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Hubert Ettl

zweifelnd
glauben

Über Religion und Spiritualität
in der heutigen Zeit

edition lichtung

eBook-Ausgabe 2016
© lichtung verlag GmbH
94234 Viechtach Bahnhofsplatz 2a
www.lichtung-verlag.de
Umschlag: Zeichnung von Elisabeth Ettl, „Mensch nach G. Ettl“
eBook ISBN 978-3-941306-28-8

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Die gedruckte Ausgabe ist in der edition lichtung erschienen:
1. Auflage 2016
© lichtung verlag GmbH
Herstellung: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-941306-25-7

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher
finden Sie unter www.lichtung-verlag.de.

Für Barbara,
Magdalena
und Elisabeth

Inhalt

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Einwurf

1. Der alte Gott rückt in die Ferne

Populäre Spiritualität versus alte Kirchen

Gott und die Kirchen werden alt und unglaubwürdig

2. Der Affe war Mensch – der sechste Tag

Schöpfungsbericht oder Schöpfungsmythos?

Evolution und Schöpfung

3. Von wilden Geistern, dem Götterhimmel und dem großen Einen

Die Religiosität der frühen Menschen

Die Götterhimmel

Die Wende im letzten vorchristlichen Jahrtausend

4. Immer wieder von neuem: die Menschwerdung

Menschwerdung durch die Mitmenschen

Psyche und menschliches Bewusstsein

Selbstreflexion und Sinnsuche

5. Warum weiterhin von der Seele sprechen

Gefühle, Sehnsucht und Hoffnung als Überschuss

Die Seele als Beziehung zum Göttlichen

6. Reicht die Wissenschaft zur Orientierung im Leben?

Wissenschaft und Lebensalltag

Die Vielfalt der Einzelwissenschaften

Nur das Messbare zählt

Die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis

7. Vernunft oder Glaube? Eine Scheinalternative

Aufklärung und Atheismus

Vom Glauben der Gottlosen

Habermas und Ratzinger – ein Aufsehen erregendes Gespräch

Der gemeinsame Flügelschlag von Glaube und Vernunft

8. Neu von Gott reden, aber zurückhaltend

Göttliches oder Gott?

Gott bleibt ein Geheimnis, aber wir wollen ihn und die Welt deuten

Die Abraham-Geschichte – ein altes Bild von Gott?

9. „Vom Schrei aller Zeiten erfüllt“

Gott und das Leid

Die Hiob-Geschichte

Werden und Vergehen und die Freiheit des Menschen

Der Sündenfall von Adam und Eva

Die Hybris des Menschen

10. Und dann kam Jesus – eine unglaubliche Geschichte

Die Evangelien des Neuen Testaments

Die Lehre Jesu verstört

Das zentrale Liebesgebot

Kreuzigt ihn!

Auferstehung von den Toten

Wer war dieser Jesus?

11. Glauben in Freiheit

Sich mit der Geschichte seiner Religion konfrontieren

Freiheit des Glaubens, Aufklärung und Demokratie

„Diktatur des Relativismus“?

Am Wahrheitsbegriff festhalten

Der notwendige Dialog

12. Den Weg gehen

Der Weg des Glaubens

Subjektive spirituelle Erfahrung

Der gemeinsame Gottesdienst

Der Weg geht zum anderen

Ausgewählte Literatur und Quellen

Über den Autor

Einwurf

Der Zweifel gehört zum Glauben. Zumindest heute. Für mich ganz sicher. Das Zweifeln gehört in unserer Zeit zur Religiosität und Spiritualität wie das Amen in der Kirche. Die Frage ist: Sind es Zweifel nur an den traditionellen Religionen? An den alten christlichen Kirchen? Oder führen die Zweifel, das Unbehagen und die Kritik gleich in die Gottlosigkeit? Viele Menschen – zumindest bei uns in Europa – sind der Überzeugung, die Religionen schränkten ihr Leben nur ein. Man braucht dieses altmodische Brimborium doch nicht! Und überhaupt kann man sich die Kirchensteuer sparen. Es genügen die Wissenschaften als Weltinterpretation und die daraus sich ergebende Weltsicht. Oder doch nicht? Ist dieses Weltbild nicht arg trocken? Einseitig rational? Und was ist mit dem Sinn des Lebens? Ist da nichts und niemand hinter dieser sichtbaren, materiellen Welt? Die Frage nach dem Jenseitigen ist auch im 21. Jahrhundert nicht ad acta gelegt. Die Menschen fragen auch heute danach.

Mit diesen Zweifeln und Fragen beschäftigt sich dieses Buch. Mit Gewissheiten unseres modernen Lebens und Denkens, die beim Nachfragen plötzlich zu Scheingewissheiten werden. Ein Leitfaden durch das Buch ist die Frage: Wie lässt sich der religiöse Glaube mit unserem heutigen modernen Denken vereinbaren? Lassen sich Religiosität und Spiritualität mit der Vernunft und einem wissenschaftlichen Weltbild unter einen Hut bringen? Ist Glauben nach den Jahrhunderten der Aufklärung überhaupt vor der Vernunft verantwortbar? Oder denken die Gott-Gläubigen einfach zu wenig? So sehen es zumindest viele Atheisten. Aber auch das ist möglicherweise nur eine Scheingewissheit. In den ersten sieben Kapiteln versuche ich, Religiosität und Spiritualität, den Glauben allgemein in der heutigen Zeit zu verorten. Gegenüber den modernen Wissenschaften. Gegenüber der atheistischen Argumentation. In Auseinandersetzung mit einem aufgeklärt-vernünftigen Denken.

