreben) zu retten wissen.

Apropos Zucker: Ein weiterer guter Grund, um die Gilmore Girls ins Herz zu schließen, ist ein liebenswertes, typisch amerikanisches Laster, ihre große Liebe zu vielem, gern ungesundem Essen und die offensichtliche Fähigkeit, trotz diesem und einem tiefen Widerstreben zu sämtlichen sportlichen Aktivitäten schlank und gesund zu bleiben. Während wir uns mit einem kohlenhydratreichen Mittagessen kaum noch in die Öffentlichkeit trauen, und bereits vor dem Frühstück Smoothierezepte und Pilatesfotos auf Instagram hochladen, lassen sich Lorelai und Rory lieber aufs Sofa fallen und bestellen erst einmal die komplette Karte der sie umgebenden Lieferserviceanbieter. Wer bei Luke einen Grünkernburger samt Weizengrassaft bestellen will, würde sich innerhalb weniger Sekunden außerhalb der Stadtgrenzen von Stars Hollow wiederfin- den. Nicht nur das wöchentliche Essen mit den Großeltern spielt eine ebenfalls wichtige Rolle, auch das jährliche Thanksgiving-Ritual ist stets mit gleich mehreren Einladungen zu meistern, und Sookies vor Torten, Obstkörben, Cateringplatten und Gratins überquellende Küche gibt das Bild eines immerzu lockenden Schlaraffenland-Ablegers. Hier habe ich Hunger, hier will ich sein.

Genuss, Liebe, Literatur, Musik, Filme und Gemeinschaft – die Serie zeigt ein geschöntes Filterleben, eine Welt ohne Kiloprobleme, Unterhaltsstreitigkeiten, Regelschmerzen und politische Auseinandersetzungen, und Taylor Doose ist der Herr über das einzige soziale Netzwerk: den Marktplatz von Stars Hollow. Die Gilmore Girls sind ein Zufluchtsort, ein Ort ohne größere Sorgen (wenn Kirk nicht mal wieder vergisst die Ostereier einzusammeln), mit liebevollen Menschen in bunt gestrichenen Holzhäusern und einem Café, in dem immer ein Platz mit einem Stück Kuchen für den Zuschauer frei ist. Die Erfinder schufen mit der Serie die Antwort auf die von völlig falschen Klischees sowie überteuerten Magazinen geweckte Sehnsucht nach Selbstgemachtem auf dem Land: sieben Staffeln lang in Sepia-Gefühlen baden und am perfekten Leben teilhaben – aber eben nicht selbst perfekt sein müssen.

Die Gilmore Girls geben mir schon beim Einsetzen der ersten Töne von »Where you lead«, dem Titellied von Carole King, ein Gefühl von Heimkommen, ein wohlig-süßes Kakaoempfinden im Herzen. Ähnlich dem Pawlowschen Hund setzt dann das Bedürfnis nach einem langen Wochenende ein, gefüllt mit Büchern, alten Filmen, Pizza und der besten Freundin, die ebenso der Meinung ist: diese Männer, ich weiß ja auch nicht. Die Gilmore Girls sind ebenso wie Bücher die Erste-Hilfe-Linderung für all meine Probleme und passen (im Gegensatz zu Klamotten) einfach immer.

Wem es ebenso geht, den möchte ich gern in diesen 100 Seiten noch einmal nach Stars Hollow einladen. Holen Sie sich einen frischen Kaffee, bestellen Sie so viel Essen, wie Ihr Kontostand ermöglicht und Ihr Kühlschrank Platz hat, und versinken Sie gemeinsam mit mir in Liebschaften, Literaturschwärmereien und dem zauberhaften Leben unserer Gilmore-Mädchen.

Ein Gefühl von Heimkommen –
von der Pilotfolge bis zur Fortsetzung auf Netflix

Das Grundprinzip der Gilmore Girls ist schnell erklärt: 16-jähriger Teenager aus reichem Haus wird versehentlich schwanger, überwirft sich mit den Eltern und baut sich und dem Baby in der nahen Kleinstadt ein neues Leben auf. Wiederum 16 Jahre später kann sie sich die Ausbildung der inzwischen flügge gewordenen Tochter nicht mehr leisten und muss die Eltern um Geld bitten. Diese geben es ihr bereitwillig, allerdings zum Preis eines wieder engeren Kontakts zu Tochter und Enkelin.

