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Martina Hoblitz

Kurzgeschichten

Kleine Geschichten um die Liebe


Worte der Autorin: Mit diesen Geschichten hat alles angefangen. Und mit dem Glauben einer (leider schon verstorbenen) Deutschlehrerin an mein Talent. Im Andenken widme ich dieser Dame diese kleine Sammlung!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

KURZGESCHICHTEN

 

von Martina Hoblitz

 

 

 

Inhaltsangaben:

 

AUGE UM AUGE = Frustrierte Ehefrau trifft auf einem Klassentreffen ihre alte Jugendliebe.

 

TRÜBE AUSSICHTEN = Kleine Schwärmerei einer jungen Frau in ihrem total verregneten Urlaub.

 

REIF FÜR DIE LIEBE = Frau entwickelt falsche Gefühle für neuen Praktikanten.

 

WARUM SOLL ICH SCHWEIGEN? = Klatschreporterin sieht in ihrem neusten ihre Jugendliebe wieder.

 

MEIN HERZ WAR EINGESPERRT = Korrespondenz mit einem Gefängnisinsassen führt zu einer erstaunlichen Erkenntnis.

 

ADEL VERZICHTET = Russischer, adeliger Immigrant arbeitet als Hotelportier und verliebt sich in Zimmermädchen.

 

BITTE LÄCHELN! = Fotomodel mit Essstörungen lässt sich von Fotografen bekehren.

 

SCHICKSALSTAXI = Taxifahrer chauffiert leicht verwirrte Frau.

 

LIEBE, EINE HIMMELSMACHT? = Prostituierte verliebt sich ernsthaft in Mann mit falschem Beruf.

 

EINE PLEITE NACH DER ANDEREN = Ungewöhnliche Geschäftsidee mit interessanten Folgen.

 

 

 

AUGE UM AUGE

 

 

‚Irgendwann verläuft wohl jeder Weg in einer Sackgasse!’ philosophierte ich, als ich die Einladung zum Klassentreffen erhielt.

 

Nach über 20 Jahren würde ich meine ehemaligen Mitschüler wieder sehen, aber ich überlegte ernsthaft, ob ich überhaupt zusagen sollte. Man wusste ja, wie sich solche Treffen gewöhnlich abspielten. Jeder versuchte so viel wie möglich anzugeben; entweder mit einem fabelhaften Beruf, oder mit einer perfekten Familie.

 

Nun, ich konnte weder das Eine noch das Andere vorweisen. Meine Ausbildung hatte ich abgebrochen, als unser erstes Kind unterwegs war. Damals erschien es mir selbstverständlich, in der Hauptsache für die Familie da zu sein, statt die Karriereleiter zu erklimmen.

 

 

Julian und ich lernten uns auf der Universität kennen. Er war Medizinstudent kurz vor dem Abschluss, und ich hatte gerade begonnen, Pharmazie zu studieren; ich wollte Apothekerin werden.

 

Die Liebe schlug ein wie ein Blitz, und nach nur wenigen Monaten schmiedeten wir schon Zukunftspläne. Wir beschlossen zu heiraten, wenn Julian sein Studium beendet hatte, und erst wenn auch ich mit meiner Ausbildung fertig würde, wollten wir an Kinder denken.

 

Aber meine ungewollte Schwangerschaft machte uns einen Strich durch alle unsere schönen Pläne. Ich rechnete es Julian hoch an, wie ruhig und besonnen er auf meine unverhoffte Mitteilung reagierte. Sofort betonte er, ich sollte ja keinen Gedanken an Abtreibung verschwenden! Das käme überhaupt nicht in Frage! – Stattdessen bestand er darauf, gleich zu heiraten. Was wir auch taten.

 

Als unser aufgeweckter kleiner Sohn Norbert gerade 3 Jahre alt war, machte Julian sein Staatsexamen, und erneut kündigte sich Nachwuchs an.

 

Pünktlich zum errechneten Termin schenkte ich einer gesunden Tochter das Leben, und von nun an stellte ich mich voll und ganz in den Dienst der Familie und hängte meine eigenen beruflichen Wünsche endgültig an den Nagel. Trotzdem konnte ich nicht verhehlen, dass ich mich manchmal nach anderen Aufgaben sehnte, als immer nur kochen, putzen, waschen. Mit der Zeit lernte ich jedoch, diese Sehnsüchte zu unterdrücken.

