Kühnel, Franziska Nora und Lucas

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ISBN 978-3-492-98279-5

August 2016

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2016

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © Kiselev Andrey Valerevich / shutterstock.com

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Prolog

Nora

Sommer 2008

Die Sonne brennt heiß und unerbittlich auf meine nackten Schultern. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee gewesen, die Stola zu Hause zu lassen. Ich bin mir sicher, das werde ich morgen noch mehr bereuen als in diesem Moment. Meine Schultern fühlen sich jetzt schon heiß an, aber morgen werden sie rot und wie verbrannt sein. Doch mein 800-Euro-Date ist es wert. Dieses Date bezahlt nämlich meinen nächsten Anteil der Miete und noch dazu eines der superteuren Bücher für mein Studium.

»Ist alles in Ordnung?« Leo, mein besagtes Date, beugt sich zu mir runter und streicht mir sanft über die glühenden Schultern. Ich zucke kaum merklich zusammen und nicke artig. Innerlich sterbe ich zwar gerade, aber ich will meinen Schmerz nicht vor aller Welt zeigen. Und mit »aller Welt« meine ich die komplette Prominenz Münchens!

Dieses Event ist für Leo ziemlich wichtig und ich bin seine bezahlte Begleitung. Womöglich klingt das nuttig, ist es aber nicht. Ich schlafe ja nicht mit meinen Kunden«, sondern begleite sie zu ihren Veranstaltungen, damit sie vor den Augen anderer Superreicher nicht als Versager dastehen. Alles völlig harmlos. Außerdem komme ich so auch unter Leute, genieße den teuersten Champagner und finanziere gleichzeitig mein Studium und meine Unterkunft. Auch wenn ich in einer WG mit meinen zwei verrückten Zwillingsfreundinnen wohne, ist München verdammt teuer. Und genau deswegen halte ich mich lieber mit gut bezahlten Escort-Aufträgen über Wasser anstatt mit langweiligen Supermarktschichten. Meist habe ich bei den Escort-Aufträgen sowieso nicht viel zu tun. Ich stehe hauptsächlich neben meinem Auftraggeber und lächle, reden muss ich nicht. Ab und an interessiert sich mal jemand für meine Anwesenheit, aber nicht lange. Heute zum Beispiel interessiert sich keine Sau für mich. Die Veranstaltung dient Kindern und Erwachsenen, die an Krebs leiden. Wobei die reichen, einflussreichen Männer und Frauen versuchen, sich gegenseitig mit Geldbeträgen zu überbieten. Bei diesen Leuten hier scheint das Geld ziemlich locker zu sitzen. Wenn sie davon so viel abtreten können, würde es meinem Konto auch nicht schaden, denke ich – zugegebenermaßen ziemlich gefühlskalt. Sofort schäme ich mich für meine Gedanken. Schließlich geht es hier um etwas Gutes!, ermahne ich mich selbst und konzentriere mich auf die Bläschen meines Proseccos, der mittlerweile schon ziemlich viel Sonneneinstrahlung genossen hat – so wie ich, verdammt!

»Und Leo, wie läuft das Studium?« Eine tiefe, raue Stimme reißt mich aus meinen verqueren Gedanken. Ich schaue nach oben und begutachte die Person, die Leo freundschaftlich die Hand auf die Schulter gelegt hat.

»Ziemlich gut, würde ich sagen. Anatomie macht mir zurzeit zwar ein wenig zu schaffen. Aber das wird schon wieder«, seufzt er. Leo ist Medizinstudent. Hauptsächlich, weil sein Vater es so möchte. Leos Familie besteht zu 60 Prozent aus Ärzten, soweit ich weiß. Er selbst ist nicht gerade eine Person, der ich mein Leben in die Hände legen würde, da er bisher mit seinem Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum einen eher leichtsinnigen Eindruck hinterlassen hat. Aber wer weiß schon, wie er sich bis zum Ende seines Studiums entwickelt. Denn wie mein Vater früher einmal sagte: »Stecke Menschen nicht gleich in vorgefertigte Schubladen, nur damit etwas, das nicht passt, passend gemacht wird.«

»Das glaub ich dir gern. Zum Glück ist mein Studium vorbei! Ich habe es gehasst, tagein, tagaus in diese verdammten Vorlesungen zu stiefeln, ohne irgendwas zu lernen.« Eine gewisse Überlegenheit schwingt in jedem seiner Worte mit, als wäre der Mann alles und Leo ein Nichts.

»Was haben Sie denn studiert?«, platzt es, weniger aus Neugierde denn als Verteidigungsversuch gegenüber Leo, aus mir heraus. Erschrocken verziehe ich das Gesicht. Eigentlich ist es nicht meine Aufgabe, mich ins Geschehen einzumischen. Jetzt aber, da die Worte gesprochen sind, muss ich das Beste daraus machen. Die Männer starren mich an. Leo grinst breit und der andere, zu meiner Verwunderung, noch ein Stückchen breiter. Dabei präsentiert er einen wirklich unanständig geraden Zahnbau. Überhaupt gehören Männer wie er verboten. Dunkles, fast schwarzes Haar, blaue, leuchtende Augen und ein von einem leichten Bartschatten umgebenes Grübchenlächeln.

»Werbedesign. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« Ich schlucke schwer und versuche, seinem intensiven Blick auszuweichen. Leo räuspert sich.

»Tut mir leid. Nora, das hier ist Lucas Brandt, ein sehr guter Freund meines Bruders.« Er deutet grinsend auf besagten Lucas Brandt und dann zeigt er auf mich. »Und das hier ist Nora Seibert, meine Freundin.« Das Freundin klingt zwar ein wenig gewürgt, doch das scheint Lucas nicht aufzufallen. Um seine Worte zu unterstreichen, streichelt Leo mir über die Hüfte. Lucas zieht lächelnd eine seiner schön geschwungenen Augenbrauen hoch und reicht mir seine Hand.