Aber reicht das konservative Kleinstadtleben einer Mittdreißigerin samt langweiligem Schulleben eines streberhaften Teenagers und das auch eher brave Liebesleben beider für sieben Staffeln? Weshalb begeistert die als sogenannte »Dramedy«, also als Mischung zwischen Comedy und Drama eingestufte Serie Millionen Frauen weltweit, was macht den besonderen Charme und die vor allen Dingen sehr starke Bindung zu den jeweiligen Hauptfiguren aus? Viele Gründe werden in diesem Buch aufgezeigt – der wirkliche Zauber kann allerdings nur beim Sehen entstehen, wenn man mehrere Folgen lang durchs herbstlich belaubte Stars Hollow gegangen ist und mit Rory und Lorelai Kaffee getrunken hat. Vielleicht entdeckt man sogar, dass man ebenfalls gern den ersten Schnee riecht, sich gern alte Filme von Katharine Hepburn und Spencer Tracy ansieht, mit Nachbarn Kuchen backt und seine Erfüllung ebenso in der Arbeit und an Stricknachmittagen mit Freunden findet.

Die Produzentin und Drehbuchautorin (u. a. auch von Roseanne, 199094) Amy Sherman-Palladino hatte die erste Projektidee bei einem Ausflug mit ihrem Mann Daniel Palladino (der später 44 der insgesamt 153 Episoden der Serie schrieb). Sie fuhren durchs herbstliche Connecticut und machten im kleinen Ort Washington (knapp 3500 Einwohner) halt, um im dortigen Café eine Pause einzulegen. Sie platzten in eine Szene, die Anstoß für Luke’s Diner, einen der wichtigsten Plätze in der Serie, geben sollte: das Mobiliar war alt und verbraucht, nichts passte zueinander, die Gäste unterhielten sich wie bei einem Familientreffen und gingen sogar selbst hinter die Theke, alle fühlten sich offensichtlich wie zu Hause und die Palladinos waren spontan ein Teil davon geworden. Dieses warme Herbstgefühl mit einer Duftmischung aus frisch gebrühtem Kaffee, mit ofenwarmem Kuchen, den Stil des kleinen Ortes mit seinen Holzhäusern aus dem 18. Jahrhundert wollten sie wiedergeben. Amy schrieb noch in der Nacht die Grundidee und erste Episode der Gilmore Girls auf. Dank der Unterstützung des »Family Friendly Programming Forum« – einem Werbenetzwerk für familienfreundliches Fernsehen – konnte sie eine Pilotfolge realisieren, die am 5. Oktober 2000 im amerikanischen Time-Warner-Sender »The WB« zum ersten Mal ausgestrahlt wurde.

Hier hatte Palladino genau das richtige Gespür bewiesen und eine Gegenserie zum damals international erfolgreichen Frauenformat Sex and the City geschaffen – der alternative Lebensentwurf zum schnellen Großstadtalltag voller Sex, Parties und Markenkleidung, wo der richtige Mann über den Kontoauszug zu ermitteln und ein Kind eher Unfall als Wunschverwirklichung ist. Statt nach »höher, schneller, weiter« suchten also ebenso viele Frauen eine Bestätigung für Sofaabende, Strickmarathons und samstägliches Kuchenessen im Landcafé. Dieses Bedürfnis nach Ruhe ist in der schnelllebigen und hochkommunikativen Zeit über die letzten Jahre seit Drehende sogar noch mehr gewachsen, der Begriff »Achtsamkeit« ist das Schlagwort einer ganzen Branche und dabei nur die kommerzielle Verwirklichung des Landlebens, das in Stars Hollow längst selbstverständlicher und von Taylor Doose hart verteidigter Alltag ist. Dieser Ort ist das passende Zuhause für Flow-Käuferinnen und Landlust-Abonnenten, für Besucher von Food Markets und DIY-Messen, nur das mit dem dazugehörigen Trend »Healthy Living«, inklusive Sport und Veganer Ernährung … na, selbst ein Gilmore Girl kennt seine Grenzen.

Gerade männliche Zuschauer lassen sich eher selten für die Serie begeistern und sehen nur in der (sich niemals erfüllenden) Hoffnung zu, eine der beiden hübschen Hauptdarstellerinnen könnte mal ein Kleidungsstück fallen lassen. Realitätsfern sei es, zu kitschig, weichgespült und ähnlich verrückte, schnell redende Frauen gebe es ja schon im echten Leben genug. Dem kann die zugegebenermaßen wenig neutrale Autorin dieses Buches nur teilweise zustimmen. Gewiss ist der deutliche Mangel an Alltagsproblemen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von Außenpolitik bis Wirtschaftsveränderungen mit überdeutlich ausgleichendem Vorhandensein von Happy-End-Aufschlägen eine watteweiche Mischung, Stars Hollow sozusagen das in der Serie sogar zitierte Who-Ville. Aber, meine Herren, zum Thema Realitätstreue in Serien nur drei Worte: Game of Thrones. Danke, wegtreten.