 

Julian wurde ein sehr erfolgreicher und angesehener Augenarzt, dessen mikrochirurgische Fähigkeiten sogar in der Uni-Klinik gefragt waren, sodass er neben seiner florierenden Praxis dort auch hin und wieder komplizierte Operationen durchführte. Zwar war ich sehr stolz auf ihn, aber oft beneidete ich ihn auch. Ich war ja nur die Frau des netten Doktors, ein Anhängsel, das nicht weiter zählte.

 

Und so behandelte mich Julian bald auch. Immer häufiger kehrte er den Pascha heraus und gab mir zu verstehen, dass ich nur zu funktionieren hatte; als liebevolle Mutter seiner Kinder, als unterwürfige Ehefrau und als perfekte Gastgeberin für seine Doktorfreunde. – Schon lange kam ihm kein liebes Wort mehr über die Lippen. Im Gegenteil! Trotz meiner Bemühungen, ihm alles recht zu machen, erntete ich meist nur Tadel, er fand immer etwas zu bemängeln.

 

Aber wenigstens beherrschte er sich gegenüber den Kindern, damit sie mich nicht auch noch für ein naives Dummchen hielten. So stellte er mich nämlich immer dar, vor allem bei seinen Kollegen.

 

Doch ich beklagte mich nicht, denn ich war schlichtweg zu feige, um aufzubegehren und nahm mein angepasstes Leben als unbedarftes Hausmütterchen einfach so hin. – Ja, ich schluckte sogar seine zahllosen Seitensprünge, nur um den Schein zu wahren!

 

Zum Glück entwickelten sich unsere beiden Kinder prächtig und gaben uns keinerlei Grund zur Sorge. Norbert machte ein ausgezeichnetes Abitur und studierte – wie sollte es auch anders sein? – Medizin. Und unsere Tochter Bettina stand kurz vor ihrem Schulabschluss. Ihre Noten waren ebenfalls ausgezeichnet. Allerdings hatte sie noch keine genauen Zukunftspläne.

 

Sie wohnte noch zuhause, im Gegensatz zu Norbert, der in einer anderen Stadt in einer Studentenbude hauste. Regelmäßig alle 14 Tage tauchte er jedoch bei uns auf und brachte mir bündelweise Schmutzwäsche mit. Dann aß er sich richtig satt, ließ sich von vorne bis hinten verwöhnen und haute mit frischer Wäsche wieder ab.

 

Grundsätzlich war ich ganz froh, dass ich noch für die Kinder sorgen konnte. So war ich doch wenigstens beschäftigt. Nichts fürchtete ich mehr als den Tag, an dem sie endgültig das Haus verlassen würden und ich mit Julian alleine war! ---

 

--- Ratlos drehte ich den Einladungsbrief in meinen Händen. Der eigentliche Grund meines Zögerns, an diesem Treffen teilzunehmen, hieß Holger, meine Jugendliebe.

 

Wir kannten uns seit der Grundschule und lange betrachteten wir uns nur als gute Freunde. Doch irgendwann unbemerkt kam da mehr Gefühl ins Spiel, aber wir wagten es nicht, uns gegenseitig diese Veränderung zu gestehen.

 

Nach der Schulzeit verloren wir uns dann aus unerfindlichen Gründen aus den Augen. – Dann trat Julian in mein Leben, und ich vergaß Holger. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Aber seltsamerweise hatte ich gerade in letzter Zeit häufig an ihn gedacht. –

 

 

Das Verhältnis zwischen Julian und mir war zurzeit äußerst gespannt. Nicht dass wir uns stritten, es kam noch nicht einmal zu Diskussionen, aber leise und unauffällig entfernten wir uns gefühlsmäßig immer weiter voneinander weg. – Ich sehnte mich nach Nähe und Zärtlichkeit, doch Julian zeigte mir die kalte Schulter. So kam es, dass plötzlich Holger durch meine Gedanken spukte.

 

Was wohl aus ihm geworden war? Ob er auch zu dem Klassentreffen kommen würde? Vielleicht hegten wir beide dieselbe stille Hoffnung, uns dort endlich wieder zu sehen?

 

Doch Kopf schüttelnd sagte ich zu mir: „Schlafende Hunde soll man nicht wecken!“ und warf den Umschlag samt Einladungskarte in den Papierkorb.