»Schön, Sie kennenzulernen, Nora«, raunt er und streichelt, kaum merklich, mit dem Daumen über meinen Handrücken. Zwinkernd lässt er meine Hand wieder los und richtet seine Aufmerksamkeit auf Leo. Erleichtert atme ich aus. Lucas ist einer der Gefährlichen. Ein Herzensbrecher wie er im Buche steht, denke ich, nippe an meinem Prosecco und blende das Gespräch der Männer aus. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken, da die Aufmerksamkeit dieses unverschämt gut aussehenden Mannes jetzt auf mich gerichtet ist. Schließlich bin ich hier, um meinen Job zu machen, und nicht, um zu flirten – außerdem mime ich die Freundin eines anderen. Doch ich erwische mich dabei, wie ich im Laufe des Gesprächs doch einen Gedanken an Lucas und vielleicht sogar einen Blick auf ihn riskiere, und könnte mich unmittelbar in den Arsch beißen. Wenn er doch nicht so verdammt heiß wäre, seufze ich innerlich und blicke wieder weg. Ich studiere die Begleitungen der anderen Männer und versuche, mir ihr Verhalten abzuschauen. Nach zwei Jahren Escort müsste ich eigentlich Profi sein, aber für Escort gibt es eigentlich kein Schema. Jeder Typ ist anders. Jede Situation unberechenbar. Erst eine leichte Berührung an meiner Hüfte bringt mich wieder ins Hier und Jetzt.

»Geht es dir nicht gut, Schatz?« Leos besorgter Blick trifft auf meinen.

»Mir ist ein bisschen warm. Vielleicht gehe ich mich schnell frisch machen. Bin gleich wieder da«, entgegne ich und mache mich auf den Weg zu den Toiletten.

Seufzend lasse ich mir das kühle Wasser über die Handgelenke laufen, als plötzlich die Tür aufgeht und drei junge Frauen den Raum betreten.

»Habt ihr Lucas Brandt gesehen?«, kichert eine zierliche Blondine. »Er ist so attraktiv. Für ihn würde sich mein Höschen wahrscheinlich in Luft auflösen.« Ihre Freundin fällt in ihr Gekicher mit ein und klopft ihr zustimmend auf die Schulter.

»Wahre Worte, Maria«, seufzt sie verträumt und kramt in ihrer Clutch. Als sie ihre Augen hebt und mich entdeckt, lässt sie ihren abschätzigen Blick über mein Outfit wandern. Wahrscheinlich komme ich ihr in meinem H&M-Kleid billig vor. Die Damen hier tragen nämlich Klamotten, die mehr kosten, als meine monatlichen Einnahmen betragen. Sie setzt ein falsches Lächeln auf und tritt neben mich an den Spiegel.

»Du bist mit Leo hier, stimmt’s?«

»Ja«, entgegne ich einsilbig.

»Weise Entscheidung, dir einen zukünftigen Arzt zu angeln. Ich habe es nicht anders gemacht. Kennst du Dr. Jung? Er ist renommierter Schönheitschirurg«, prahlt sie, als wäre es eine Sache, die man sich kaufen kann.

»Nein, ich kenne ihn nicht, aber es muss ziemlich praktisch sein, einen Schönheitschirurgen als Partner zu haben«, entgegne ich ein wenig giftig.

»Wie meinst du das?« Ihr scheint der sarkastische Unterton nicht entgangen zu sein.

»Ach nur so«, antworte ich und trockne mir die Hände ab. Auf diese Frage würde ich nicht antworten. Es könnte sonst nämlich passieren, dass ich richtig ausfällig werde, und dann kann ich meine 800 Euro ein für alle Mal vergessen.

»Wir sehen uns dann bestimmt noch«, füge ich süßlich hinzu und stolziere aus dem Raum. Etwas befreiter betrete ich die lächerlich große Terrasse. Dort wartet Leo – Gott sei Dank alleine – auf mich. Er reicht mir ein Glas Cola.

»Danke. Die kann ich gerade wirklich gut gebrauchen.«

Schief grinsend neigt er seinen Kopf zur Seite.

»Habe ich mir fast gedacht« Er beugt sich leicht zu mir runter. »Du machst das Ganze hier zwar für Geld, aber ich bin trotzdem kein Arschloch«, fügt er etwas leiser hinzu.

»Das weiß ich doch. Und du weißt, dass ich dich mag, obwohl ich mit dir für Geld ausgehe«, entgegne ich leise lachend und greife seine Hand. »Na los. Dann zeigen wir den anderen mal, was eine Harke ist«

»Du bist wirklich super, weißt du das? Wenn du ein Mann wärst, würdest du perfekt zu mir passen« Ach ja. Noch eine Sache, die ich vergessen habe zu erwähnen. Leo ist vom anderen Ufer, was seine Familie und Freunde nicht wissen sollen. Er will den Schein wahren und sich hetero geben, während er bestimmt genauso scharf auf Lucas’ unverschämt hinreißendes Gesicht ist wie ich.

»Tja, aber leider bin ich eindeutig weiblich und auch, wenn dich das jetzt vielleicht enttäuscht, bin ich ziemlich froh darüber. Was würde ich schon für einen Mann abgeben? Ich wäre das Weichei schlechthin« Grinsend drücke ich seine Hand. Aus Leo und mir könnten echte Freunde werden. Ich kenne ihn zwar erst seit drei Wochen, aber ich kann mich nicht beschweren. Leo und ich haben uns durch einen Kommilitonen kennengelernt, dessen Begleitung ich ebenfalls gespielt habe. Grinsend mischen wir uns wieder unter die ganzen Schickimickis, und ich versuche diesmal, einen guten Eindruck zu machen.

Der Rest des Tages verläuft ziemlich gut und als ich endlich mit 800Euro in meinem Geldbeutel vor meiner Wohnungstür stehe, bin ich völlig erledigt und freue mich auf eine kühle Dusche und auf mein Bett.

Als ich die Wohnung betrete, sitzen Lisa und Leonie, meine Mitinsassinnen dieses Irrenhauses – auch genannt WG, auf der Couch und schwärmen von Ashton Kutcher, während sie sich zum x-ten Mal Love Vegas ansehen. Als sie mich bemerken, stoppt Lisa den Film und sieht mich erwartungsvoll an.

»Und, wie war dein Date mit Doktor Schwul?«, fragt sie grinsend und stopft sich Popcorn in den Mund. Ihre Schwester dreht sich ebenfalls zu mir um.

»Gewinnbringend.« Triumphierend halte ich das schmale Geldbündel in die Höhe. Die beiden applaudieren, als hätte ich einen Oscar gewonnen.

»Aber bitte hör auf, Leo so zu nennen. Er ist gar nicht so übel. Eigentlich ist er sogar ziemlich lustig. Schade nur, dass er für das andere Team spielt« Lachend lasse ich mich auf den Sessel fallen und greife in die Schüssel Popcorn. Das wird wohl so schnell nichts mit der Dusche und dem Bett.