Der Mensch ist das besondere Tier, das sich seit dem frühesten Auftreten auf unserem Planeten Vorstellungen macht über Geister und Götter. Der sie macht und machen kann aufgrund seiner biologischen Ausstattung. Der Mensch, der nachdenkt über ein Leben nach dem Tod. Nachdenkt über eine Seele, die nicht stirbt. Und warum ist es für dieses aufrecht gehende Tier so charakteristisch, dass es die Welt interpretieren muss? Der Mensch will die Welt, seine Lebenswelt verstehen. Die Welt ist für dieses Lebewesen eine Sinnwelt. Sein Leben also auch eine Sinnsuche. Eine Suche nach dem, was das Allererste und das Allerletzte sein könnte. Die Suche nach dem, was uns als heilig erscheint. Ist dieses Jenseitige, Geheimnisvolle eine göttliche Kraft und Energie? Ein göttlicher Geist, der ganz jenseitig ist? Oder ist er auch in der Welt präsent? Oder ist es gar ein Gott, der die Welt erschaffen hat? Der uns Menschen nicht nur jenseitig-fern und ein Geheimnis ist, sondern auch ein Gegenüber, das wir anreden und bitten können? Der Zweifel kriecht hoch in unserem Kopf: Ist ein solcher personaler Gott doch nur eine Illusion, eine Vorstellung, die wir Menschen uns phantasievoll seit Jahrtausenden ausgedacht haben?

Gelten die ersten Kapitel als Einkreisungen des „Glaubens heute“ für alle Religionen, für Religiosität und Spiritualität ganz allgemein, so rückt jetzt das monotheistische, speziell christliche Gottesbild ins Zentrum des Buches. Von welchem Gott reden wir da? Von einem zornigen, strafenden, der uns Menschen kontrolliert und gängelt? Wir müssen, wir dürfen Abschied nehmen von diesem alten Gott. An welchem Gottesbild aber können wir festhalten? Auch hier haben unsere modernen Zweifel ihre Berechtigung. Mehr: Die Zweifel sind nötig, um uns bei unserer Suche nach dem Göttlichen oder Gott voranzutreiben. Um unser altes Gottesbild, das uns in Erziehung und Unterricht eingeimpft wurde, zu reinigen, bildet dieser Zweifel den Motor. So sind wir mitten drin in den Bibelgeschichten. Wie sind sie heute zu lesen und zu verstehen? Jetzt, wo das wortwörtliche Verständnis keinesfalls mehr haltbar ist. Wir werden uns diese fast unglaubliche Geschichte des Jesus von Nazaret, der vor 2000 Jahren gelebt hat, genauer anschauen müssen. Was sagt dieser Jesus Christus uns heute im 21. Jahrhundert? Wie kann sein Leben und seine Lehre unser Gottesbild prägen?

Dieses Buch soll nun aber kein dicker theologischer Wälzer sein, der die ungeheuere Bibliothek der Bibelwissenschaften und der theologischen Fachliteratur referiert und kommentiert. Das würde den Rahmen dieses Essays sprengen. Dies will es auch gar nicht, denn mein Buch ist Ausdruck der Suche eines theologischen Laien. Die Suche hat mich zunächst dazu geführt, ein paar Bücher von Hans Küng zu lesen, dem kritischen Theologen, der sich das unabhängige Denken ungern verbieten lässt. Und dann bin ich auf Joseph Ratzinger gestoßen, von dem ich damals meinte, er sei der erzkonservative römische Glaubenswächter. Gerade die Interviewbücher des Journalisten Peter Seewald mit ihm, dem späteren Papst Benedikt XVI., haben mir einen anderen Ratzinger gezeigt. Die beiden Theologen Küng und Ratzinger sind so zu den entscheidenden Autoren geworden, die mein Zurückkommen in den christlichen Glauben nach den Jahren des Atheismus und Agnostizismus stark beeinflusst haben. Das mag seltsam erscheinen, da die beiden oft im Clinch miteinander lagen. Weiterhin wichtig war mir bei meiner Suche, beim Nachdenken über den Glauben und auch bei der Auseindersetzung, eine Reihe von Autoren einzubeziehen, die sich in den letzten Jahren – ob als Journalisten, Philosophen oder Theologen – in die Debatte um die Religion in der heutigen Zeit einbrachten.