 

Aber ich hatte nicht mit der Neugierde meiner Tochter gerechnet! ---

 

--- Beim Abendessen holte Bettina den zerknitterten Umschlag aus ihrer Hosentasche und schob ihn mir über den Tisch hinweg zu, wobei sie sagte: „Den fand ich im Papierkorb. Ja, willst du denn nicht dahin? Oder warum hast du die Einladung weg geschmissen?“ – „Worum geht’s denn hier?“ wollte Julian Stirn runzelnd wissen.

 

Mein vernichtender Blick prallte an Bettina ab, und sie antwortete an meiner Stelle: „Mama hat eine Einladung zum Klassentreffen gekriegt. Aber scheinbar will sie nicht hin. Dabei wär das doch ´ne nette Abwechslung für sie.“ – „So, so, ein Klassentreffen?“ murmelte mein Mann und sah mich durchdringend an.

 

Natürlich wusste er von Holger, denn weshalb sollte ich ein Geheimnis daraus machen, schließlich war ja nichts zwischen uns gewesen. Ernst erwiderte ich Julians Blick und wartete auf seine Reaktion, die mich allerdings verblüffte.

 

„Warum willst du nicht hin? Betty hat Recht! Es täte dir gut, mal aus den 4 Wänden rauszukommen.“ – „Willst du mich nicht begleiten? Partner sind ebenfalls erwünscht.“ meinte ich zaghaft.

 

Doch ich ahnte bereits, was kommen würde.

 

„Wann soll das Ganze denn stattfinden?“ erkundigte er sich, und ich nannte ihm das Datum.

 

Prompt schüttelte er bedauernd den Kopf. Wie erwartet hatte er gerade für dieses Wochenende andere Pläne.

 

„Da muss ich zu einer Ärztetagung nach Berlin!“ behauptete er.

 

Mir war völlig klar, dass diese Tagung nur ein Vorwand war, um mit seiner neusten Liebschaft ein vergnügliches Wochenende zu verbringen. Ich wusste immer von all seinen Affären, aber ich spielte die Naive und schluckte kommentarlos seine Lügen. So auch jetzt. Mit unschuldsvoller Miene sagte ich: „Schade! Weißt du, allein hab ich keine rechte Lust.“

 

Ich konnte jedoch nicht verhindern, dass eine gewisse Enttäuschung in meiner Stimme mitschwang. Da rief mein holder Gatte ungeduldig: „Unsinn! Natürlich fährst du allein! Stell dich doch nicht an wie ein unmündiges Kind!“

 

Ich erschrak wegen dieses Tadels, zumal er es wagte, mich vor unserer Tochter zu maßregeln. Bettina parierte sofort: „He, Papa! Du brauchst Mama deswegen nicht gleich beleidigen! Sei lieber froh, dass sie so großen Wert auf deine Gesellschaft legt! Was ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht verstehe. Allein würd sie sich viel besser amüsieren.“

 

Sie grinste mich fröhlich an, doch mir war ganz unbehaglich zumute. Da diskutierten meine Tochter und mein Mann über eine Entscheidung, die eigentlich nur mich allein etwas anging. Sollte ich mir das gefallen lassen? – Natürlich gab ich wie immer nach! – Seufzend schob ich den Umschlag unter meine Serviette und verkündete: „Also gut, ich fahre! Ganz wie ihr wollt.“

 

Damit war das Thema abgehakt, und wir beendeten die Mahlzeit in ungemütlichem Schweigen. ---

 

--- Zugegeben, je näher das besagte Wochenende rückte, desto mehr freute ich mich darauf. Nun war ich doch gespannt auf das Wiedersehen mit Holger. – Deshalb packte ich meinen Koffer auch 3x ein und wieder aus, weil ich mich einfach nicht entscheiden konnte, was ich zu den einzelnen Veranstaltungen anziehen sollte.

 

Dieses Klassentreffen beinhaltete ein Kaffeetrinken, eine Messe mit anschließendem Gang zum Friedhof, um der inzwischen Verstorbenen zu gedenken, ein Abendessen, danach Tanz zur Begleitung einer Live-Band, sowie einen Frühschoppen, womit das Ganze den Ausklang finden sollte.

 

Und ich hatte vor, mich zu jeder dieser Gelegenheiten umzuziehen, auch wenn das ziemlich stressig würde. – In meiner restlosen Verzweiflung zog ich Bettina zu Rate, obwohl der modische Geschmack meiner Tochter in den meisten Fällen dem meinen widersprach.