»Na gut. Und jetzt erzähl schon von Münchens High-Society«, drängt Leonie. Also lasse ich den ganzen Tag Revue passieren. Die Zwillinge hängen mir an den Lippen und saugen alles gierig in sich auf. Zwischenzeitlich werfen sie mal ein paar Kommentare ein und regen sich über die zwei Weiber von der Toilette auf. Aber als ich auf Lucas zu sprechen komme, schweigen sie und lauschen gebannt meinen Worten.

»Oh mein Gott. Was für ein Traummann«, seufzt Lisa. »Der Ashton Kutcher der Realität«, fügt Leonie hinzu. Ich wusste, dass die beiden hin und weg sein würden.

»Stimmt wohl. Aber er ist keine gute Wahl, wenn es um eine Beziehung geht, schätze ich«

»Wieso? Er ist erfolgreich, scheint gute Gene zu haben und ist wahrscheinlich der Sex-Gott schlechthin«, wirft Leonie ein und fasst sich, halb gespielt, schockiert an die Brust.

»Und genau das ist das Problem. Er weiß das vermutlich alles und nutzt es zu seinem Vorteil. Ich wette, er ist heute ganz sicher nicht ohne Betthäschen nach Hause gegangen«

»Also, so wie du ihn beschrieben hast, wäre ich auch gerne eines seiner Betthäschen. Und wenn es nur für eine Nacht wäre. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Nacht reicht, um mein Sexleben für die nächsten Jahrzehnte auszufüllen«, kichert Lisa und stopft sich noch eine ganze Hand voll Popcorn in den Mund. Lachend verdrehe ich die Augen. Diese zwei sexbesessenen Zwillinge machen mein Leben um einiges spannender. Leonie und Lisa sind nämlich nicht von schlechten Eltern und ziemliche Herzensbrecherinnen. Lisa studiert Geschichte und Leonie Literatur, aber hauptsächlich studieren sie die männlichen Studenten. Und das ziemlich erfolgreich und gründlich.

»Was gibt es da zu lachen? Deines würde es auch bereichern. Du hast schon ziemlich lange keinen mehr in deinem Bett gehabt. Inzwischen muss die Matratze wieder wie neu sein«, witzelt Lisa.

»Ihr zwei seid solche Schlampen, das wisst ihr, oder?«, gebe ich keck zurück und ernte prompt ein synchrones Buuuuuhhh der beiden.

»Und du bist eine prüde Streberin« Leonie hält sich lachend den Bauch.

»Pffffffff. Und mit Gesindel wie euch gebe ich mich ab«, schnaube ich scherzend.

»Weil wir das Gesindel sind, das dich aushält und liebt. Ohne uns wärst du aufgeschmissen, Süße« Zwinkernd wirft Lisa mir ein Kissen ins Gesicht.

»Leider«, seufze ich, werfe es wieder zurück und stehe auf. »Ladies, ich gehe jetzt duschen und dann kuschle ich mich in meine – fast wie neue – Matratze«, verkünde ich und stolziere mit gespieltem Hüftschwung in mein Zimmer. Dort schnappe ich mir eine Boxershort, frische Unterwäsche und ein Top und verschwinde im Bad.

Das lauwarme Wasser prasselt mir auf den Kopf und entspannt mich. Nichts geht über eine Dusche nach einem anstrengenden Tag. Na ja … Nichts – außer vielleicht Entspannungssex. Grinsend seife ich mich ein und lasse meine Gedanken zu Lucas Brandt wandern.

Kapitel 1

Nora

Herbst 2013

»Mädelsabend«, kreischt Lisa und wirft die Hände in die Luft. Ich ziehe sie lachend in meine Wohnung und halte ihr die Hand vor den Mund.

»Pscht. Wenn du nicht die Klappe hältst, beschwert sich Frau Katzenjungfer wieder bei meinem Vermieter«, lache ich.

»Ich weiß. Aber es ist so schön, wieder einen Abend für meine Schwestern zu haben«, kichert sie, möglicherweise leicht angeheitert.

»Ich freu mich auch, nur nicht so laut wie du«, entgegne ich grinsend. »Wo ist Leonie eigentlich?« »Die bringt noch schnell die Kleine ins Bett. Wir treffen sie dann in der Bar.« Dass Leonie überhaupt Zeit gefunden hat, ist schon ziemlich bemerkenswert. Sie ist Dozentin für Literatur an der Universität, an der wir drei studiert haben, und glücklich verheiratet. Aus ihrer superkitschigen Ehe mit ihrem Traummann entstand dann ihre kleine, einjährige Tochter Isabell. Die Kleine ist ein Schatz und die perfekte Mischung zwischen ihrer Mutter und dem attraktiven Vater.

»Na dann los, oder?« Ich schnappe mir meine Tasche und werfe mir eine Jacke über die Schulter. Lisa folgt mir und versucht, so leise, wie es mit High Heels nun mal geht, die Treppe runter zu staksen.

Unten angekommen, seufzt sie erleichtert auf und plappert munter drauf los.

»Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass unser neuer Referendar zum Anbeißen ist?« Ich hab schon damit gerechnet, dass sie zuallererst ihre Männergeschichten auspackt, und kann mir ein kleines Kichern nicht verkneifen.

»Nein, aber bestimmt wirst du das gleich in allen Einzelheiten tun«

»Darauf kannst du wetten. Also, er ist ziemlich schüchtern, aber unglaublich trainiert und hat einen beneidenswerten Körper. Er ist Sport- und Deutschlehrer, was vermutlich alles erklärt. Aber er scheint nicht zu wissen, dass er die weibliche Lehrerschaft und wahrscheinlich auch die Schülerinnen ziemlich scharf macht. Ich schwöre, ich war noch nie so angeturnt wie bei Mark, so heißt er übrigens …«

»Was du nicht sagst«, unterbreche ich sie lachend.

»Halt die Klappe!«, entgegnet sie und schlägt nach mir. Lachend weiche ich aus und bedeute ihr, fortzufahren.

»Na ja, jedenfalls habe ich mir überlegt, mit ihm auszugehen. Er scheint nämlich mit mir zu flirten, auch wenn er es wahrscheinlich gar nicht merkt, denn wie schon gesagt: Er ist schüchtern«

»Dann muss dir aber klar sein, dass du ihn fragen musst. Was bedeutet, dass du diesmal nicht umworben wirst. Und wir wissen beide, dass du es magst, umworben zu werden«, werfe ich ein.