Für fundamentalistische Auffassungen ist in meinem Glauben kein Platz. Nein, meine Zweifel kratzen an allen Auffassungen, die einen bestimmten Glauben als den allein seligmachenden propagieren. Unsere Vorstellungen von Gott können aber nur Ahnungen sein angesichts des großen Geheimnisses. Wir können kein gesichertes Wissen von Gott besitzen. Gott und der Glaube an ihn sind kein Besitz, kein Auswendiglernen von Lehrsätzen und Dogmen. Der Glaube ist vielmehr ein Weg. Teil eines offenen Lebensweges für die, die glauben. Und so ist dieses Buch auch nur ein subjektives Reden von Gott und der Welt. Persönlich, so wie es für mich heute möglich ist. Es ist ein Einwurf in die Debatten und Dialoge um den Glauben und die Religiosität. Ein Einwurf, der aus meinem Weg erwachsen ist. Nicht mehr und nicht weniger.

1.
Der alte Gott
rückt in die Ferne

Eine Kleinstadt im Bayerischen Wald. Vierter Adventssonntag. Die Bänke bei der Sonntagabendmesse sind mäßig, aber auch nicht schlecht besetzt. Als der Stadtpfarrer seine Predigt beginnt, horchen die Gottesdienstbesucher auf. Mancher, besser manche – denn die meisten sind Frauen – zuckt zusammen: „Ich bin der Konkursverwalter einer alten Institution. Zwar steht es mit unserer Gemeinde besser als in vielen Städten. Aber machen wir uns nichts vor, in 20 oder 30 Jahren sieht es bei uns ähnlich aus wie dort.“ Sinngemäß mit diesen Worten beschreibt der Landpfarrer und Doktor der Theologie die Situation der katholischen Kirche im 21. Jahrhundert. Und mutig setzt er noch eins drauf: Die negative religiöse Tendenz gelte freilich nicht allgemein, denn auch heute noch würden viele Menschen Gott suchen. Aber nicht in der katholischen Kirche.

Diese knappe Diagnose am Anfang seiner Predigt ist kein übertriebenes Szenario, mit dem der Pfarrer seine Brüder und Schwestern nur aufrütteln wollte. Es ist die Quintessenz aller Untersuchungen: Innerhalb von ein bis zwei Generationen hat in den großen christlichen Kirchen ein Drittel bis die Hälfte der Gläubigen die Bindung zu ihrer Kirche verloren. Das gilt aber nicht nur für die katholische Kirche, und es gilt auch nicht nur für Deutschland, sondern für verschiedene europäische Länder.

Populäre Spiritualität versus alte Kirchen

Der Soziologe Hubert Knoblauch hat diesen Prozess in seinem Buch „Populäre Religion“ skizziert und mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Veränderungen wie der Zunahme der Bildung, dem Eintritt in die Wissensgesellschaft und einer allgemeinen Individualisierung in Zusammenhang gebracht. Andererseits sieht Knoblauch eine große Anzahl von Menschen auf dem Weg zu einer populären, sehr subjektiven Spiritualität, die sich oft gar nicht abgrenzen lasse von Psychotherapie, Wellness-, Selbsterfahrungs- und Selbstverwirklichungsprogrammen.1

Dieser Jahrmarkt der Psychohygiene, von Wellness und moderner Magie ist riesig. Ein Milliardenkonsumsektor. Die Tour vorbei an den spirituellen Warenständen und Workshops kann lang sein: In der Schwitzhütte beginnen und dann raus zu den fernen Ashrams, von manchem Keltenzauber, alten und neuen Mysterienkulten und Okkultismen geht’s zum Zen-Bogenschießen. Oder könnte das Heil auch kommen von Duft-Therapien, von Edelsteinen oder einem Atem-Wochenende?

Manch einer, manch eine verliert sich bei dieser spirituellen Suche, einer rastlosen Suche, die von jeder spirituellen, esoterischen Welle erfasst wird. Dieser individuelle Synkretismus mit Versatzstücken aus verschiedenen Religionen mag verwundern. Der Aberglaube, dieses magische Denken und Fühlen, das sich da bei vermeintlich aufgeklärten Menschen breitmacht, überrascht mich immer wieder. Esoterischer Aberglaube lässt sich mit einem sonst von Wissenschaft, Technik und Aufklärung geprägten Leben des 21. Jahrhunderts anscheinend leichter vereinbaren als die Lehren des Christentums. Vielen Geistlichen, Theologen und Bischöfen der alten Kirchen mag sich angesichts dieses modernen Synkretismus regelrecht der Magen umdrehen. Aber sie sind machtlos, sogar was die eigenen Schäfchen betrifft.

Andere finden ihre subjektive Religiosität auf dem Weg einer ernsthaften Suche, die sich nicht an spirituellen Moden orientiert. Etwa beim Yoga, wenn es über den sportlichen Aspekt oder den des Wohlbefindens hinausgeht, oder auf einem der unterschiedlichen buddhistischen Wege. Die östlichen Religionen, vor allem der Buddhismus, scheinen etwas zu haben, was den alten christlichen Religionen abgeht. Ist es die spirituelle Übungspraxis? Ist es ein Glaube, der praktizierbar erscheint, ohne dass man sich in eine als verknöchert empfundene Institution einbindet? Gibt dieser östliche Weg der heute gewünschten Individualisierung des Glaubens den nötigen Spielraum?