 

Doch sie zeigte sich recht vernünftig und traf eine gute Auswahl meiner Kleidung, die tatsächlich meine Zustimmung fand. – Als sie die Sachen zum Einpacken bereit legte, bemerkte sie lächelnd: „Ach, Mama, eigentlich kannst du anziehn, was du willst, du siehst immer fabelhaft aus!“

 

Dieses Kompliment aus ihrem Munde hob meine gute Laune noch um ein Vielfaches! ---

 

--- Ich fuhr mit dem Zug, und Julian ließ sich weder bei den Reisekosten noch bei meiner Unterkunft lumpen. Er besorgte mir ein 1.Klasse-Ticket und buchte ein Zimmer im besten und teuersten Hotel der Stadt. Zudem gab er mir noch ein großzügiges Taschengeld, brachte mich höchstpersönlich zur Bahn und wünschte mir mit einem flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange ein unterhaltsames Wochenende. –

 

Die Fahrt dauerte 3 Stunden, und ich brauchte nicht umzusteigen. Leider war ich die ganze Zeit allein in meinem Abteil; ein Nachteil der Luxusklasse. Ich kam mir recht verloren vor, blätterte lustlos in den mitgebrachten Zeitschriften und schaute die meiste Zeit aus dem Fenster, wo die abwechslungsreiche Landschaft nur so vorbei flog. –

 

Am Hauptbahnhof angekommen, nahm ich meinen Koffer fest in die Hand und stürzte mich mutig in das Menschengewühl, das Richtung Ausgang strebte. Dort rief ich ein Taxi, welches mich zu dem von Julian gebuchten Nobelhotel brachte.

 

Der Portier an der Rezeption war jung, freundlich und zuvorkommend, sodass ich meine Unsicherheit überwand und mit fester Stimme sagte: „Für mich wurde ein Zimmer bestellt. Auf den Namen Dr.Julian Jäger. Ich bin Fr.Jäger!“

 

Eigentlich war es mir zuwider, mich auf den Namen und den Titel meines Mannes zu berufen. Doch der junge Hotelportier zuckte mit keiner Wimper, warf nur einen kurzen Blick in die Mappe mit Reservierungen, nickte unbeeindruckt, griff hinter sich nach einem Schlüssel vom Bord, reichte mir diesen und erklärte lächelnd: „Herzlich Willkommen, Fr.Jäger! Ihr Zimmer liegt im 2.Stock, Nr.23!“

 

Dann schnippte er mit den Fingern, und schon eilte ein Page herbei, der meinen Koffer hinter mir her trug. Obwohl es einen Fahrstuhl gab, bevorzugte ich die Treppe, denn in diesen kleinen engen Kabinen bekam ich immer fürchterliche Beklemmungen. Dafür entlohnte ich den kleinen Pagen mit einem großzügigen Trinkgeld für seine Mühe, meinen ziemlich schweren Koffer die Stufen hinauf zu schleppen.

 

Das Zimmer war groß und hell, mit eigenem Bad und Toilette. Der Page hatte auf meinen Wunsch den Koffer aufs Bett gewuchtet, und ich machte mich schnell daran, meine Sachen auszupacken und aufzuhängen, denn einige meiner Kleider knitterten leicht.

 

Ich war gerade damit fertig, als es klopfte. – Zaghaft öffnete ich die Tür nur einen Spalt breit, lugte hinaus und fragte vorsichtig: „Ja, bitte?“

 

Dann erstarrte ich vor Staunen. Kein Zweifel, vor meiner Tür stand Holger! – Er hatte sich überhaupt nicht verändert. Mit breitem Grinsen meinte er: „Hallo, Marlies! Hab ich doch richtig gesehen.“ – „Wo hast du mich gesehn?“ wollte ich verblüfft wissen und öffnete die Tür ganz, damit er eintreten konnte.

 

„In der Hotelhalle. Beim Empfang. Ich hab dich gleich erkannt.“

 

Unaufgefordert setzte er sich in einen der beiden Cocktailsessel und zündete sich eine Zigarette an.

 

„Immer noch dieses Laster?“ schmunzelte ich und schloss die Tür.

 

Er wollte mir auch eine anbieten, aber ich lehnte dankend ab. Ich hatte es mir bei der ersten Schwangerschaft abgewöhnt und nicht wieder angefangen. – Interessiert betrachtete ich Holger genauer und musste meinen ersten Eindruck revidieren. Natürlich hatte er sich verändert! Sein dunkles Haar war an den Schläfen schon ziemlich ergraut und nun, als er saß, zeigte sich ein kleiner Bauchansatz, der über den Hosenbund hervor quoll.