»Ja, darüber hab ich auch schon nachgedacht. Aber ich denke, er ist es wert. Und wer weiß? Vielleicht ist er ja Mr. Right. Als Bettgeschichte eignet er sich auf jeden Fall. Wie sagt man so schön? Stille Wasser sind tief und dreckig!« Lisa lacht verschwörerisch.

»Du bist unmöglich« Kopfschüttelnd schließe ich meine alte Rostlaube – ein steinalter Opel Corsa – auf und setze mich hinters Steuer.

»Gar nicht. Ich genieße nun mal mein Single-Leben. Was du im Übrigen auch mal machen solltest, anstatt krampfhaft zu versuchen, dir ein seriöses Leben aufzubauen, und gleichzeitig immer noch mit einem Haufen Losern auszugehen«, schnaubt sie.

»Irgendwie muss ich doch meine Wohnung bezahlen, bis ich einen ernsthaften Job als Buchhalterin gefunden habe. Die Unternehmen, in denen ich bisher gearbeitet habe, waren einfach keine Herausforderung. Ich würde gerne in einem großen, erfolgreichen Unternehmen arbeiten, bei dem Geldbeträge in Millionenhöhe den Besitzer wechseln, und nicht in kleinen Modeboutiquen, die alle paar Wochen mal ein Kleid über 500 Euro verkaufen«, erkläre ich und starte den Wagen.

»Na gut. Aber wenn du schon mit einer Schaar von Kerlen ausgehst, dann such dir den attraktivsten aus und versüße deine Nacht ein bisschen. Du bist momentan ziemlich unausgeglichen und könntest dringend mal wieder Entspannung gebrauchen und deinem kleinen Freund mal eine Pause gönnen« Erschrocken schnappe ich nach Luft.

»Ich habe keinen kleinen Freund! Sowas brauche ich nicht. Ich habe genug Sex und nur weil ich euch nicht jeden Liebhaber auf die Nase binde, heißt das nicht, dass ich völlig abstinent lebe«, verteidige ich mich unnötigerweise, weil Lisa vollkommen recht hat. Na ja, mit der Abstinenz. Einen Vibrator habe ich tatsächlich nicht.

»Wer’s glaubt«

»Rede dir ein, was du willst«, entgegne ich. »Und übrigens: Für deine 28 Jahre bist du ziemlich pubertär unterwegs«

»Das liegt wohl daran, dass ich mit lauter pubertierenden Halbwüchsigen zu tun habe. Und das fünf Tage die Woche, fast acht Stunden. Du hast ja keine Ahnung, wie nervenaufreibend das Ganze ist. Warum in Gottes Namen wollte ich Lehrerin werden?« Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und stöhnt verzweifelt.

»Vielleicht, weil du mal wieder betrunken warst, als du dich für deinen Beruf entscheiden musstest?«, stichle ich ein wenig schadenfroh.

»Halt du bloß deine blöde Klappe. Dir quillt auch noch nicht die Kohle aus dem Arsch. Und solange wir in einem Boot sitzen, kannst du mich ruhig bemitleiden« Unwillkürlich breche ich in schallendes Gelächter aus.

»Kohle, die aus dem Arsch quillt? Deine Wortwahl ist mal wieder ziemlich reizend. Bringst du deinen Schülern auch so etwas bei? Wenn ja, wundert es mich nicht, dass die Jugend von heute immer schlimmer wird. Hiermit verspreche ich dir, dass ich dir niemals mein Kind, sollte ich doch mal aus Versehen eines bekommen, anvertraue«, scherze ich.

»Und genau das ist der Punkt. Ich muss mich die ganze Woche im Zaum halten und brauche diesen Mädelsabend dringend, um meine böse Seite zum Vorschein zu bringen«

Ich parke vor der Bar und lege Lisa die Hand auf die Oberschenkel. »Na, dann lassen wir heute ordentlich die Sau raus. Werden wir verkatert sein? Ja. Wird es uns morgen leidtun? Wahrscheinlich. Aber werden wir daraus lernen? Niemals!« Lisa schenkt mir ein triumphierendes Lächeln und rückt ihr sehr knappes Kleid zurecht.

»Du hast recht. Schluss mit Nachdenken! Jetzt gehen wir auf Männerfang und lachen meine Schwester aus, die sich so früh an einen Kerl gebunden hat« Ich nicke zustimmend und steige aus.

Leonie wartet bereits vor der Bar, zwischen den Lippen eine Zigarette. Wann und warum sie angefangen hat zu rauchen, kann ich gar nicht mehr sagen, aber es ist immer noch ungewöhnlich, sie mit dem Glimmstängel zu sehen. Breit grinsend wirft sie sich in meine Arme und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

»Du siehst toll aus, Nora«, begrüßt sie mich. Lisa wirft sie einen gespielt abschätzigen Blick zu. »Und du wie eine ungezogene Schlampe.« Lachend drückt sie ihrer Schwester ebenfalls ihre rot geschminkten Lippen auf die Wange.

»Und du wie eine Vollzeit-Mutter. Sieh dich mal an. Dein Ausschnitt ist viel zu bedeckt und dein Rock viel zu lang. Also mal ehrlich. Normalerweise ist Nora immer die zurückhaltende von uns, aber du hast ihr den Posten mittlerweile abgerannt«, witzelt Lisa.

»Nora ist nicht zurückhaltend, sondern eine Streberin. Das haben wir doch schon geklärt. Und ich bin einfach nur erwachsen geworden. Würde dir auch nicht schaden, Lisa« Doch die schüttelt entschlossen den Kopf.

»Nein, ich glaube nicht. Eine von uns beiden muss sich ja treu bleiben. Und wenn ich diese Bürde zu tragen habe, dann tue ich es mit Stolz« »Kommt, ihr zwei Lotten, ich könnte einen Drink gebrauchen. Einen richtigen. Kein Sekt oder Champagner mehr. Ich will hochprozentigen, hirnvernebelnden Alkohol«, unterbreche ich die beiden.

»Endlich mal anständige Worte aus deinem Mund, Nora«, jubelt Leonie und schnippt die Zigarette auf die Straße, bevor wir die Bar betreten und uns unsere Drinks besorgen.

»Ich schwöre euch, dass wir heute nur ein Glas bezahlen, den Rest werden uns die Kerle hier besorgen«, prophezeit Lisa und prostet uns zu.

»Euch beiden vielleicht. Ich kann mir meine Drinks nicht durch Flirten besorgen«, entgegnet Leonie und hält uns ihren Ehering unter die Nase. Missbilligend rümpft Lisa die Nase.