Gewiss, es bleibt im Westen eine Minderheit, die sich wirklich als hinduistisch oder buddhistisch versteht. Aber als Bereicherung des spirituellen Lebens werden die östlichen Religionen und ihre Praxis von vielen gesehen. Die subjektive Religiosität setzt sich oft aus Elementen östlicher Religionen und einem Christentum zusammen, von dem man glaubt, was man eben selbst glauben will. Oder glauben kann. Man fühlt sich als Christ, glaubt aber auch an die Wiedergeburt. Man fühlt sich als Christ und glaubt, dass beim Tod der erleuchtete Geist in die „reine Bewusstseinsebene“, vielleicht die göttliche, eingeht. Ohne Fegefeuer, Hölle, jüngstes Gericht.

Der Religionssoziologe und evangelische Theologe Detlev Pollack erforschte die Kirchenaustritte u.a. im Hinblick darauf, ob danach eine größere Zahl zum Buddhismus übertrat. „Wir haben bei denen nachgefragt, die aus der evangelischen Kirche ausgetreten sind: Keine fünf Prozent haben die Religion gewechselt, nur eine Minderheit sieht sich nun klar als Buddhist, Esoteriker oder auch als Atheist. Das wichtigste Austrittsmotiv war: Ich kann auch ohne Kirche Christ sein. Viele halten das Christentum nach wie vor für gut – aber acht oder neun Prozent Kirchensteuer auf die Einkommenssteuer ist es ihnen nicht mehr wert.“ 2

Gott und die Kirchen werden alt und unglaubwürdig

Ja, die alten Kirchen – und ich rede hier vorwiegend von der katholischen Kirche, weil es meine Kirche ist –, was lässt sie so schrumpfen? Warum laufen ihnen die Gläubigen davon? Ist es wirklich die Kirchensteuer? Ich kann es nicht recht glauben. Da muss eine lange Entfremdung stattgefunden haben. Vielleicht war der Glaube schon lau geworden, und nur eine Kleinigkeit hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Nur ungefähr zehn Prozent der noch vorhandenen Mitglieder gehen sonntags in den Gottesdienst. Von aufgedeckten Missbrauchsskandalen gebeutelt, erschüttert ein Bauskandal wie im Bistum Limburg, der in staatlichen Bereichen von den Kommunen bis zum Bund an der Tagesordnung ist, eine ganze nationale Ortskirche in den Grundfesten. Es ist wie bei einem schwachen, kranken Menschen: Eine kleine Erkältung, die dazukommt, wird zur großen gesundheitlichen Krise – eine Erkältung, die man sonst locker nach ein, zwei Tagen wegstecken würde.

Es ist zum einen die fehlende Glaubwürdigkeit der Kirchen, die die Leute entfremdet. Eine höchst anspruchsvolle Moral wird verkündet, aber hält man sich selber daran? Einen Dorfpfarrer hier in der Nähe, der mit mir im Internat war und dessen Gottesdienste ich in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder besuchte, fragte einmal ein Mann, der mit der Kirche abgeschlossen hatte: „Warum haben viele von euch Pfarrern ein so hartes Herz?“ Diese Frage habe ihn erschüttert. Und sie habe ihn weiter bestärkt, Offenheit und Verständnis, Zuneigung und Hilfe, Liebe und Barmherzigkeit zu zeigen und zu leben, vor aller dogmatischen Rechthaberei und Korrektheit. Da er in seinen Predigten nicht zu innerkirchlichen Problemen schwieg, habe ich mir manchmal gedacht: Wann werden sie ihn von oben her maßregeln? Nichts dergleichen, er wurde sogar Dekan und blieb es lange. Sobald er aber pensoniert war, ging er mit siebzig Jahren wieder nach Afrika, wo er schon als junger Mann gearbeitet hatte, um Schulen und Krankenstationen weiter aufzubauen. Ein Lichtblick. Einige solcher Pfarrer habe ich kennengelernt. Warum schlägt das nicht auf die Gottesdienstbesuche durch, fragt man sich.

Andererseits: Warum muss, während ich noch an diesem Buch arbeite, die katholische Kirche unter großem Aufwand und mit anscheinend heftigen Auseinandersetzungen eine Synode in Rom zu Familie, Ehe, Sexualität abhalten, bei der endlich – fünfzig Jahre nach dem Aufbruch des II. Vatikanischen Konzils – die Barmherzigkeit in der Seelsorge vor die Doktrin gestellt wird? Respekt davor, mit welcher Vehemenz Papst Franziskus diesen Weg geht. Aber sollte dies nicht – die Botschaft Jesu vor Augen – eine Selbstverständlichkeit sein?

Eigentlich kann es auch nicht der immer noch für Priester vorgeschriebene Zölibat und die verweigerte Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene sein, die die katholische Kirche in den letzten fünfzig Jahren so abstürzen ließen. Sonst müssten ja die evangelischen, protestantischen Kirchen auf der Insel der Seligen leben. Sie haben zwar mehr Pastoren und Pastorinnen, aber die Gläubigen laufen ihnen trotzdem weg.