Als sich der Online-Streaming-Anbieter Netflix im Jahr 2015 dazu entschied, der weltweit immer noch sehr beliebten Serie erneut eine Chance und vor allem weitere Folgen zu geben, ging ein medialer Aufschrei durch die weibliche Digitalwelt, ein »Rewatch«, das heißt ein erneutes Ansehen aller Staffeln wurde anberaumt und der Starttermin dick im Kalender angestrichen. »A year in the life« nannte Netflix die ebenfalls unter der Hand von Sherman-Palladino und mit den Originalschauspielern entstandenen vier nach Jahreszeiten gedrehten Episoden zu je 90 Minuten, die von den Fans mit gemischten Gefühlen erwartet wurden. Kann dieses spezielle Gilmore-Feeling tatsächlich nach all den Jahren wiederbelebt werden? Will man wirklich eine Modernisierung des so geliebten Kleinstadtlebens und vor allen Dingen vielleicht nicht immer in Würde gealterte Hauptdarsteller sehen? Sollte man nicht eigentlich aufhören, wenn es am schönsten ist? Bei Sex and the City gingen die aus der Serie folgenden Filme gründlich daneben, die Fans waren verärgert, die Produzenten mussten sich Geldgier und mangelnde Inhaltsliebe nachsagen lassen. Sicherlich ist der finanzielle Erfolg in diesem Fall mit ein Grund für die Fortsetzung, denn weder Amy Sherman-Palladino noch die jeweiligen Schauspieler konnten nach den Gilmore Girls an den vorherigen Erfolg anknüpfen, mit Ausnahme von Sookie-Darstellerin Melissa McCarthy. Dennoch ist es auch eine Möglichkeit der Wiedergutmachung den Zuschauern gegenüber, die nach dem mit Senderstreitigkeiten begründeten Ausstieg Palladinos nach der sechsten Staffel den Gilmore-Charme in der Handlung sowie in den Dialogen vermissten und insbesondere mit dem offenen Ende mehr als unzufrieden waren. Die Produzentin stellte mehrfach klar, dass sie sich einen anderen Ausgang gewünscht und in Planung gehabt hatte – ob sie dies nun wiedergutmacht?

Zudem bleibt abzuwarten, ob die achte Staffel tatsächlich nicht nur alte Fans reaktivieren kann, sondern auch neue Zuschauer für die Serie gewinnt. Das Seriensehverhalten hat sich inzwischen längst gewandelt – niemand wartet mehr freiwillig einen Tag oder gar eine ganze Woche lang auf eine neue Folge. Gerade die sehr erfolgreichen Produktionen haben deswegen enorme Probleme mit illegalen Downloadbörsen, wenn sie nicht gleich die komplette Staffel ins Netz stellen – Game of Thrones verlor hierdurch weltweit Millionen an Umsatz. »Binge Watching« bezeichnet den Trend, eine komplette Staffel oder sogar die ganze Serie am Stück zu sehen. Der eigentlich bereits im Jahr 1997 als Online-Filmverleih gegründete Dienst Netflix bietet seit 2007 auch das aktuell so beliebte Streaming-Modell an. Mittlerweile sind dort nicht mehr nur die Serien und Filme großer Studios international abrufbar, sondern der Anbieter produziert auch eigene Serien mit exklusivem Zugang für die Abonnenten. Dazu gehören zum Beispiel House of Cards, Orange is the new black, Narcos und Bloodline – aber inzwischen auch die unter eigener Regie fortgesetzten Produktionen von bereits erfolgreichen Serien wie Full House (allerdings mit mäßigem Erfolg) und eben die Gilmore Girls.

Durch den extrem günstigen Monatspreis – insbesondere für Familienabos – hat eine große Zahl an Konsumenten Zugriff auf die von Streaming-Anbietern bereitgestellten Inhalte. Ihre Zielgruppe sind die Zuschauer im Alter zwischen 15 und 35 Jahren mit einem mittleren Einkommen, also eigentlich genau die Altersgruppe, die sich bereits beim ersten Start für Gilmore GirlsPippi