»Was musst du dich auch so schnell an einen Kerl binden. Ich bin echt nah dran, dich als meinen Zwilling zu leugnen«

»Das würdest du nicht wagen. Dafür liebst du mich zu sehr«, entgegnet Leonie gekonnt. Sie ist zwar inzwischen vernünftig geworden – und ich bewundere sie ernsthaft dafür –, aber sie hat auch noch ihre ausgelassene Seite. Etwas, wofür ich sie noch mehr beneide. Manche schaffen entweder nur das eine oder das andere.

»Musst du immer Recht haben?«

»Was glaubst du, warum ich der schlauere Zwilling bin?«, kontert Leonie und prostet mir zwinkernd zu. Ich lache und kippe mir meinen Tequila zur Hälfte in die Kehle. Das angenehme Brennen erinnert mich an viele wilde Nächte mit den beiden und ich muss ehrlich zugeben, dass ich das unbeschwerte Studentenleben manchmal vermisse.

»Na dann, schlauer Zwilling, lass mal hören, wie dir dein Leben momentan schmeckt«, werfe ich ein. Leonie verzieht das Gesicht und trinkt, bevor sie antwortet.

»Im Großen und Ganzen ziemlich gut. Nur werden die Studenten immer aufmüpfiger und es wird langsam anstrengend, postpubertäre Schlaumeier zu unterrichten. Waren wir auch so schlimm?«, seufzt sie und deutet auf uns drei.

»Das mit den Möchtegern-Intelligenzbestien hast du wahrscheinlich deiner Schwester zu verdanken. Ihrer Wortwahl nach zu urteilen, kann diese Erziehung ja nicht fruchten« Lisa wirft mir einen bösen Blick zu und kneift in meinen Oberarm.

»Aua«, jammere ich.

»Das hast du zu hundert Prozent verdient. Wie kannst du so an meiner Lehrerkompetenz zweifeln? Ich zweifle schließlich auch nicht an deiner Fähigkeit, reichen Schickimickis Lügengeschichten aufzutischen«

»Jeder so wie es verdient«, stichelt Leonie und grinst breit. Lisa zieht eine Schnute, die sie aber nicht lange beibehalten kann.

»Ihr seid beide ziemlich scheiße, wisst ihr das?« Lachend schüttelt Lisa ihre blonden Locken und trinkt ihr Glas leer. Sie stellt es auf den Tresen und setzt ein gewinnendes Lächeln auf. »Ich suche mir jetzt neue Freunde, nur zu eurer Information. Und diese Freunde werden mir Alkohol ausgeben, mit dem ich mir jegliche Gedanken an euch wegtrinken kann« Lachend richtet sie ihr Kleid und ihre Haare. Ich halte beide Daumen in die Höhe und beobachte, wie sie sich unter die Menge mischt.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass sie wieder sechszehn ist«, meint Leonie grinsend und beobachtet ihre Schwester. Ich nicke zustimmend, denn so ähnlich hatte ich Lisa heute auch betitelt.

»Wahrscheinlich fehlt ihr einfach nur mal ein wenig Ernsthaftigkeit in ihrem Leben. Sie braucht einfach mal einen Mann, der ihr etwas Vernunft eintrichtert. Schließlich ist sie nicht dumm. Sie ist eine heiße Geschichtslehrerin. Die anständigen Männer müssen sich doch um sie reißen«

»Tja, aber leider steht meine liebe Schwester nur auf die Bad Boys«, seufzt Leonie. Trinkend schüttle ich den Kopf.

»Das würde ich so nicht sagen. Sie hat mir vorhin von einem Kollegen erzählt, der angeblich heiß und ziemlich schüchtern ist. Vielleicht bringt er sie ja auf Kurs«

»Du meinst Mark? Ja, er scheint geeignet zu sein. Aber sein Problem ist nun mal seine Schüchternheit. Wenn er nicht langsam in die Puschen kommt, hat sich Lisa wieder anderweitig orientiert«

»Du kennst ihn?«, frage ich verblüfft. Leonie nickt.

»Natürlich. Oder wer, glaubst du, begleitet Lisa ständig zu irgendwelchen Lehrerveranstaltungen? Sie würde dich nicht fragen, weil das einfach nicht dein Ding ist, und ich trage einfach mehr zu dem ganzen Bildungsquatsch bei«

Ich bekräftige ihre Worte mit einem Nicken.

»Da hast du recht. Aber jetzt mal im Ernst. Ist er wirklich so perfekt?«

»Ja, er ist ziemlich gut aussehend. Mark passt vollkommen in Lisas Beuteschema, trotz seiner zurückhaltenden Art. Aber vielleicht ist es genau das, was sie reizt. Sie liebt Herausforderungen«

In meinem Kopf entsteht, noch während Leonie weiter erzählt, ein Plan. Ich liebe es, Leute zu verkuppeln. Wenn mein eigenes Sexualleben schon auf der Strecke bleiben muss, solange ich mich als Escort-Dame finanziere, kann ich zumindest anderen Menschen dabei helfen, sich zu verlieben und zueinander finden. Das gibt meinem Leben wenigstens etwas Sinn.

»Du hörst mir gar nicht mehr zu, oder?« Leonie unterbricht meine Planung und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

»Sorry. Ich überlege nur gerade, wie wir Lisa an den Mann bringen können.«

»An den bringt sie sich gerade selbst, sieh her« Leonie deutet auf eine schwer flirtende Lisa. Der Kerl, dem sie unverfroren den Oberarm streichelt und dem sie ihren Augen-auf-Halbmast-Blick zuwirft, ist ihr komplett verfallen und spielt verführerisch mit einer ihrer Haarsträhnen. Lachend verdrehe ich die Augen.

»Stimmt. Aber ich meine, an den richtigen Mann bringen«, gebe ich zurück und exe den Rest meines Drinks. Just in dem Moment stolziert Lisa zu uns rüber.

»Ladies, darf ich euch Ben vorstellen? Er ist für einige Wochen in Deutschland, ist aber gebürtiger Amerikaner.« Ben grinst breit und reicht uns nacheinander eine ziemlich große Pranke.

»Hi. Nice to meet you«, begrüßt er uns lächelnd.

»Ist er nicht süß?«, fragt mich Lisa flüsternd.

»Total. Aber was ist mit Mark?«

»Das Projekt startet ab Montag«, antwortet sie zwinkernd. »Ben, hast du Lust zu tanzen?«,.

»Sure. But I would like to have one more beer. German beer tastes so good.« Verschmitzt zieht er einen Mundwinkel nach oben. »Would you girls like to have some drink, too?«

»Sure. We all take a Sex on the Beach.«, antwortet Lisa für uns alle. Ben scheint das nicht zu stören. Ohne mit der Wimper zu zucken bestellt er sein Bier und unsere Cocktails.

»Hab ich euch nicht gesagt, dass ich das hinkriege?«, raunt Lisa Leonie und mir zu. Daraufhin schenken wir ihr beide mit erhobenen Daumen ein Grinsen, bis Ben sich wieder zu uns umdreht.

»So let’s make this night unforgetable!«, verkündet er und reicht uns unsere Gläser. Wir prosten ihm zu und ziehen kräftig an den Strohhalmen.

Der nächste Morgen ist genauso, wie ich vorausgesagt habe: verkatert und den letzten Abend bereuend. Ben jedoch lag völlig falsch. Der Abend ist ja sowas von vergessen. Nach dem dritten oder vierten Cocktail, der von dem x-ten Typen gesponsert wurde, kann ich mich an rein gar nichts mehr erinnern. Ich weiß noch nicht mal, wie ich in mein Bett gekommen bin, ohne mir ernsthafte Verletzungen zugezogen zu haben. Stöhnend richte ich mich auf und blinzle ein paar Mal, bevor sich mein Blick scharf stellt. Überrascht nehme ich zur Kenntnis, dass ich ziemlich nackt sein muss, weil sowohl mein Kleid als auch meine Unterwäsche auf dem Boden verstreut liegen. Was ist gestern passiert? Erfolglos versuche ich, den Abend zu rekonstruieren. Doch mir fällt bei aller Mühe nicht ein, ob ich jemanden mit nach Hause genommen habe – geschweige denn, wen. Neben mir liegt jedenfalls niemand. Aber das hat nichts zu bedeuten. Es kommt oft vor, dass sich ein One-Night-Stand noch vor Tagesanbruch aus der Wohnung schleicht. Verzweifelt setze ich mich auf und angle nach meinem BH und einem Slip. Aufzustehen ist eine Tortur, die ich krampfhaft versuche zu überstehen. Schwer schnaufend schlurfe ich zu meinem Schrank und ziehe ein übergroßes T-Shirt raus. Ich muss dringend Zähne putzen! Auf dem Weg ins Bad fällt mir ein Zettel, der provisorisch mit einem Kaugummi an meine Schlafzimmertür geklebt wurde, auf.

Hey Süße,

tut uns leid, dass der Abend mit einem Vollrausch geendet hat.

Aber hey, wir hatten Spaß! Sorry, wenn wir dir die Kleider vom Leib gezerrt haben, aber wir hatten Angst, du könntest das schöne Kleid ruinieren.

Melde dich, wenn du wach bist.

Küsschen.

Lisa und Leonie

Erleichtert atme ich auf. Doch kein One-Night-Stand. Schon etwas fitter, reiße ich den Zettel von der Tür und entferne angeekelt den Kaugummi. Tagesplanung für heute: Zähneputzen, Literweise Wasser trinken, die ein oder andere Kopfwehtablette schlucken, kurz den Mädels schreiben und den Rest des Tages Selbstmitleid üben und pennen.

So sollte ein Sonntag laufen!, denke ich und werfe einen Blick in den Spiegel, was sich als fataler Fehler raus stellt. Ich habe Panda-Augen, meine Lippen sind spröde und meine Haut kreidebleich. Also fühlt sich nicht nur mein Inneres so an, als hätte ich eine wirklich fiese Grippe, ich sehe auch so aus. Stöhnend wende ich meinen Blick von dem Horrorszenario im Spiegel ab. Inzwischen sollte ich doch langsam so erwachsen sein, dass ich weiß, wann es zu viel ist, denke ich frustriert.

Das plötzliche schrille Klingeln meines Telefons jagt verursacht einen schmerzhaften Stich in meinem Kopf Genervt drücke ich meine Handballen gegen meine Schläfen und wackle in mein Bett zurück. Das Handy liegt auf dem Nachtkästchen und klingelt vor sich hin: Leo. Nachdem ich ihm zu dem Charity-Event begleitet habe, sind wir in Kontakt geblieben und es hat sich eine richtige Freundschaft entwickelt Ich bin versucht, ihn einfach zu ignorieren. Es könnte aber auch wichtig sein. Leo steckt nämlich in einer Krise. Seine sehr konservativen Eltern haben mittlerweile rausbekommen, dass er schwul ist, und weigern sich, ihn die Praxis übernehmen zu lassen, solange er sich keine Frau gesucht hat. Für Leo wäre es kein Problem, auf den Job zu pfeifen, weil er mit seinem exzellenten Abschluss als Allgemeinmediziner ohnehin frei wählen kann, wo er praktiziert, aber leider will er unbedingt das Familienerbe antreten. Andererseits kann man bedauerlicherweise seine sexuelle Vorliebe nicht einfach so abstellen. Das müssen seine Eltern leider akzeptieren.

»Hey, Leo. Was gibt’s?«, brumme ich ins Telefon.

»Nora, alles okay bei dir? Du klingst ziemlich krank.«

»Nicht krank. Nur verkatert«, entgegne ich. »Also wie sieht’s aus an der Front?«

Ein langes Seufzen dringt aus dem Hörer »Unverändert. Meine Eltern weigern sich immer noch und ich weigere mich auch. Wir werden wohl nie auf einen grünen Zweig kommen« Ein trockenes Lachen kommt über seine Lippen. »Aber deswegen rufe ich nicht an. Genau genommen wollte ich dich nämlich um einen Gefallen bitten« Sofort werde ich hellhörig. Seit unserem Date auf der Wohltätigkeitsveranstaltung hat er mich nicht mehr um einen Gefallen gebeten.

»Na klar. Was schwebt dir vor? Brauchst du wieder eine Verabredung?« Ein paar Sekunden ist es still und ich will schon meine Verbindung überprüfen, als Leo sich räuspert. »Um genau zu sein, brauche ich dich wirklich für eine Art Date. Aber nicht für mich. Für einen guten Freund, den du sogar kennst: Lucas!«

»Du weißt, dass ich einen Haufen Leute kenne, mit denen du verkehrst, aber nicht alle bleiben in meinem Gedächtnis hängen«, entgegne ich.