Was ist der Kern der Krise? Dass Gott vielen Menschen fremd und gleichgültig wird und bleibt, liegt an den modernen Gesellschaften selbst, und daran, wie die Menschen in ihnen leben, denken, fühlen. Die Moderne selbst mit Verwissenschaftlichung, Technik und mit der Überzeugung, alles lasse sich gesellschaftlich und individuell beherrschen. Aufklärung, Bildung – um hier nur einige Strukturen und Prozesse zu benennen – machen es dem traditionellen Glauben schwer. Die Moderne selbst, und nicht der kämpferische Atheismus, fordert den Glauben, fordert die Gläubigen wirklich heraus.

Bernhard Setzwein, der Schriftsteller und Freund, lässt in seinem Tagebuch „Das blaue Tagwerk“ Friedrich Nietzsche „eines Tages dem lieben Gott über den Weg“ laufen. Nietzsche, der proklamiert hatte: Gott ist tot. Sofort rutscht dem Pastorensohn heraus: „Also doch!“ „,Was heißt hier Also doch!‘ wurde Gott gleich pampig. Daran übrigens erkannte Nietzsche ihn, ein übelgelaunter, alter Kerl, das muss er sein, dachte er sich.“ Nietzsche beginnt sich zu entschuldigen, er sei der festen Überzeugung gewesen, dass es ihn, Gott, nicht gebe: „Tut mir leid. (…) So war’s auch gar nicht gemeint. Ich mein’, so direkt persönlich.“ Gott wirkte erschüttert. „Früher war er mal groß gewesen im Vergeben, mittlerweile war ihm alles wurscht, das Strafen wie das Vergeben. Die machten ja eh, was sie wollten, die da drunten. Und Nietzsche dachte bei sich: Wenn ich nochmal könnte, würde ich’s anders formulieren … ja … anders. Ich würde schreiben: Gott ist alt geworden. Sehr, sehr alt.“3

Ist Gott für viele heutige Menschen nicht tot, sondern alt? Abgeschoben ist er und fern. Unverständlich und unglaubwürdig. Ist er nun einer, der als zornig-strafender Patriarch uns kontrollieren und kommandieren will? Ein grantiger, pampiger alter Herr? Oder ein liebender und barmherziger Gott, ein lebendiger, der am Leben der Menschen Anteil nimmt? Vielleicht sogar mitleidet mit uns? Oder ist die ganze Vorstellung eines personalen Gottes doch nur ein Phantasieprodukt des Menschen? Haben wir uns da ein Bild ausgedacht, das der Vernunft nicht standhält?

Der Kern der Krise ist möglicherweise die Gottesfrage selbst. Da treten manche in den Kirchen auf, als hätten sie mit dem lieben Gott schon geschussert, wie wir in Bayern sagen. Mit jemandem als Kind schussern – in den Schulpausen, nach der Schule, am Nachmittag –, da lernt man sich genau kennen. Da kennt man sich wie die eigene Hosentasche. Ja, so gut kennen sie Gott, als hätten sie mit ihm geschussert. So bestimmt verkünden sie ihre Lehrsätze über Gott. Von Bescheidenheit beim Reden über Gott, über das, wie er sein könnte, wie er zu uns Menschen stehen könnte, davon keine Spur. Das Bodenpersonal wirkt immer wieder besserwisserisch. Moralinsauer. Unglaubwürdig und unverständlich. Das färbt auf den Alten da oben ab. Zwangsläufig.

Den Kirchen gelingt es nicht oder zu wenig, das Christentum als frohe Botschaft zu verkünden. Eine Kirche zu sein, die sich als humaner Sinnhorizont im zeitgenössischen Leben anbietet. Eine Kirche, die nicht Angst hat vor dem modernen Denken. Die sich offen der Frage stellt, wie sich die Vernunft und der religiöse Glaube in Einklang bringen lassen. Blicken wir aber erst einmal weit zurück, denn hier entscheidet sich schon, ob der Glaube der modernen Vernunft standhalten kann. Vielleicht ist der Alte da oben doch ein Quicklebendiger, der uns noch was angeht?

1 H. Knoblauch, Auf dem Weg, vor allem S. 100 ff., S. 166 ff., S. 227 ff.

2 D. Pollack, „Kirchenmitglieder werden zur Minderheit“, SZ

3 B. Setzwein, Das blaue Tagwerk, S. 53 f.

2.
Der Affe war Mensch
– der sechste Tag

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.“ So beginnt das erste Buch Mose des Alten Testaments, die Genesis.

Schöpfungsbericht oder Schöpfungsmythos?

Diese Genesis erzählt von der Erschaffung der Welt durch Gott in den sieben Tagen der Woche. Durch das Wort, das Handeln Gottes werden Tag und Nacht, Himmel und Erde, die Pflanzen, Tiere und schließlich am sechsten Tag der Mensch geschaffen. „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild. Als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“1 Und am siebten Tag ruhte Gott.

Der Generation meiner Eltern, geboren Anfang des 20. Jahrhunderts, und auch meiner Generation, Mitte des Jahrhunderts geboren, ist diese religiöse Schöpfungsgeschichte im Religionsunterricht und überhaupt in der Schule als geschichtlicher Bericht von der Entstehung der Welt vermittelt worden. Spätestens im Biologieunterricht des Gymnasiums, als wir von der Evolutionslehre Charles Darwins hörten, wurde der alttestamentarische Bericht von der Erschaffung der Welt als Märchen ad acta gelegt. Und da dieser „Schöpfungsbericht“ dem wissenschaftlichen Weltbild auf den Grundlagen physikalischer und biologischer Erkenntnisse, aber auch der Geschichtswissenschaft natürlich nicht standhält, wird die Bibel, wird der christliche Glaube als irrelevant fürs Leben in der modernen Zeit mehr und mehr zur Seite geschoben.

Nicht von ungefähr steht diese jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte im Zentrum der traditionellen, konservativen Glaubensauffassungen von jüdisch Orthodoxen und christlichen Kirchen, die z.T. die Bibel wortwörtlich nehmen. In den USA ist dies der Kernpunkt eines Streites, der inzwischen zum Kampfplatz erzkonservativer, evangelikaler Protestanten geworden ist. Keine rein religiöse Auseinandersetzung, sondern ein Kulturkampf findet hier seit Jahrzehnten statt. Und er tobt heute heftiger denn je.

Ist diese jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte überhaupt mit Erkenntnissen der Wissenschaft vereinbar? Und wenn ja, in welcher Weise? Bevor ich aber auf diese Fragen zurückkomme, ist zu klären, wie diese Genesis heute von der Bibelwissenschaft, der Theologie und der Philosophie eingeordnet und bewertet wird.

Lesen wir zuerst in den Einleitungen zur deutschen Ausgabe der Einheitsübersetzung der Bibel nach. Also einer hochoffiziellen Interpretation der deutschen, österreichischen und Schweizer katholischen Bischöfe sowie der evangelischen Kirche Deutschlands. „Das Buch Genesis verarbeitet älteste Überlieferungen Israels und seiner Nachbarvölker über die Urgeschichte der Menschheit und die Vorgeschichte Israels“, heißt es dort. „Die Erzählungen der Urgeschichte sind weder als naturwissenschaftliche Aussagen noch als Geschichtsdarstellung, sondern als Glaubensaussagen über das Wesen der Welt und des Menschen und über deren Beziehung zu Gott zu verstehen.“2

Nun, das ist schon etwas, worauf man aufbauen kann, wenn der christliche Glaube der Moderne, der Aufklärung standhalten soll. In einem Bibellexikon neueren Datums wird diese Interpretation als Glaubenserzählung noch mehr verdeutlicht: „Die Erzählungen der bibl. Urgeschichte gehören zur literarischen Gattung des Mythos. Mythen beschreiben nicht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt linear vorgestellter Geschichte geschah. Sie sind Symbolsysteme, die eine Raum und Zeit überschreitende Dimension von Wirklichkeit erzählerisch wiedergeben.“3

Fast alle Völker und Kulturkreise kannten Mythenerzählungen von der Entstehung der Welt und des Menschen. Die Religionswissenschaftler Monika und Udo Tworuschka geben in ihrem Buch „Als die Welt entstand …“ einen Überblick über diese Mythen. Sehr häufig beginnt die Welt mit der Ordnung des Urchaos, auch mit dem Urmeer (z.B. in Ägypten), das dann eine Differenzierung erfährt. Oder alles entsteht aus einem Ur-Ei (Japan, Finnland) oder durch das Zerstückeln, Zerstören eines Urriesen, eines Urungeheuers, z.B. einer riesigen Schlange (Indien, auch bei den Aborigines in Australien).

In der abendländischen Geschichte erfahren die mythischen Erzählungen von den Anfängen der Welt und vom Götterhimmel eine erste Kritik in Griechenland zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr.: Heraklit, Sokrates, Platon, Aristoteles kritisieren die Mythen als erfundene Erzählungen. Die Rede von Gott müsse mit Vernunft (Logos) geschehen. Nicht an die unwahren Mythen solle man glauben, sondern an das, was der Logik standhalte. Mit dieser ersten Aufklärung war die Theo-Logie als die vernünftige Rede von Gott geboren.

Zweitausend Jahre später kommt die europäische Aufklärung zur Blüte. Das neue Weltbild, das ganz auf den Verstand, die Ratio, setzt, beginnt seinen Siegeszug. Doch die moderne Mythenforschung des 20. Jahrhunderts rehabilitiert den Mythos wieder.4 Der Philosoph Ernst Cassirer, 1874 in Breslau geboren und 1945 in New York gestorben, ist einer der Väter dieser modernen Mythenforschung. Zentral in seiner Philosophie ist der Symbolbegriff: Zeichen, die für den Menschen emotionale und kognitive Bedeutungen haben; Zeichen, die Laute, Worte, Begriffe, aber auch Bilder und Töne sein können. Mythisches Denken sei eine symbolische Verarbeitung von Anschauung und Wahrnehmung, von Welterfahrung. Eine eigenständige Form geistigen Lebens neben Wissenschaft, Sprache, Technik, Kunst.

Neben Cassirer sind für die moderne Mythenforschung vor allem der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1907–1986) und der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908–2009) prägend. C. Lévi-Strauss hält das mythische Denken, das er auch als „wildes Denken“ bezeichnet, für eine Alternative zum rationalistischen, wissenschaftlichen Denken. Das wilde Denken sei „in Bildern verdichtet“ und sehr verwandt der Musik. Es ist ein anderes Denken, aber ebenso anspruchsvoll: „Die Logik des mythischen Denkens erschien uns ebenso anspruchsvoll“ wie das wissenschaftliche Denken.5 Dass wir durch Musik, Lyrik und bildende Kunst die Wirklichkeit anders wahrnehmen und durchdenken als durch wissenschaftliches Denken, dass wir durch sie andere Aspekte der Wirklichkeit erfahren, wird möglicherweise auch der Wissenschaftsgläubige zugeben. Den Mythen und Religionen wird aber von vornherein abgesprochen, dass sie eben einen anderen Aspekt der Welterfahrung benennen und behandeln: Mythen und Religionen haben die Begegnung mit dem Heiligen zum Thema, das Zusammentreffen mit dem Geheimnisvollen (Numinosum), einer anderen Wirklichkeit. Und dann auch das Handeln als Antwort auf diese Erfahrung. Der Theologe Hans Küng bezeichnet diesen Aspekt des Wirklichen als die „letzte Wirklichkeit“.

Evolution und Schöpfung

Kehren wir zum Ausgangspunkt dieses Kapitels, der Genesis des Alten Testaments zurück. Dieser Mythos, diese Schöpfungserzählung darf weder wortwörtlich verstanden werden noch als Lückenbüßer für weiße Flecken in der wissenschaftlichen Erklärung der Entstehung der Welt oder der Evolution der Lebewesen.

Was immer der Physik an Durchbrüchen gelingen wird, wird es überhaupt jemals gelingen, aus dem Gemisch von Strings und Higgs, von dunkler Materie und Paralleluniversen eine plausible Erklärung für den Ursprung des Seins zustande zu bringen? Auch dann wird man nicht über den Punkt Null hinauskommen: Was war vor dem Urknall, vor dem Beginn von Raum und Zeit? Und warum war vorher Nichts und plötzlich ein Etwas? Auch wenn es noch so winzig gewesen sein mag, die Urmaterie, das Ur-Universum. Es bleibt diese Frage. Man kann sie abtun: Weil sie wissenschaftlich nicht zu klären ist, interessiert sie mich nicht.

Aber der religiös angehauchte Mensch wird sagen: Es ist vielleicht nur eine Ahnung von mir, aber die scheint mir mehr Gewissheit zu haben, als dem Zufall die Entstehung der Welt zuzuschreiben. Meine Ahnung sagt mir: Nicht Zufall, sondern Schöpfung steht am Anfang. Gott – oder wenn man nicht an einen persönlichen Gott glauben will und kann, der absolute Geist, das Göttliche steht am Anfang.

Einer der ersten und bekanntesten Theologen und zugleich Naturforscher, der die Evolutionstheorie mit dem theologischen Denken verband, war der französische Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin. Ab 1922 war er Geologieprofessor in Paris und wurde dann wegen seiner evolutionsbiologischen Ansichten von der katholischen Kirche für zwanzig Jahre nach China ins „Exil“ geschickt. Dort erforschte er Funde der frühen Menschen und wurde zum berühmten Paläontologen. Und dort schrieb er auch sein wichtigstes Buch „Der Mensch im Kosmos“, das erst nach seinem Tod 1955 veröffentlicht werden konnte.

Der Biologe und Philosoph Christian Kummer, ebenfalls Jesuit, hat in einem Debattenbeitrag in der Süddeutschen Zeitung Teilhards Theorie so zusammengefasst: Schöpfung geschehe durch Evolution. „Gottes Schöpfertätigkeit ist von anderer Art als das Tun eines Handwerkers. Er ermöglicht die Dinge, aber dirigiert sie weder, noch bastelt er sie zusammen.“6 Der Schöpfer mache nicht die Dinge, sondern er mache, dass die Welt sich entwickle. Gott schafft die Kreativität, er baut auf die Eigentätigkeit der Welt. Und diese Eigentätigkeit der Materie und des Lebens hat vor einigen Millionen Jahren aus gemeinsamen Vorfahren heutiger Menschenaffen und des Homo sapiens den Menschen sich entwickeln lassen. Es hat lange gedauert, eben einige Millionen Jahre, bis aus den Menschenähnlichen (Hominiden), aus wohl verschiedensten Linien ausgehend von Afrika auch in Asien, Australien und Europa vor 200 000 bis 100 000 Jahren der heutige Mensch (Homo sapiens sapiens) die Erde zu bevölkern begann.

Adam und Eva waren da. Nach zwei bis drei Millionen Jahren der biologischen Entwicklung in einem Tier-MenschÜbergangsfeld. Adam und Eva sind keine Eigennamen für die ersten individuellen, geschichtlichen Menschen. Es sind Gattungsnamen: Mensch als Mann und Mensch als Frau.

Auf zwei Arten von Funden stützt sich die Forschung: die Skelett- und die Schädelfunde sowie die bearbeiteten Steinwerkzeuge. Gingen diese Vor-Menschen schon aufrecht oder waren es noch eher Kletterer und „Affen“, die sich auf allen Vieren bewegten? Wie war der Schädel geformt und wie groß war das Gehirn?

Vieles ist in den letzten Jahrzehnten durch die paläontologische Forschung klarer geworden, aber vieles auch noch offener. Während man in den Anfängen von einem Stammbaum aus einer einzigen Vormensch-Population ausging, entdeckte man später immer mehr Vorformen. Und diese schoben sich zeitlich immer weiter zurück. Die vor einigen Jahren in Äthiopien gefundene „Ardi“, eine der ältesten Vorfahrin der Menschen, soll gut vier Millionen Jahre alt sein.

Früher war man auch der Auffassung, der Neandertaler sei eine später ausgestorbene Seitenlinie in der Entwicklung des heutigen Menschen, also eine ausgestorbene Art des Homo sapiens. Heutige Genanalysen beweisen, dass sich Neandertaler und Vorfahren des Homo sapiens sapiens gepaart haben. Dass also eine Menge „Neandertalermaterial“ in den Genen des heutigen Menschen steckt. Da wird sich in Zukunft noch manches wissenschaftlich klären und ergänzen und verändern, aber auch vieles im Dunkel des Nichtwissens bleiben müssen.

Adam und Eva waren da. Nach Milliarden Jahren seit der Entstehung des Universums (so zumindest nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis) – der sechste Tag!

1 Bibel, AT, Genesis 1, 1-3, 26-27

2 Bibel, Einleitung zur Genesis, S. 16

3 Herders Neues Bibellexikon, S. 769 und 770

4 Zur Mythenforschung siehe die Bücher von D. Brock, K. Hübner, Ch. Jamme, K.-H. Ohlig, R. Panikkar, M. und U. Tworuschka sowie Metzler Philosophen Lexikon

5 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, zitiert nach Ch. Jamme, S. 105

6 Ch. Kummer, Ein Segen, SZ

3.
Von wilden Geistern,
dem Götterhimmel und
dem großen Einen

Schon bei den frühen Menschen der ausgehenden Altsteinzeit weisen Funde auf etwas hin, das sich nicht mit der Arbeit, dem Jagen und Sammeln, erklären lässt: Funde von Farbresten für Körperbemalung, die nur als rituelle Körperbemalung interpretiert werden kann. Und die Aufbewahrung von menschlichen Schädeln. Beides reicht bis in die Zeit vor 300 000 – 500 000 Jahren zurück. Erste Bestattungen sind vor 200 000 Jahren belegt. Und dann die großartigen künstlerischen Funde aus der Zeit bis vor 40 000 Jahren: Ritzzeichnungen, geschnitzte Figuren, Höhlenmalereien.

Die Religiosität der frühen Menschen

Die Interpretationen der Anthropologen, Archäologen und Soziologen bleiben wohl unterschiedlich, denn vieles kann nur erschlossen werden, wenn man von heute oder vor fünfzig, hundert Jahren lebenden und erforschten Jäger- und Sammlerclans auf die damaligen Menschen Rückschlüsse zieht. Klar ist aber, dass all diese Funde etwas mit Riten und Kultur zu tun haben, mit einer Religiosität dieser frühen Menschen.

Die Verstorbenen werden rituell bestattet. Das macht nur Sinn, wenn man die Vorstellung hat, dass der Verstorbene nicht völlig tot ist, sondern dass sein Geist, seine Seele heraustritt aus dem toten Körper und weiterlebt. „Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, dass es sterben muss“, so der Religionswissenschaftler Karl-Heinz Ohlig.1 Das prägt seine Existenz seit vielen Jahrtausenden.

Das Töten des Tieres durch die Jäger, des Tieres, das in der Vorstellung unserer Vorfahren ebenfalls beseelt war, führte höchstwahrscheinlich zu Schuldgefühlen. Der Geist des erlegten Tieres – des Hirschen, Elefanten, Wisent – musste in Riten besänftigt werden. Der Jäger selbst musste von der Schuld gereinigt werden. Das Glück der Jagd, Fortpflanzung, Geburt, Lust und Liebe, Kampf und Krankheiten und der Tod – Momente des diesseitigen Alltags sind eng verknüpft mit der Welt jenseits.

Der Theologe Karl-Heinz Ohlig spricht in seiner Religionsgeschichte im Anschluss an Mircea Eliade vom Durchbrechen der Alltagsebene, ein Durchbrechen auf eine transzendente Wirklichkeit hin.2 Der Ritus ist ein ganzheitlicher: Körper, Gefühle, erster Sprachgebrauch (Lautbedeutungen) und Zeichensymbole bilden eine Einheit. Wie geometrischabstrakt diese ersten Zeichnungen schon waren, wie reduziertabstrakt – der modernen Kunst ähnlich – die Tier- und Menschenfiguren waren, verwundert uns heutige Betrachter immer wieder.

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