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Lehr- und Studienbriefe
Kriminalistik / Kriminologie

Herausgegeben von

Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,
Wolfgang Gatzke, Direktor LKA NRW a.D.

Band 17
Grundlagen der
Kriminaltechnik II

von
Christoph Frings
Frank Rabe

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E-Book
2. Auflage 2016
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2016
ISBN 978-3-8011-0779-6

Vorwort

Mit Band 17 der Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik/Kriminologie „Grundlagen der Kriminaltechnik II“ setzen wir die aufgrund der thematischen Fülle und des umfangreichen Bildmaterials auf zwei Bände angelegte Darstellung fort.

Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Studierende der Polizeifachhochschulen des Bundes und der Länder sowie an Beamtinnen und Beamte des Wach- und Wechseldienstes und der kriminalpolizeilichen Ermittlungspraxis und deckt dabei das notwendige Fachwissen für das Fach Kriminaltechnik ab.

Zum besseren Verständnis haben wir die verwendeten Fachbegriffe durch griffige Beispiele erläutert. Vorangestellt wurde hierzu ein Leitsachverhalt. Am Ende dieses Bandes „Grundlagen der Kriminaltechnik II“ finden Sie eine Komplettlösung zur Aufgabenstellung. In den jeweiligen Fachkapiteln wird zur Erläuterung der jeweiligen Beispiele (kursiv geschrieben) immer Bezug auf den Leitsachverhalt genommen.

Als Autoren haben wir uns am fachlichen Sprachgebrauch der „Anleitung Tatortarbeit – Spuren“ (ATOS) orientiert, die durch das Bundeskriminalamt herausgegeben wurde.

Bei den Organisations- und Ablaufstrukturen sind die Gegebenheiten in Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt. Diese können sich im Hinblick auf andere Bundesländer unterscheiden.

Frank Rabe

Christoph Frings

Inhalt

Im vorhergehenden Band Grundlagen der Kriminaltechnik I sind abgedruckt:

Zur Einführung

• Kriminaltechnik als Fachdisziplin der Kriminalwissenschaften

• Leitsachverhalt

1 Begriffsbestimmungen

1.1 Spurenbegriffe

1.2 Spurenarten

1.3 Fachdienststellen im Bereich der Kriminaltechnik

1.4 Beweiswert und Beweiskraft

2 Spurensuche

2.1 Tatort

2.2 Sicherungs- und Auswertungsangriff

2.3 Grundsätze der Spurensuche

2.4 Systematik der Spurensuche

2.5 Hilfsmittel der Spurensuche

3 Grundlagen der Spurensicherung

3.1 Dokumentation der Spuren/Spurenlage

3.2 Tatorvermessung

3.3 Allgemeine Grundsätze der Spurensicherung

4 Einzelspuren

4.1 Menschliche Ab- und Eindruckspuren

4.2 Technische Formspuren

Im vorliegenden Band Grundlagen der Kriminaltechnik II sind abgedruckt:

Vorwort

Zur Einführung

• Leitsachverhalt

4.3 Sonstige Formspuren

4.4 Besondere Spurenkomplexe

4.4.1 Körperzellenhaltige Spuren

4.4.2 Haare

4.4.3 Textile Fasern

4.4.4 Biologische Vegetationsspuren

4.4.5 Sonstige Materialspuren

4.5 Schuss- und Schusswaffenspuren

4.5.1 Schusswaffen

4.5.2 Munition

4.5.2.1 Hülse
4.5.2.2 Geschoss
4.5.2.3 Schrotgeschosse

4.5.3 Schussspuren

4.5.3.1 Schussrückstände (GSR)
4.5.3.2 Einschuss/Ausschuss
4.5.3.3 Schussentfernungsbestimmung
4.5.3.4 Schussrichtungsbestimmung

4.6 Geruchsspuren

4.6.1 Mantrailing-Hunde

4.6.2 Personenspürhunde

4.6.3 Polizeilicher Einsatz von Mantrailern und Personenspürhunden

4.6.4 Geruchsspurenvergleichshunde

4.7 Schriften

4.8 Stimmen

4.9 Chemische Fangmittel

4.10 Digitale Spuren

4.10.1 Einführung

4.10.2 Begriffserläuterung

4.10.3 Untersuchungsziele

4.10.4 Spurenart

4.10.5 Spurensuche/Sicherungsangriff

4.10.6 Beweiswert

4.10.7 Spurensicherung

4.10.8 Spurenauswertung

5 Brandspuren

5.1 Brandzehrung, Pyrolyseprodukte (Rußablagerungen) und Putzabplatzungen

5.2 Brandbeschleunigungsmittel

5.3 Brandspuren an Personen

6 Anhang

6.1 Beispielschema für Tatortbefundbericht

6.2 Lösungsskizze zum Leitsachsachverhalt

Zu den Autoren

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Zur Einführung:

Leitsachverhalt

1.1 Allgemeine Lage

Im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Münster gibt es derzeit keine Sexualdelikte mit einem auffälligen Modus Operandi. Sexuelle Gewaltdelikte werden im Kriminalkommissariat 12 der Direktion Kriminalitätsbekämpfung bearbeitet.