 

Auch an mir waren die Jahre nicht spurlos vorbei gegangen; darüber machte ich mir keine Illusionen! Die beiden Schwangerschaften hatten einige Pfündchen auf den Hüften hinterlassen, und auch meine schwarzen Locken waren schon mit etlichen Silberfäden durchzogen, weil ich mich standhaft weigerte, mir die Haare färben zu lassen, wozu Bettina mir immer wieder riet.

 

Trotzdem musterte mich Holger mit anerkennendem Blick und gab seiner Bewunderung offen Ausdruck. „Marlies, du siehst fabelhaft aus! Noch schöner als früher. Viel fraulicher.“

 

Er drückte seine halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Langsam erhob er sich und trat ganz dicht zu mir. Wir wechselten einen tiefen Blick, und ehe ich wusste wie mir geschah, lag ich in seinen Armen und erwiderte seine leidenschaftlichen Küsse. Dabei klammerte ich mich an ihn, als wollte ich ihn nie wieder loslassen. Wie lange musste ich schon die körperliche Nähe eines Mannes entbehren?! – Julian rührte mich seit Monaten nicht mehr an und lebte seine Triebe außerhalb der Ehe aus.

 

Holger schien meine Sehnsüchte deutlich zu spüren, denn seine Küsse wurden intensiver und er ließ seine Hände mit forderndem Streicheln über meinen Körper wandern. Doch erst als er mich auf das Bett drängte, setzte mein Verstand wieder ein. Energisch schob ich ihn von mir und sprang auf.

 

„Nein, das geht nicht!“ rief ich entsetzt. „Ich bin verheiratet. Und ich werde meinen Mann nicht betrügen!“ – ‚Und das ausgerechnet, wo Julian es mit der Treue überhaupt nicht genau nimmt!’ fügte ich in Gedanken hinzu.

 

Das Einzige, was mich von diesem Schritt zurückhielt, war aber nicht die Moral, sondern die Angst vor meiner eigenen Courage. Rachegedanken bezüglich Julian hatte ich komischerweise nicht!

 

Holger bedachte mich mit einem waidwunden Blick, der mir ins Herz schnitt, und breitete verlangend die Arme aus. Aber ich blieb standhaft, drehte ihm den Rücken zu und bat leise: „Bitte, geh jetzt! Ich will allein sein. Ich muss nachdenken.“

 

Diese Bemerkung machte ihm wohl Hoffnung, was ich allerdings in dem Moment nicht ahnte. Hätte ich ihn doch gleich rigoroser abgewiesen!

 

Für den Augenblick zeigte er sich jedoch einsichtig und verließ mich ohne jedes weitere Wort. ---

 

--- Allein mit meinen Schuldgefühlen dachte ich bereits daran, einfach wieder abzureisen. Nachdem ich ungewollt meine Schwäche gezeigt hatte, konnte ich Holger nicht mehr gegenüber treten und so tun, als ob da nichts war. – Aber wie sollte ich Julian erklären, dass ich schon zurückkam? Er rechnete frühestens Montag mit mir, und heute war erst Freitag. In meiner Verwirrung vergaß ich völlig, dass er selber ja nicht zuhause war.

 

Vergeblich versuchte ich, Herr meiner Sinne zu werden. Ich war vollkommen durcheinander. Meine Gefühle fuhren Achterbahn.

 

Das plötzliche Klingeln des Telefons auf dem Nachttisch schien wie eine Erlösung. Etwas atemlos meldete ich mich und erkannte die Stimme meiner Tochter. Sie erkundigte sich, wie die Anreise verlaufen war und ob mir mein Zimmer gefiel, und ich antwortete möglichst ungezwungen. Doch ihre harmlose Frage: „Hast du schon wen von deinen Mitschülern getroffen?“ brachte mich in arge Verlegenheit.

 

Sofort glaubte ich wieder Holgers heiße Küsse auf meinen Lippen zu spüren, und ich war wirklich froh, dass Bettina meine fieberroten Wangen nicht sehen konnte. Betont vage erwiderte ich: „Ja, einer meiner Schulkollegen wohnt auch hier im Hotel.“

 

Ich nannte absichtlich keinen Namen, für den Fall, dass Bettina mit ihrem Vater über den Anruf sprach. Fröhlich sagte sie darauf: „Na fein! Bin echt gespannt, wie viele an dem Treffen teilnehmen. Du musst mir alles haarklein erzählen, wenn du wieder hier bist!“ – „Sicher, Kind, das werde ich!“ versprach ich und schluckte heftig an einem Kloß im Hals.