»Ja, ich weiß. Aber an den hier wirst du dich sofort erinnern, wenn du ihn wieder siehst« Seine Stimme klingt irgendwie amüsiert. Was ist los mit ihm? »Also machst du es? Er bezahlt auch super«

Seufzend gebe ich nach. »Na gut. Sag ihm, dass ich morgen Mittag Zeit habe für ein Treffen« Wieder räuspert Leo sich.

»Geht das nicht auch heute? Lucas ist ziemlich beschäftigt. Er leitet ein Unternehmen und ist ständig auf Achse«

»Ach Mann, Leo. Ich habe einen Kater und sehe aus wie eine Wasserleiche«, jammere ich.

Leo lacht und murmelt irgendwas.

»Was? Du kennst diesen Zustand ziemlich gut oder soll ich dich an den dauerbetrunkenen Student von 2008 erinnern?«, gifte ich.

»Nein, nein. Schon gut. Aber bitte tu mir den Gefallen. Lucas ist ziemlich am Boden und ich sehe es nicht gerne, wenn Freunde von mir traurig sind« Das stimmt wohl. Auch mir hat Leo mittlerweile mehr als einmal aus einer Lebenskrise heraus geholfen. Dank ihm bin ich gereift und kann mich – meistens – wie eine erwachsene Frau benehmen.

»Du weißt schon, dass es ziemlich gemein ist, die Gefallen-Karte auszuspielen, wenn jemand total wehrlos und verkatert ist?«, brumme ich. »Aber wenn du darauf bestehst … Sag ihm, er soll in zwei Stunden im Botanischen Garten sein«, gebe ich schließlich nach.

»Du bist die Beste, danke!«, jubiliert Leo und gibt einen Knutschlaut von sich.

»Ja, ja. Du kannst mir später sagen, was für eine großartige Person ich bin. Ich muss mich jetzt erstmal halbwegs gesellschaftstauglich herrichten. Ich bin zwar ein bezahltes Date, aber kein hässliches«

»Sicher! Ich sage Lucas Bescheid. Ruf mich heute Abend mal an und sag mir, was ihr besprochen habt.«

»Mach ich. Ciao, Pinky.«

»Viel Spaß, Brain.« Lachend lege ich auf. Dennoch bin ich noch ein wenig mürrisch. Es nervt mich gewaltig, meinen Rausch nicht ausschlafen zu können. Er kann bloß hoffen, dass sich das Ganze wirklich lohnt. Sonst trete ich ihm in seinen schwulen Arsch. Mit diesem Bild vor Augen, schnappe ich mir ein blassblaues Sommerkleid und frische Unterwäsche. Mal gucken, ob meine Dusche und mein Malkasten Wunder bewirken können.

Kapitel 2

Lucas

Frustriert halte ich die zittrige Hand meiner Mutter. Sie liegt im Krankenhaus und erholt sich von ihrer letzten Chemo. Na ja. So gut man sich eben von einer Chemo-Therapie erholen kann. Ihre Augenlider flattern und sie blickt mich mit glasigen Augen an.

»Lucas.«, krächzt sie und versucht sich in einem Lächeln. Vorsichtig streiche ich ihr über die Wange. Es macht mich traurig, sie so zu sehen, denn sie erinnert nur noch sehr vage an die Frau, die mich großgezogen hat.

»Ja. Ich bin hier. Willst du etwas trinken?« Sie nickt und ich halte ihr ein Glas Wasser an die Lippen. Nachdem sie einen kleinen Schluck getrunken hat, schließt sie seufzend die Augen, nur um sie ein paar Sekunden später wieder zu öffnen.

»Wie lange war ich weg?« Ich schlucke schwer. Seit einiger Zeit stellt sie mir häufig diese Frage. Nach dreieinhalb Jahren Chemo sollte ich daran gewöhnt sein, aber ich bin es nicht.

»Ein paar Stunden.«

Sie nickt müde. »Und hat sich inzwischen eine Frau in dein Herz geschlichen?«, fügt sie schwach grinsend hinzu.

»Vielleicht. Ich weiß es noch nicht so genau«, lüge ich, denn eigentlich gibt es nicht mal ansatzweise jemanden, den ich meine Freundin nennen kann. Aber ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich Single und eigentlich ziemlich glücklich darüber bin.

»Dann zeig dem Mädchen, dass du sie gern hast, und bring sie mal mit. Ich würde die Kleine gerne kennen lernen, bevor ich das Zeitliche segne.«

»Hör auf, so etwas zu sagen! Du wirst so schnell nicht sterben!«

»Wir wissen beide, dass ich nicht mehr lange da bin. Also sträube dich nicht dagegen. Du kannst sowieso nichts daran ändern. Aber du kannst dein Leben ändern. Ich will noch miterleben, wie du dich verliebst und eine Frau heiratest. Deine Schwester hat es schon auf die Reihe bekommen, aber du bist immer so schüchtern.«

Ihre Rede scheint sie ziemlich viel Kraft gekostet zu haben. Sie wird noch bleicher und legt ihren Kopf wieder aufs Kissen. Ich schnaube und beobachte sie gespannt. Schüchtern würde ich mich nicht nennen. Ich habe jede Menge Frauen, aber keine, die ich länger als eine Nacht in meinem Leben haben will. Aber das werde ich ihr auf gar keinen Fall auf die Nase binden.

»Vielleicht ergibt sich ja bald was«, lenke ich resigniert ein. Vielleicht lässt sich die kleine Brünette auf das Spiel ein, denke ich und hoffe inständig, dass Leo etwas erreichen konnte. Eigentlich schon ziemlich schräg: Damals habe ich Leo verspottet, weil er sich das Mädchen gekauft hat, um nicht als schwul geoutet zu werden. Erst letztes Jahr hat er mir die Wahrheit anvertraut, nachdem ich ihn mit seinem Lover in einem Club erwischt habe. Leo und ich waren eigentlich nie wirklich gute Freunde. Gute Bekannte vielleicht. Aber nie mehr. Doch mittlerweile vertraue ich ihm mehr als den meisten meiner Freunde. Und ich hoffe inständig, dass ich ihm auch diesmal vertrauen kann. Dass er sich wirklich für mich einsetzt und Nora überredet.

»Wie meinst du das?«, hakt sie umgehend nach. »Heißt das, du hast bereits eine Freundin? Wer ist sie? Lebt ihr zusammen? Warum kenne ich sie noch nicht?« Verdammt! Was mache ich jetzt? Ich kann ihr noch keine genaue Antwort geben. Was soll ich ihr denn jetzt sagen?