1.2 Besondere Lage

Am 21.12.2014 geht gegen 18.30 Uhr auf der Leitstelle MORITZ der Notruf des

Herrn

Egon Müller

Münster-Hiltrup, Marktallee 15f 1

ein. In diesem Notruf berichtet er, dass versucht worden sei, eine junge Hausbewohnerin zu vergewaltigen. Er habe den Täter jedoch verscheucht.

Die erste Funkstreifenwagenbesatzung trifft gegen 18.35 Uhr am Tatort ein. Durch die eingetroffenen Kräfte werden folgende Feststellungen getroffen:

Vor Ort hat offensichtlich ein versuchtes Sexualdelikt stattgefunden. Geschädigt ist die

Jale Peksoy

Geb. 02.11.1995/Sarkoy (Türkei)

Münster-Hiltrup, Marktallee 15f

Bankkauffrau

Das Wohn-/Geschäftshaus Marktallee 15f liegt an der Geschäftsstraße des Ortes Münster-Hiltrup. Es handelt sich hierbei um ein 5-geschossiges Wohn-/ Geschäftshaus. Das Gebäude macht einen gepflegten Gesamteindruck. Es liegt direkt an der Straße Marktallee, durch eine Hofdurchfahrt gelangt man zu Fuß oder mit dem Pkw auf einen hinter dem Haus gelegenen, gepflasterten Parkplatz (Größe für ca. 40 Pkw, Gelände ohne höhere Bepflanzung).

Sowohl von der Gebäudevorderseite als auch dem Parkplatz gelangt man in den Hausflur. In der Zeit von 7 – 19 Uhr ist die Haustüre nicht verschlossen. Das Ladenlokal im Erdgeschoss verfügt über einen separaten Eingang.

In dem Gebäude befinden sich in jeder Etage insgesamt zwei Wohnungen. Die Wohnung der Geschädigten und ihrer Eltern liegt in der obersten Etage. Im Treppenhaus der jeweiligen Etage befinden sich die Sicherungskästen für die Stromversorgung. Diese sind in Stahlblechausführung gefertigt und mittels eines kleinen Rundzylinderschlosses gesichert. Die Wohnungseingangstüren sind Standardware mit Türspion und Sicherheitsbeschlägen.

Bei der Wohnung der Geschädigten und ihrer Eltern handelt es sich um eine ca. 90 m2 große Vierzimmerwohnung mit Küche, Diele, Bad und separatem WC.

Die Geschädigte gibt in einer ersten Befragung gegenüber der Streifenwagenbesatzung an, dass sie gegen 18.20 Uhr plötzlich bemerkt habe, wie in der Wohnung das Licht ausgegangen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe sie sich in ihrem Zimmer aufgehalten. Sie habe dann zunächst probiert, ob eventuell nur die Lampe defekt sei. Da in der Wohnung aber kein Licht mehr funktionierte, habe sie die Wohnungstüre geöffnet, um nach den Sicherungen zu schauen. Im Hausflur habe zu dieser Zeit kein Licht gebrannt.

Urplötzlich habe sie dann ein dunkel gekleideter Mann gepackt und in die Wohnung zurückgedrückt. Das Gesicht habe sie nicht erkennen können, da er mit einer schwarzen Skimaske mit Gesichtsausschnitt maskiert gewesen sei. Der Mann habe ihr dann ein Messer vors Gesicht gehalten und sie mit der anderen Hand vorne am Hals gepackt und ihr die Luft abgedrückt, sodas sie nicht schreien konnte. Er habe sie dann mit vorgehaltenem Messer in das erste Zimmer hinter der Wohnungstüre geschoben. Dies sei eigentlich das Zimmer ihres 11-jährigen Bruders.

Dort habe er sie auf die Jugendliege gedrückt und im gebrochenen Deutsch gefordert: „Ich will jetzt Sex mit dir, wenn du weiterleben willst, hältst du die Klappe!“ Anschließend habe er ihr den Rock hochgeschoben und den Slip heruntergerissen.

Bevor der Täter die Hand von ihrem Hals genommen habe, habe er gedroht: „Ich nehme jetzt die Hand von deinem Hals, wenn du schreist bist du tot.“ Danach habe der Täter die Hand von ihrem Hals genommen. Im Wohnungsflur habe sie dann einen Lichtschein bemerkt. Sie habe im Treppenhaus gehört, dass ihr Nachbar, Herr Müller, aus seiner Wohnung ins Treppenhaus getreten sei. Sie habe die Chance genutzt, laut um Hilfe geschrien und mit den beschuhten Füßen nach dem Täter getreten. Daraufhin habe der Täter die Flucht ergriffen.

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Abb. 1: Verwendete Tatwaffe mit blutsuspekten Anhaftungen an Klinge und Messergriff

Bei einer ersten Inaugenscheinnahme des Tatortes durch die Beamten des Streifendienstes wird auf dem Fußboden des Tatzimmers ein sog. Ausbeinmesser (Küchenmesser mit ca. 15 cm langer Klinge/Standardware) gefunden. An dem Messer sind Blutanhaftungen feststellbar, obwohl die Geschädigte keine blutende Verletzung davongetragen hat. Vor der Jugendliege wird weiterhin ein Damenslip gefunden, der am rechten Beinausschnitt eingerissen ist. Weiter liegt vor der Jugendliege ein Päckchen original verpackter Präservative, die offenbar nicht der Geschädigten oder ihrem Bruder gehören. Erkennbar ist der Preisaufkleber der Kanal-Apotheke. