Kapitel 8

Drei Tage. Drei Tage voller Verwirrung und Zweifel, verschwommener Erinnerungen und Panikattacken. Drei Tage lag ich im Bett, starrte an die Decke und fragte mich, ob es hinter den geschlossenen Fensterläden Tag oder Nacht war. Ich schlief dank der Medikamente. Auch wenn ich halb wach war, blieb ich benommen. Drei Tage lang versuchte ich mir einzureden, dass ich nicht völlig verrückt geworden war.

Der Besitzer des Autohauses war an jenem Morgen zur Arbeit gegangen. Er musste feststellen, dass ich ohne ein Wort der Erklärung verschwunden war. Die Tür stand offen, und auf dem Tisch, an dem ich gesessen hatte, fand er einen Haufen leerer Bierflaschen. Nino hatte mehrmals versucht, mich über das Funkgerät zu erreichen, aber ich hatte nicht geantwortet. Ich hatte den Autohandel verlassen, war zurück nach Potter’s Cove gefahren, parkte vor Ricks Haus und wartete darauf, dass er aus dem Club zurückkam.

Er fuhr um etwa vier Uhr vor. Ich traf ihn auf der Straße. Besorgt lud er mich ein, in die Wohnung zu kommen, aber ich lehnte ab und fragte ihn stattdessen nach der jungen schwarzen Frau und ihrem Sohn, die im Erdgeschoss gleich neben dem Eingang wohnten.

Rick sagte mir, dass diese Wohnung leer stünde. Schon seit Monaten, seit der letzte Mieter, ein alleinstehender Mann mittleren Alters, ausgezogen war. Dann muss es eben eine Hausbesetzerin gewesen sein, behauptete ich, die eingebrochen war und dort wohnte, ohne dass jemand davon wusste, schließlich hatte ich sie neulich gesehen. Sie hatte mich sogar angesprochen. Ihr Sohn hatte mich angesprochen.

Ich stand kurz vor einem emotionalen Zusammenbruch. Ich berichtete Rick, was geschehen war, woraufhin er darauf bestand, mich nach Hause zu fahren. Ich war einverstanden, aber erst, nachdem er versprochen hatte, dass er herausfand, was es mit der Wohnung auf sich hatte.

Ich kann mich vage daran erinnern, dass sich Toni bei Rick bedankte, bevor sie mich ins Bett brachte. Dort lag ich dann erschöpft und gab mir Mühe, ihre Stimmen in der Küche zu hören, bevor ich in so etwas Ähnliches wie Schlaf fiel. Irgendwann später erschien sie mit einem rezeptpflichtigen Medikament, das sie von ihrem Boss hatte. Die Pillen würden mir dabei helfen, mich zu entspannen und zu schlafen, versprach sie mir. Vertrau mir, sagte sie, und das tat ich.

Jetzt, drei wirre Tage später, parkte ich vor dem Büro von Battalia Security, einem kleinen Gebäude auf der Acushnet Avenue, einer der Hauptstraßen von New Bedford. Ich saß im Auto und beobachtete das Gebäude, bis ich bereit war, mich einer Situation zu stellen, die im besten Fall lediglich unangenehm ablaufen würde.

Zwei winzige Glocken über der Tür kündigten mein Eintreten an. Ich ging zum Empfang, wo Marge saß, die sowohl Empfangsdame als auch Sekretärin und gelegentlich die Poststelle war. Sie trug einen Kopfhörer und tippte mit ihren langen Acrylfingernägeln auf einer Tastatur. Sie sah mich und schenkte mir ein vorsichtiges Lächeln. »Hey, Al.«

»Hey.«

»Wie geht’s dir?«, fragte sie leise. »Alles okay?«

Ich nickte. »Ist Nino da?«

Sie deutete mit dem Kopf in Richtung seines Büros am Ende des schmalen Flurs hinter ihr. Die Tür war geschlossen. »Er wartet schon auf dich, geh schon.«

Nino war wie immer wahnsinnig gestresst und sah von einem Riesenstapel Papierkram auf, als ich sein Büro betrat. Er zwang sich zu einem höflichen Lächeln, obwohl er unter Dampf stand, und bot mir den Stuhl vor seinem Schreibtisch an. »Setz dich.«

Ich schloss die Tür hinter mir, trat an den Schreibtisch, blieb aber stehen. »Nino, hör zu, mir tut das alles sehr leid, ich ...«

Nino hielt die Hände in die Höhe, warf einen Stift auf den Tisch und lehnte sich ein Stück weiter in seinem Lehnstuhl aus Leder zurück. »Ich weiß, dass es dir leid tut, Alan, das weiß ich.« Wieder zeigte er auf den Stuhl. »Setz dich.«

Ich ging zu dem Stuhl und ließ mich auf ihn sinken. Ich kam mir vor wie ein Kind, das vor dem Schuldirektor erscheinen muss. »Nino, für das, was passiert ist, gibt es keine Entschuldigung, und es tut mir aufrichtig leid. Ich verspreche dir, dass so etwas nie wieder vorkommen wird.«

Ninos Augen huschten hin und her, er sah in alle Richtungen, nur nicht in meine. Er lehnte sich noch weiter in seinem Stuhl zurück und strich sich nervös mit seinen Wurstfingern über den Schnurrbart. »Du bist schon lange bei uns«, sagte er schließlich. »Du bist der beste Mitarbeiter, den wir haben. Der beste, den wir je hatten.«

»Ich bin schon fünfzehn Jahre bei euch«, rief ich Nino in Erinnerung.

»Das weiß ich. Du bist zehn Jahre älter als alle anderen, verdammt noch mal.« Wieder lächelte er kurz, obwohl er sich dabei offensichtlich unwohl fühlte. »Und abgesehen davon sind wir ... na ja, Freunde geworden, stimmt’s etwa nicht?«

»Ich habe bloß ... im Moment ein paar Probleme, aber ...«

»Ja, ich verstehe.« Er richtete den Stuhl gerade aus, schob sich vom Tisch weg und stand auf. Nino war ein wulstiger, gebückt gehender Mann mit einer Vorliebe für auffälligen Schmuck, schlecht sitzende Hosen und nachgemachte Seidenhemden. Heute trug er einen Trainingsanzug und Tennisschuhe, ein Zeichen dafür, dass er nicht vorhatte, lange im Büro zu bleiben, nur bis unser Gespräch beendet war. »Aber so sieht’s aus: Ich habe gestern mit Petey gesprochen und getan, was ich konnte, aber mein Bruder ist der Boss, Al, du weißt schon. Ich kann zwar mitbestimmen, aber er hat das letzte Wort.«

»Hör zu ...«

»Er hält echt eine Menge von dir. Das weißt du auch.« Nino watschelte zu einem Wasserspender in der Ecke des Raums. Jedoch steckten keine Plastikbecher mehr in der Halterung. Deswegen schnappte er sich stattdessen einen Kaffeebecher, der neben dem Wasserspender stand. »Aber Al, Kacke, du bist einfach während der Arbeit verschwunden.«

»Ich weiß. Ich habe richtig Scheiße gebaut.«

Nino schnüffelte an dem Becher, der voller Kaffeeflecken war, schob ihn unter die Düse und füllte ihn mit Wasser. Er sah zu, wie in der großen Plastikflasche Blasen aufstiegen und sagte: »Wir haben den Kunden verloren.«

»Um Himmels willen, Nino, es tut mir leid.«

»Ich habe getan, was ich konnte.« Mit dem nunmehr gefüllten Becher kehrte Nino zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich in seinen Sessel fallen. Aus der mittleren Schublade seines Tischs zog er ein Päckchen mit zwei Alka-Seltzer-Tabletten, riss es auf und ließ sie in den Becher fallen. »Tut mir leid, aber wir müssen dich entlassen.«

»Komm schon, Nino.« Ich stand nun wieder. »Ich hab Scheiße gebaut, aber ich arbeite hier schon seit Jahren.«

»Du bist während der Arbeit verschwunden! Du bist verdammt noch mal mitten in der Nacht weggegangen und hast die Tür offen stehen lassen.« Er griff nach dem Becher und trank ihn mit einem einzigen hektischen Schluck aus. »Und dann – als ob das noch nicht schlimm genug wäre – findet der Kunde noch überall Bierflaschen.« Nino donnerte den Becher so kräftig auf den Tisch, dass er in zwei Hälften zerbrach. Er sah nach unten, woraufhin ihm aufging, dass er nur noch einen Griff in der Hand hielt, und schleuderte ihn gegen die Wand. »Hin und wieder kann man mal bei der Arbeit was trinken, das weiß ich selber auch. Aber räum den Scheiß dann auch weg! Wie schwachsinnig muss man sein, um die Flaschen liegen zu lassen? Bist du bescheuert? Petey musste sich selbst um die Sache kümmern, und so etwas macht er nicht gerade gerne. Er musste mit dem Typen reden und ihn beruhigen. Scheiße, Al, der hätte uns verklagen können. Vielleicht wird er’s noch tun.«

»Gib mir einfach eine Woche oder zwei«, sagte ich. »Mehr brauche ich nicht, um wieder klarzukommen. Urlaub – gib mir Urlaub! Ohne Bezahlung, bloß Zeit, damit ich alles wieder in Ordnung bringen kann.«

»Mann, komm schon, mach das alles nicht komplizierter, als es schon ist. Ich habe mit Petey darüber gesprochen, und wir haben entschieden, dir trotz dem Scheiß, der passiert ist, ein Empfehlungsschreiben zu geben, okay?« Er schnappte sich ein Kuvert von einem der Papierstapel auf seinem Schreibtisch. »Also, hier ist dein Gehalt vom letzten Monat und noch dein Urlaubsgeld. Ich habe das Grundgehalt für einen Monat zusätzlich noch reingelegt. Nimm das Geld und das war’s, ja?«

Ich nahm das Kuvert, steckte es in meine Jacke und legte meine Dienstmarke und meine Mitarbeiterkarte vor Nino auf den Tisch. Ich hatte das Funkgerät vorhin – für den Fall der Fälle – an meinen Gürtel geklemmt und zog es nun mit einem Ruck heraus. Ich schmiss es zu den anderen Gegenständen.

Nino streckte mir seine Hand über den Tisch entgegen.

Nach kurzem Zögern schüttelte ich sie.

Kurz nach Mittag war ich wieder in der Stadt. Rick und Donald warteten vor der Treppe, die zu meiner Wohnung führte. Rick in voller Montur, mit schwarzer Lederjacke, dickem Pulli und umgedrehter Baseballcap. Er sah mich besorgt an. Donald, mit Anzug und Schlips, winkte mir kurz unbeholfen zu und lächelte nervös. Ich brauchte nichts zu sagen – sie wussten, dass ich gefeuert worden war.

»Mistkerle«, murmelte Rick.

Hilflos hob ich die Hände. »Ich bin selbst schuld. Ich kann nicht während der Arbeit wegrennen.«

»Geht’s dir gut?«, fragte Donald.

»Wird schon wieder.«

Rick kratze seine Bartstoppeln und drehte sich um. Ein schwacher, aber doch kalter Wind, der vom Wasser kam, wehte ihm ins Gesicht. »Einer der Türsteher, die nur Teilzeit arbeiten, hört nächste Woche auf«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Er hat schon gekündigt. Wenn du willst, kann ich dir einen Job beim Club verschaffen.«

»Danke, aber ich brauche erst mal eine Pause. Ich muss wieder auf die Beine kommen.«

Rick nickte. Sein Blick hing immer noch auf dem ruhigen Wasser und den langsam schwimmenden Enten. »Du hast ihnen nichts erzählt über ... Du weißt schon?«

»Klar, ich hab Nino gesagt, dass ich ausgerastet bin, weil mich die Geister eines kleinen Jungen und seiner Mutter gejagt haben.« Ich schüttelte den Kopf und hielt ihn ebenfalls in den Wind. »Abgesehen von den rosa Elefanten unter meinem Bett und den fliegenden Elfen in meinem beschissenen Teppich.«

»Ich hab den Eigentümer der Wohnung angerufen und ihm gesagt, dass einer meiner Kumpels meint, neulich eine Frau in der leeren Wohnung gesehen zu haben. Er hat jemanden von seiner Firma zum Nachsehen geschickt. Die Tür war abgesperrt, die ganze Bude verriegelt. Keine Spuren, dass jemand gewaltsam eingedrungen oder seit dem letzten Mieter in der Wohnung gewesen ist.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe, Rick.«

Er sah mich an. »Ich war dort. Ich bin in die Wohnung gegangen. Dort war niemand.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Ich sage ja nur, dass ...«

»Drauf geschissen, du musst dich entscheiden. Entweder bist du auf meiner Seite oder nicht.«

»Bist du dir sicher, dass es dieselbe Frau und dasselbe Kind waren?«

Ich zitterte am ganzen Körper. »Ja, absolut.« Aber in Wirklichkeit konnte ich mir über nichts mehr sicher sein. In Wirklichkeit hatte ich panische Angst, den Verstand verloren zu haben.

»Schon gut, schon gut«, sagte Donald. »Beruhigt euch beide.«

Rick drehte sich um und stapfte zu seinem Jeep. »Kommt!«

»Wohin fahren wir?«

»Donny hat Mittagspause«, antwortete er, ohne zurückzusehen. »Gehen wir was essen, dann können wir über alles reden.«

Fünf Minuten später hielten wir ein paar Straßen weiter, etwa einen halben Block von einem Vietnamesen entfernt, der auf seinem Schubwagen Hotdogs und Cola verkaufte.

Sowohl Rick als auch Donald kauften Hotdogs. Ich nahm eine Dose Coke. Wir hielten unser Mittagessen in den Händen und entfernten uns ein paar Meter, bis zum Eingang eines Stadtparks. Zum ersten Mal in jüngerer Geschichte war der Himmel wolkenlos, und die Sonne war trotz der kühlen Temperatur kräftig und wärmend. Ein Vorbote, dass der Frühlingsanfang nur noch ein paar Tage entfernt war. Obwohl um uns herum viel los war, standen wir doch abgeschieden genug, um unser Gespräch von vorhin ungestört fortsetzen zu können.

»Reden wir nicht um den heißen Brei herum«, sagte ich. »Ihr glaubt mir nicht, darauf läuft’s hinaus.«

Donald biss in seinen Hotdog und kaute kurz, bevor er antwortete. »Das hat niemand behauptet, Alan. Aber du musst zugeben, dass es zwischen den Albträumen, die wir alle hatten, und dem, was du beschreibst, einen großen Unterschied gibt. Die Träume sind seltsam, zweifellos, aber letztlich waren es nur Träume. Du redest jetzt von Dingen, die geschehen sind, als du wach warst.«

»Ich weiß nur eins: Wer auch immer diese Frau und das Kind sind, sie haben irgendwas mit Bernard zu tun.« Ich schlürfte meine Cola und schmiss den Rest dann in einen Papierkorb, der neben mir stand. »Offensichtlich versuchen sie, mich zu kontaktieren. Sie versuchen, mir etwas mitzuteilen.«

Rick und Donald blickten einander an, sagten aber nichts.

»Wisst ihr was? Ihr könnt mich doch beide!«

»Du hast gesagt, du hättest in der betreffenden Nacht getrunken«, sagte Donald. »Könnte das etwas mit den Vorfällen zu tun haben?«

Ich sah ihm ins Gesicht. »Oh, das meinst du jetzt aber besser nicht ernst!«

»Hör zu, ich meine bloß ...«

»Was? Was meinst du bloß, Donald?«

Die Anspannung hing in der Luft wie ein Leichentuch.

Rick nahm einen Bissen von seinem Hotdog, verzog das Gesicht und sah ihn an, als müsste er sich vergewissern, etwas Essbares in der Hand zu halten. »Du hast mir gesagt, dass in der Fabrik eine Menge unheimlicher Scheiß war«, brachte er schließlich hervor.

»Ja, da war Zeug an die Wand gemalt und es gab so was wie einen Altar.« Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Dort stimmt was nicht ...« Ich kann mich an das Schlimmste nicht mal mehr erinnern, wollte ich sagen, aber ich schaffte es nicht. »Da stimmt was nicht. Seht selber nach, wenn ihr mir nicht glaubt.«

Donald zwang sich, den Rest seines Hotdogs zu essen. »Sei nicht so gereizt. Wir haben nie behauptet, dir nicht zu glauben.«

Ich sah zu Rick. »Also, was machen wir jetzt?«

Der Frust und die Nervosität in seinem Gesicht waren beunruhigend. Ich war es gewohnt, Rick jähzornig zu erleben, aber seit dem Tag vor vielen Jahren, als er verurteilt worden war, hatte ich nicht mehr gesehen, wie er angesichts von Angst und Unsicherheit dermaßen bebte. »Ich hab keine Ahnung mehr, was für ein Scheiß hier los ist. In meinem Kopf sind Träume und Gedanken und dunkler Mist. Ich ... weiß nicht, was hier vor sich geht, aber irgendwas ist da. Als ob nichts mehr echt wäre. Alles ist verdammt verschwommen und ...«

»Unvollständig«, sagte ich.

»Finde ich auch.« Donald zündete eine Zigarette an und sah auf den Boden. »Mir geht’s auch so. Es kommt mir vor, als sollte ich mich an bestimmte Dinge erinnern, aber ich kann es nicht. Ich gebe mir Mühe, aber manchmal macht gar nichts mehr Sinn, verdammt.«

»Ich finde: Egal, was kommt«, sagte Rick, »wir halten zusammen. Wir halten zusammen und passen aufeinander auf, so wie immer. Wenn wir uns trennen oder miteinander zu streiten anfangen, sind wir geliefert.«

Ich nickte und freute mich, dass meine Freunde nun genauso wahnsinnig waren wie ich. Wenigstens würde ich nicht alleine in diesem Irrsinn untergehen.

Rick spuckte einen Bissen Hotdog aus und schleuderte den Rest zurück in Richtung des Verkäufers. »Die Dinger sind scheißekelhaft!«

Der Verkäufer sah verwirrt zu, wie die Reste des Hotdogs über den Fußgängerweg rollten.

»Bleib locker«, sagte Donald. »Mach hier keinen Aufstand.«

»Deine gottverdammte Wurst knackt, Mann!« Er zeigte auf den Verkäufer und erhöhte die Lautstärke seiner Stimme. »Erdnüsse knacken, du Wichser, aber keine Hotdogs. Verdammtes Schlitzauge! Wie kommt es überhaupt, dass du amerikanisches Essen verkaufst? Ihr Nieten kommt in dieses Land und ...«

»... schnappt euch all die tollen Jobs, wie an der Straßenecke Hotdogs verkaufen oder Obst pflücken für ein paar Pennys am Tag. Schweinehunde.« Donald schnippte die Zigarette davon und berührte Rick am Ellenbogen. »Komm schon, du musst mich zurück zur Arbeit fahren.«

Rick riss seinen Arm los und begann, langsam aber bedrohlich auf den Hotdog-Verkäufer zuzulaufen. »Hast du mich angeguckt, du elender Schwanzlutscher?«

»Ich kann es nicht tolerieren, wenn er sich so benimmt«, sagte Donald. »Er ist ein verdammtes Kind.«

»Komm schon, Alter«, sagte ich und trat zwischen ihn und den Verkäufer, der sich bereits auf den Weg zur nächsten Straßenecke gemacht hatte. »Lass es nicht an ihm aus. Verschwinden wir von hier.«

Rick starrte mich wütend an. Er sah so aus, als könnte er buchstäblich explodieren, wenn er nicht gleich auf etwas einschlug. Für einen Moment dachte ich, dieses Etwas könnte ich sein, aber er wirbelte herum, stürmte zurück zu dem Jeep und versetzte stattdessen dem Auto einen Hieb.

Die Fahrt zu Donalds Bürogebäude verlief schweigsam und unbehaglich. Nach einigen kurzen Standard-Verabschiedungen fuhren Rick und ich weiter zu meiner Wohnung. Er parkte in der Nähe der Gleise. Wir saßen eine Weile im Auto, ohne etwas zu sagen.

»Ich hätte da eben nicht so ausrasten sollen«, sagte er schließlich. »Ich werde bloß ... du weißt schon, der ganze Scheiß staut sich auf und ...«

»Es ist vorbei … Mach dir keine Gedanken darüber.«

»Vielleicht werden wir alle ein wenig verrückt.«

»Vielleicht.«

In seinen Augen war Zorn zu erkennen, sein Widerstand gegen die Angst. »Was zum Teufel geht hier vor sich?«

»Ich weiß nicht. Aber ich glaube, du hattest recht: Was auch immer es ist, irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Und wir durchschauen noch nicht mal die Hälfte davon.«

»Meinst du, dass wir irgendwann alles verstehen werden?«

»Ja«, sagte ich. »Ob wir es wollen oder nicht.«

Kapitel 9

Blinzelnd öffnete ich meine Augen, tauchte von einer Dunkelheit in die nächste ein. Das wenige, was ich in unserem Schlafzimmer erkennen konnte, nahm langsam Konturen an. Das Rollo war heruntergezogen, aber dennoch drang genug Mondlicht in das Zimmer, um einen Teil der gegenüberliegenden Wand zu beleuchten. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich geschlafen hatte, aber es musste spät sein. Ich hatte wieder eine dieser elenden Tabletten genommen und war in einen Schlaf ohne Träume gesunken. Obwohl ich nun völlig wach war, wusste ich, dass die Nachwirkungen des Beruhigungsmittels noch eine Weile anhielten. Die Bettdecke war aufgeschlagen und lag zerknautscht um meine Füße gewickelt. Auf Tonis Seite war die Decke säuberlich gefaltet und an den Seiten immer noch zwischen Matratze und Bettrahmen gesteckt. In der Dunkelheit konnte ich sehen, dass die Schlafzimmertür einen schmalen Spalt offen stand, und zwischen der Türkante und dem Rahmen drang ein schwaches Licht hervor. Ich rieb mir die Augen. Meine Lider waren immer noch schwer, und ich gab ein lang gezogenes Gähnen von mir.

Irgendwo draußen heulte eine Sirene auf und verstummte wieder. Dann hörte ich gedämpft Tonis Stimme. Ich lag regungslos da und lauschte. Sie sprach am Telefon in der Küche, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Der Boden knarrte gelegentlich, während sie auf und ab ging. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber sie klang bedrückt.

Ich konzentrierte mich auf meine Füße, dort unten am Ende des Bettes. Im Dunkeln sahen sie so blass aus, so weiß und blutleer, als wären sie aus Elfenbein geschnitzt.

Eines Tages werde ich nackt sein und so daliegen wie jetzt, dachte ich. Aber anstatt im Bett zu liegen, werde ich auf einen kalten Metalltisch gehievt worden sein. Jemand, den ich nicht kenne und wahrscheinlich niemals zuvor getroffen habe, wird sich über mich beugen, meinen Körper vorbereiten, ihn entweihen. Wie würde sich das anfühlen? Würde ich wissen, was mit mir geschah, würde es mich überhaupt kümmern?

Ich fragte mich, ob andere Leute auch ihren Körper betrachteten und sich über dieselben Dinge Gedanken machten.

Mein Blick wanderte zu dem Nachttisch und der ausgeschalteten Lampe, der in Leder gebundenen Bibel, über der ein Rosenkranz hing, und dem Radiowecker. Sie befanden sich dort allesamt schon seit Ewigkeiten. Wann hatte man all diese Gegenstände hergestellt? Höchstwahrscheinlich würden sie – sofern man sie nicht absichtlich zerstörte – in der einen oder anderen Form auch noch lange, nachdem es mich nicht mehr gab, existieren.

Die Ereignisse der letzten Tage liefen in schneller Abfolge vor mir ab. Als sich die Bilder beruhigten, blieb meine Erinnerung bei Rick hängen, daran, was für einen Aufstand er heute gemacht und den armen Hotdog-Verkäufer angeschrien hatte – wie ein Teenager mit Testosteronüberschuss. Wir waren sehr verschieden, Rick und ich, und obwohl mich einige seiner Charakterzüge abstießen, bewunderte ich andere wiederum. Ich besaß nicht die Disziplin, fünf Tage die Woche ins Fitnessstudio zu gehen und täglich drei Meilen zu laufen. Ich konnte nichts mit seiner Faszination dafür anfangen, den Körper schön zu halten, ebenso wenig wie mit seinem zwanghaften Wunsch, auf ewig jung zu bleiben. Ich hatte mich nie nach Unsterblichkeit gesehnt. Aber für Rick unterschieden sich das Leben und das Alter nicht von den anderen Spielen, die er gemeistert hatte. Für ihn waren sie Gegner, und er spielte, um zu gewinnen.

An manchen Tagen wirkte das wie der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen und das Jahr auszulöschen, das er im Gefängnis verbracht hatte, die Uhr einzufrieren und zu leben wie die Person, die er gewesen war, bevor alles den Bach runterging. Rick sprach nie über seine Zeit hinter Gittern, und ich hatte das immer respektiert. In vielerlei Hinsicht verehrte ich Rick, obwohl ich dabei ein schlechtes Gewissen hatte. Er konnte Sachen tun, zu denen ich nicht imstande war, und doch schien es oft so, als täte er sie, um sich selbst etwas zu beweisen, das allen anderen bereits glasklar war. Mit achtzehn hätte ich nicht einmal eine Woche in einem Hochsicherheits-Gefängnis überlebt, und mit Ende dreißig hatte ich weder den Mumm noch das Verlangen, auf eine Wildwasser-Schlauchboot-Tour zu gehen, Fallschirm zu springen oder auf einen Berg zu klettern, so wie Rick es gelegentlich tat. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie es sich anfühlte, ein Mädchen im Arm zu halten, mit der man lediglich ein paar Stunden verbringen wollte, oder wie es war, innerhalb einer Woche mit mehr als einer Person zu schlafen. Diese Art von einsamer und inhaltsleerer Freiheit war für mich eine so verschwommene Erinnerung, dass ich mich fragte, ob sie überhaupt jemals einen wirklichen Teil meines Lebens bildete. Trotz allem hätte Rick niemals gedacht – wie Bernard es so grausam auf der Kassette ausgesprochen hatte –, sein Leben als Türsteher des örtlichen Nachtclubs verbringen zu müssen. Im Moment gab ihm sein Lebensstil noch den nötigen Schneid, ein Werkzeug, das zum Überleben notwendig war. Aber jüngere und stärkere Männer würden ihm bald den Job streitig machen, falls sie das nicht bereits taten, und ihn rauswerfen. Und dann würden ihm das gute Aussehen, die aufgepumpten Muskeln, seine Unabhängigkeit und das Harter-Typ-Getue auch nicht mehr helfen. Selbst wenn es unvorstellbar schien: Eines Tages würde Rick alt sein und sich nicht mehr auf seine körperlichen Kräfte verlassen können. Er würde zugeben müssen, genauso verängstigt und unsicher zu sein wie alle anderen auch, bloß eine weitere verlorene Seele, die versuchte, ihren Weg zu finden.

Vielleicht war dies die Quelle seines Zorns. Seine Wut darüber, welchen Verlauf das Leben genommen hatte, und Angst davor, was vor ihm lag. Rick war schon immer gewalttätig gewesen, solange ich ihn kannte. Lag es an dem andauernden Druck, dem Bild eines Supermanns zu entsprechen, das er von sich geschaffen hatte? Oder gab es bestimmte Ereignisse, die in der Vergangenheit verborgen lagen und eine bessere Erklärung boten?

Mir fiel der Tag mit Bernard im Wald ein. War dort draußen etwas vorgefallen? Hatte Bernard in dem Wald Julie Henderson etwas angetan? Hatte Rick ihm geholfen? Hätte Rick so etwas getan – hätte er sogar damals so etwas tun können, mit dreizehn? Ich schloss die Augen, versuchte, mich durch all die Jahre zurückzuerinnern. Soweit ich wusste, war Julie im folgenden September aufs College gegangen. Sie war viel älter als wir gewesen, ich kannte sie kaum. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie nach diesem Sommer in der Stadt gesehen zu haben, und meine Freundschaft mit ihrem Bruder war eingeschlafen, sodass ich nicht einmal mehr in nebensächliche Informationen über Julies Leben eingeweiht wurde. Aber wäre etwas passiert, dann hätte es für viel Aufsehen in Potter’s Cove gesorgt. Jeder hätte davon gewusst, eine Anklage wäre erhoben worden, gesetzt dem Fall, dass sie es jemandem gesagt hatte.

Sie verraten nie etwas.

Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar und richtete meinen Blick auf die Zimmerdecke.

Dinge, die ich niemals hinterfragt hatte, schienen nicht mehr uneingeschränkt zu gelten. Hatte Bernard auf der Kassette mit viel mehr recht, als es einer von uns zugeben wollte? War auch nur ein einziger von uns das, was er zu sein schien? War ich einfach ein Arschloch, weil ich glaubte, dass Rick in der Lage wäre, solche Dinge zu tun? Oder war ich naiv, weil ich nie kapiert hatte, dass Bernard dazu fähig war?

Ich versuchte mir vorzustellen, was Rick in genau diesem Augenblick wohl tat, aber meine Gedanken wanderten stattdessen zu Donald.

In vielerlei Hinsicht hatte ich Donald immer nähergestanden als Rick, aber er konnte – wie Bernard – manchmal schrecklich unnahbar sein. Der Unterschied zu den Geheimnissen, die Bernard gelegentlich umgaben, bestand darin, dass solche nie in Donalds Verhalten auffielen. Wenn er sich von uns distanzierte, dann immer deswegen, weil er seine Privatsphäre haben wollte und nicht, weil er etwas zu verbergen hatte. Außerdem war er der exakte Gegensatz zu Rick, da er der gewaltfreiste Mensch war, dem ich je begegnet war. Ich konnte mich an keinen einzigen Vorfall erinnern, bei dem Donald seine Hand im Zorn gegen jemanden erhoben hätte. Seine Waffe war stets sein Verstand gewesen. Eine Waffe, die er oft benutzt hatte, bis Tommy starb. Nach Tommys Tod war keiner von uns mehr ganz derselbe geblieben, in Donald jedoch wurde jeglicher kindlicher Wesenszug auf der Stelle ausgelöscht – zusammen mit dem letzten Rest von ungläubigem Staunen über die Welt, der noch in ihm lebendig geblieben war.

Ich erinnerte mich daran, wie ich am Tag von Tommys Beerdigung mit Donald am Strand entlangspazierte. Wir gingen den menschenleeren Sandstreifen wiederholt auf und ab, sagten nur sporadisch etwas und dann auch nur in knappen Sätzen. Irgendwann entdeckte Donald eine angefaulte Grapefruit im hohen Gras am Rande des Strands. Er hob sie auf und hielt sie mir mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck entgegen, einer Mischung aus Tränen und Zorn. Ich sah ihn fragend an. »Nimm sie schon«, sagte er leise, mit kaum hörbarer Stimme. »Nichts sollte jemals verschwendet werden.«

Obwohl die Frucht schon faulte, obwohl sie bereits verschwendet worden war, nahm ich sie und hielt sie bei mir, bis wir den Strand verließen und nach Hause zurückkehrten. Erst als Donald verschwunden war, er es also nicht mitbekam, schmiss ich die Grapefruit weg. Selbst da hatte ich noch ein schlechtes Gewissen, denn Donald hatte recht. Nichts sollte je verschwendet werden. Keine Grapefruit und auch nicht das Leben eines Jungen.

Donald ging danach wie geplant aufs College, aber er war nicht mehr mit dem Herz bei der Sache. Aus seiner Begeisterung und seinen Hoffnungen für die Zukunft wurden Erinnerungen, unerfüllte Träume, die tot und mit Tommy beerdigt waren. Er begann, mehr zu trinken. Ich vermutete, dass sein Problem schon länger schwärte, obwohl es ihm eindeutig erst in letzter Zeit richtig außer Kontrolle geraten war.

Ebenso wie Rick hatte Donald nur wenige wirklich ernsthafte Beziehungen gehabt, aber im Gegensatz zu ihm wechselte er nicht ständig den Partner. Wenn er nicht mit uns rumhing, blieb er meistens alleine. Im Laufe der Jahre erwähnte er nur ein paar Männer, mit denen er sich getroffen hatte, die aber allesamt eher Gelegenheitsbekanntschaften waren – beiläufige Verabredungen oder Freunde, keine richtigen Lebensgefährten.

Wie Bernard auf der Kassette gesagt hatte, gab es zu Highschoolzeiten mal jemanden, aber das nahm anscheinend ein schlimmes Ende und verstärkte Donalds Zynismus und Depression nur noch. In gewisser Weise versteckte er sich seitdem. Sogar in einem Raum voller Menschen wirkte er hoffnungslos allein gelassen, obwohl man ihn nicht mied, sondern er war es, der sich bewusst zurückzog, wie in dem Glauben, als Einziger zu erkennen, wie sinn- und hoffnungslos das Dasein manchmal war.

Donald hatte eine Menge Dinge aufgegeben, sein scharfsinniger Witz und seine Fähigkeit zum Mitleid gehörten nicht dazu. Obwohl er seinen Humor im Laufe der Jahre gedämpft hatte, blieb er doch ein großer Bestandteil seiner Persönlichkeit, ebenso wie seine aufrechte Sorge um andere. Er war ein zutiefst komplexer Mann, und so gut ich ihn auch kannte, fragte ich mich manchmal, ob er immer da sein würde, am anderen Ende der Telefonleitung, auf der anderen Seite der Tür. Ebenso wie Rick und – ein wenig – wie ich, war er jemand, der viel mitgemacht hatte, und das trotz seines Verhaltens, nicht aufgrund seines Verhaltens.

Aber vielleicht war Donald doch keine Ausnahme. Wusste er etwas darüber, was vor sich ging, und behielt es für sich? Teilte er ein Geheimnis mit Bernard, so wie Rick es eventuell tat? Könnte das der Grund sein, warum es in den letzten Monaten zunehmend bergab mit ihm ging?

Ich richtete mich auf und schwang langsam meine Füße in Richtung Boden. Meine übertriebene Paranoia wurde von einem kurzen Schwindelanfall verdrängt. Ich schloss meine Augen und sah, wie mich die Gesichter des kleinen Jungen und seiner Mutter anstarrten.

Ich öffnete die Augen. Der Raum drehte sich nicht mehr.

Ich hatte über die anderen nachgedacht und sie in meinen Gedanken verdächtigt und verraten. Doch was war mit mir selber? Gab es etwas, das ich wusste, das ich mit Bernard teilte, ohne mir dessen bewusst zu sein?

Bevor ich tiefer in meinem Verstand graben konnte, hörte ich, wie das Telefon in der Küche aufgehängt wurde. Daraufhin tapste Toni auf das Schlafzimmer zu.

Als sie die Tür öffnete, zuckte sie kurz zusammen, erlangte aber schnell wieder ihre Fassung zurück. »Ich dachte, du schläfst«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Du hast mich erschreckt.«

»Bin gerade aufgewacht. Diese Tabletten hauen mich total um.«

»Deswegen verschreibt Gene sie ja auch. Sie helfen gegen Nervosität«, erklärte sie. »Er hat gesagt, dass sie dir beim Einschlafen helfen würden.«

»Da hat er sich nicht getäuscht.« Ich massierte mir den steifen Nacken. »Wie spät ist es?«

»Kurz nach zehn.«

»In der Nacht, oder?«

»Ja, Schatz, in der Nacht.« Toni schritt zum Fenster und ließ das Rollo nach oben schnellen.

Ich blickte auf das Mondlicht, dann zurück zu ihr. Ihr Unbehagen war so deutlich zu spüren, dass ich es beinahe anfassen konnte. »Das mit dem Job tut mir leid.«

»Du kannst jederzeit einen neuen Job finden.«

»Ich war selbst schuld, aber Nino hat mich nur gefeuert, weil Petey ihn gezwungen hat. In ein paar Wochen wird er mich anbetteln zurückzukommen. Wo wollen sie jemanden finden, der so verlässlich und loyal ist wie ich? Außerdem habe ich eine nette Abfindung bekommen, davon werden wir uns eine Weile über Wasser halten können.«

Toni bewegte sich mit einem vorsichtigen Ausdruck auf mich zu, den ich noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Sie setzte sich neben mich aufs Bett. »Alan, wir müssen reden.«

»Das tun wir doch gerade.«

»Ich meine über das, was neulich Nacht geschehen ist.«

Ich nickte. Sie hatte viel geraucht, das konnte ich riechen. »Pass auf, ich habe dir alles, was passiert ist, so gut wie möglich erzählt ...«

»Ich habe mit Gene über die Sache gesprochen und ...«

»Was? Warum hast du das getan, ohne zuerst mit mir zu reden?«

»Liebling, er ist ein Psychiater, das ist sein Beruf.«

Ich stand auf und meine Beine zitterten. »Das geht ihn einen Scheiß an. Verdammt noch mal, Toni, weshalb muss Gene jedes Fitzelchen aus unserem Privatleben erfahren? Du arbeitest für ihn. Er ist aber kein Familienmitglied. Ich würde ihn nicht einmal als Freund bezeichnen.«

»Nun, ich schon.« Ihr dichtes, kurz geschnittenes Haar war durcheinandergewirbelt. Sie wischte sich eine widerspenstige Strähne aus den müden, mit Mascara verschmierten Augen. »Er macht sich Sorgen um dich, Alan, und ich auch.«

Ich stand da, trug lediglich meine Boxershorts und war mir nicht sicher, was ich mit mir anfangen sollte. »Ich bin durchgedreht, okay? Mir geht’s gut.«

»Ich finde nicht ...«

»Das ist alles, Ende der Geschichte.«

Sie sah auf den Boden. »Ich habe Angst, Alan.«

»Ich auch.«

»Ich habe Angst vor dir

Ich spürte, wie sich mein Hals zuschnürte. »Meine Güte, Baby, komm schon!« Ich sank auf die Knie und legte meine Hände in die ihren. »Du weißt doch, dass ich dir nie etwas antun würde.«

Ihre Augen schimmerten vor Tränen, und ihr ganzer Körper bebte. »Neulich Nacht ... Ich habe dich noch nie so erlebt. Du hast vor dich hin gebrabbelt und behauptet, dass all diese verrückten Sachen passiert sind, und ich konnte dich nicht beruhigen oder mit dir reden. Du hattest dich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle, du hattest einen Zusammenbruch. Das ist nicht normal, Alan. Das ist nicht gesund

»Mir geht’s gut«, versicherte ich. »Ich verspreche es dir, mir geht es gut.«

Sie zog eine Hand zurück und rieb sich die Augen. »Gene meint, dass es dir sehr helfen könnte, wenn du zu ihm gehst und mit ihm besprichst, was in der Nacht vorgefallen ist.«

»Hältst du mich für einen Patienten?« Ich ließ ihre Hände los und stand auf. »Gene. Was zum Teufel weiß er denn von dem Ganzen? War er das gerade eben am Telefon?«

»Ja, wir ...«

»Du verstehst dich ganz schön gut mit dem Arschloch, was?«

Ihre Gesichtszüge entgleisten, über ihre geröteten Wangen liefen weitere Tränen. »Was soll das bitteschön bedeuten?«

Ich ging zum Fenster. »Sag ihm, er soll sich um seinen eigenen Scheiß kümmern.«

»Ich habe ihn um Hilfe gebeten, Alan.«

»Na, dann hör auf, ihn um Hilfe zu bitten. Lass ihn gefälligst aus der Sache raus.« Ich packte den Fensterrahmen an beiden Seiten, um etwas mit meinen Händen zu tun. Andernfalls hätte ich sie einfach gegen die Wand gerammt. »Ich bin nicht so ein Spinner, der einen Psychiater braucht. Ich bin keiner von seinen scheißgestörten Patienten.«

»Das habe ich auch nie behauptet«, antwortete sie mit sanfter Stimme. »Ich habe mir bloß gedacht, dass es eine gute Idee sein könnte, mit ihm darüber zu reden, das ist alles.«

»Über was genau zu reden?« Ich stieß mich von dem Fenster ab und drehte mich wieder zu ihr um. »Über was? Worüber sollen wir uns zuerst unterhalten. Vielleicht über meine Albträume? Oder dass Bernard eventuell irgendein gestörter Psychopath war, und zwar seit Jahren? Dass alle Anzeichen dafür die ganze Zeit vor unserer Nase waren, aber wir sie lieber übersehen haben? Dass niemand von uns – mich eingeschlossen – das ist, für den ich ihn immer gehalten habe? Dass ich Leute sehe, die es nicht gibt? Tote Frauen und kleine Jungs in der Dunkelheit. Das ist doch ein gutes Thema. Oder wie wäre es damit, dass ich über weitere Dinge Bescheid weiß, die sich in der Fabrik zugetragen haben, böse Dinge, an die ... ich mich nicht erinnern will, Toni, ich ... Herr im Himmel, die würden mich einsperren ...«

Anfangs schluchzte ich nur, aber schon bald darauf konnte ich es nicht mehr zurückhalten und heulte hemmungslos. Wortlos breitete Toni ihre Arme aus. Ich ging schnell zu ihr. Wir hielten einander lange Zeit fest, Arm in Arm, und unsere Tränen vermengten sich.

Ich hielt ihr Gesicht in meinen Händen und sah ihr in die Augen. »Ich muss die Sache selber in den Griff bekommen. Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber etwas geht wirklich vor sich, und das bilde ich mir nicht ein. Es ist wirklich so. Ich bin nicht verrückt.«

»Ich habe nie gesagt, dass du verrückt bist. Aber wir haben Probleme, du ...«

»Ich komme schon klar. Ich muss jetzt die Wahrheit herausfinden. Ich kann sie nicht länger ignorieren, sie ... sie lässt das nicht zu, verstehst du?«

Sie versuchte zu lächeln, als sie meine Wange berührte, und jetzt bemerkte ich zum ersten Mal, dass sie nur ein langes T-Shirt und einen Slip trug. Durch den dünnen Stoff war die dunkle Tönung ihrer Brustwarzen zu sehen. Sie waren aufgerichtet und drückten gegen den Stoff, als wollten sie entkommen. Toni sah so hilflos und verängstigt aus in dem Mondlicht, als hingen ihre Sicherheit und ihre geistige Gesundheit allein von mir ab. Möglicherweise war es auch so. »Ich liebe dich«, sagte ich. »Egal was passiert, ich werde dich immer lieben.«

Ihre sanften Hände strichen über meine Schenkel, ihr warmer Atem kitzelte mich am Hals. Wenige Augenblicke später sah ich Toni über mir. Sie blinzelte langsam. In ihren Augen spiegelte sich unsere gemeinsame Vergangenheit wider. Ihre Zunge schnalzte über meine Wange und rutschte in mein Ohr. Ich schlang die Arme um sie und knetete ihre straffen Pobacken, dann ließ ich meine Hände über ihren Rücken zu den Schultern wandern. Ich spürte, wie ich zwischen ihren Beinen hart wurde, zwischen einem weichen Haarbüschel. Sie drückte sich fest an mich, hob die Hüfte, bog den Rücken durch, nahm mich tiefer in sich auf, drückte noch mehr, ihr Körper bewegte sich wie eine Python, während sie ihren Rücken gerade aufrichtete und auf mir hockte. Sie blickte mir in die Augen, als fürchte sie, mich in der Dunkelheit zu verlieren.

Anschließend lag sie neben mir. Ich spürte ihr Herzklopfen. Ihre Finger zeichneten behutsam die Konturen meiner Brust nach, während wir uns still in den Armen hielten und verschwitzt und außer Atem auf dem Bett lagen. Das war das erste Mal seit ziemlich langer Zeit gewesen, dass wir miteinander geschlafen hatten. Die Frage drängte sich mir auf, ob es vielleicht daran lag, dass sie Angst hatte, es könnte das letzte Mal sein.

Alles rieselte wie Regen auf mich ein: der Keller, das Foto der Frau, die keiner von uns kannte, die Kassette, die Albträume, die Spukgestalten, die verlassene Fabrik. Der Wahnsinn. »Bernard war nicht das, für was wir ihn gehalten haben«, sagte ich leise. Toni kuschelte sich näher an mich, antwortete aber nicht. Ich wusste, dass sie mir immer noch nicht glaubte, aber andererseits war ich mir nicht sicher, ob das überhaupt jemand tat.

Jedenfalls nicht, bis der Winter dahinschmolz, zum Frühjahr wurde, und die erste Leiche auftauchte.

FRÜHLING