»Ja, wir …«

»Oh, Schatz! Das ist ja wunderbar! Ich brenne darauf, sie kennen zu lernen!«, unterbricht sie mich übereifrig. Und ich bin geliefert. Wie soll ich da bloß wieder raus kommen, ohne ihre Gefühle zu verletzen? So wie es aussieht, gar nicht!, denke ich frustriert.

»Wir werden sehen«, antworte ich vage.

»Das wäre schön«, murmelt meine Mutter und unterbricht meinen Gedankenfluss. Ich lächle sie tröstend an und streiche ihr nochmal über die Wange.

»Schlaf dich aus. Ich komme morgen wieder«, flüstere ich und küsse sie sanft auf die Stirn.

»Na gut.« Sie drückt meine Hand ganz leicht und schließt die Augen. Traurig schnappe ich mir meine Jacke und verlasse das sterile Krankenzimmer.

Erleichtert atme ich aus, als mir die Sonne ins Gesicht strahlt. Ich hasse Krankenhäuser und es macht mich wahnsinnig, dass ich fast jeden Tag dorthin muss, um meine Mutter zu besuchen. Plötzlich piept mein Smartphone. Eine Nachricht von Leo. Hoffentlich hat er gute Nachrichten.

Die Sache steht.

Du sollst in zwei Stunden

am Botanischen Garten sein.

Leo

Mein Herz klopft aufgeregt. Vielleicht kann ich meiner Mutter doch noch den letzten Wunsch erfüllen. Und wenn es nur gespielt ist. Dann wird sie wenigstens glücklich sterben.

Ich antworte Leo:

Danke, Mann!

Du hast mir soeben den Arsch gerettet!!

Erleichtert schlendere ich zu meinem Auto und fahre nach Hause. Ich brauche eine Dusche, um mir den ekligen Krankenhausgeruch von der Haut zu schrubben, und dann ganz dringend einen Kaffee. Schließlich will ich nicht abschreckend aussehen, wenn Nora mich nach fünf Jahren wiedersieht. Sie soll den Auftrag annehmen und mich nicht für einen verrückten Psycho halten. Was du schon irgendwie bist. Immerhin musst du jemanden bezahlen, damit er deine Mutter glücklich macht, denke ich frustriert. Ich schalte meine innere Stimme ab und konzentriere mich lieber darauf, was ich alles sagen werde.

Kapitel 3

Nora

Ich werfe einen kritischen Blick in den Seitenspiegel und fahre mir resigniert durch mein Haar. Mehr als ganz passabel kann man meinen Zustand wohl nicht nennen. Aber was soll’s. Wenn es einer von Leos Freunden ist, wird er sowieso nicht auf mich, sondern auf die Männer in der Umgebung achten. Ich stecke meine Sonnenbrille in meine Tasche und steige aus dem Wagen. Vor dem Botanischen Garten entdecke ich einen Mann, der ungeduldig von links nach rechts blickt. Er hat die Hände tief in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben. Sein weißes T-Shirt spannt sich über eine beeindruckenden Brustmuskeln. Also wenn so einer die Seite gewechselt hat, ist es definitiv gemein gegenüber der Frauenwelt. Ich mache einen tiefen Atemzug und gehe auf den Mann zu, nur um sofort wieder flüchten zu wollen. Eisblaue Augen starren mich erleichtert an. Leo hatte recht. Diesen Mann kenne ich: Lucas Brandt. Der Kerl, der seit fast fünf Jahren das ein oder andere Mal durch den Kopf geht. Er setzt ein freundliches Lächeln auf und reicht mir seine Hand.

»Schön, dich wieder zu sehen, Nora«, begrüßt er mich mit seiner tiefen Stimme. Ich schüttle seine warme Hand und lächle ihn zögernd an.

»Ja, finde ich auch«, lüge ich, denn eigentlich hätte ich mir gewünscht, ihn nie wiedersehen zu müssen. Wenn es jemanden gibt, der mir gefährlich werden kann, dann er!

»Was verschafft mir denn die Ehre?«, füge ich etwas lockerer hinzu. Amüsiert zieht Lucas eine Augenbraue hoch.

»Hat Leo dich nicht aufgeklärt?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Er hat mir lediglich gesagt, dass ein Freund von ihm meine Hilfe braucht.«

Lucas flucht leise etwas und verzieht den Mund zu einem Grinsen.

»Na, dann werde ich wohl selbst reden müssen.«

»Klingt vernünftig«, pflichte ich ihm bei und gehe an ihm vorbei in den Garten. Er folgt mir umstandslos.

»Na gut. Wo soll ich anfangen? Wer ich bin, weißt du ja bereits.« Lucas grinst und fährt sich durch sein eh schon verwuscheltes, dunkles Haar. Er ist so verdammt sexy! Wieso sollte einer wie er meine Hilfe brauchen?, denke ich verwirrt.

»Wie wäre es, wenn du mir erzählst, warum du meine Hilfe brauchst?«, schlage ich vor, statt mir weiter Gedanken über das Wieso zu machen.

»Oh ja, das hat er.«, entgegnet Lucas verschmitzt. Ich werfe ihm einen zweifelnden Blick zu.

»Anscheinend war er dabei nicht präzise genug. Ich schlafe nicht mit meinen Auftraggebern. Ich begleite sie lediglich zu Veranstaltungen. Oder sehe ich aus, als würde ich meinen Körper verkaufen?« Lucas lacht rau.

»Ich hätte nie behauptet, dass du dich prostituierst. Und Leo im Übrigen auch nicht. Er hat mir erzählt, was du für ihn auf der Spendenorganisation damals getan hast, und ich muss sagen, dass du deine Arbeit echt gut gemacht hast. Keine Menschenseele hat kapiert, was wirklich Sache war.«

Ich spüre, wie ich rot werde.

»Gut«, räuspere ich mich. »Dann weißt du ja bestens Bescheid. Also kannst du mir jetzt auch erzählen, warum du meine Hilfe brauchst.«

»Du bist also eine, die schnell ins Geschäft kommt. Perfekt.«, witzelt Lucas.

Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu.

»Schon klar. Ich hab’s kapiert. Also um genau zu sein, brauche ich dich nicht nur für einen Abend. Es wäre eher so etwas wie eine Festanstellung.«

»Was?!« Ich glaube, mich verhört zu haben. Hat er das mit dem Sex doch nicht kapiert?