 

Dann beendete sie schnell das Gespräch, indem sie behauptete, es hätte an der Haustür geschellt. – Langsam ließ ich den Hörer auf die Gabel sinken und seufzte abgrundtief. –

 

Im Zimmer befand sich auch ein Fernsehapparat, den ich nun einschaltete, um mich abzulenken. – Bis zum Abend rührte ich mich nicht mehr vom Fleck. Ich ließ mir sogar das Essen aufs Zimmer bringen, nur um der Gefahr, Holger im Speisesaal zu begegnen, aus dem Weg zu gehen. Der Fernseher lief bis tief in die Nacht, aber erst nachdem ich eine ganze Flasche Rotwein geleert hatte, fiel ich in einen unruhigen Schlaf. ---

 

--- Am folgenden Morgen erwachte ich recht spät und begab mich mit einem mulmigen Gefühl im Magen hinunter zum Frühstück. Ein knapper Rundblick im Restaurant zeigte mir, dass Holger nicht anwesend war. So bediente ich mich am Buffet und zog mich an einen kleinen Tisch in einer Nische zurück, von wo aus ich das ganze Lokal überblicken konnte.

 

Meine Hoffnung auf ein ungestörtes Frühstück wurde enttäuscht, als ich Holger den Saal betreten sah. Er entdeckte mich sofort und kam lächelnd auf meinen Tisch zu. Ich dachte an Flucht, aber das war leider nicht mehr möglich. Dreist setzte er sich zu mir, ohne eine direkte Aufforderung meinerseits abzuwarten. Und ich hätte ihn gewiss nicht dazu aufgefordert! Das ahnte er wohl und ließ mir darum erst gar keine Gelegenheit, ihn abzuweisen.

 

Allein sein Anblick verursachte mir schon wieder rasendes Herzklopfen. Ich spürte, wie mir die Hitze zu Kopf stieg, in Erinnerung an mein gestriges Verhalten, und betete inbrünstig, dass ich nicht vor Scham rot wurde.

 

Holger lächelte mich liebevoll an, griff nach meiner Hand und zog sie an seine Lippen, wobei er leise sagte: „Marlies, ich möchte mich entschuldigen, dass ich mich gestern so vergessen hab! Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Ich verspreche, mich von nun an anständig zu benehmen!“

 

Ich versuchte, in seinen großen fragenden Augen zu lesen und glaubte ihm, dass er es ehrlich meinte. Zögernd nickte ich, aber entzog ihm meine Hand. „Gut, vergessen wir den Vorfall!“

 

Er atmete hörbar auf und meinte: „Darf ich dir beim Frühstück Gesellschaft leisten?“ – „Warum nicht?“ erwiderte ich achselzuckend und schaute ihm nach, als er sich am Buffet bediente.

 

Plötzlich fiel die ganze Anspannung von mir ab. Erleichtert stellte ich fest, dass meine Schuldgefühle durch Holgers Entschuldigung verflogen waren. Wenn er von jetzt an wie versprochen auf Distanz blieb, konnte auch ich garantieren, mich nicht mehr hinreißen zu lassen.

 

Das Frühstück verlief anfangs in harmloser, fröhlicher Plauderei, hauptsächlich über frühere Schulzeiten. Mit keinem Wort erwähnte Holger unsere damalige intensive Freundschaft, denn von einer echten Liebesbeziehung konnte ja nicht die Rede sein. – Hin und wieder musterte ich ihn eindringlich. Ich sah keinen Ring an seinem Finger, was allerdings nicht viel aussagte, aber ich wagte nicht, ihn direkt zu fragen, ob er vielleicht in einer festen Beziehung lebte. Ich wollte dieses leidige Thema vermeiden.

 

Nach meinem gestrigen Verhalten musste er eigentlich annehmen, dass meine Ehe nicht besonders glücklich war. Hätte ich mich ihm sonst so schnell an den Hals geworfen?

 

Meine Güte! Ich konnte machen, was ich wollte, es gelang mir einfach nicht, diesen Vorfall aus meinem Gedächtnis zu streichen.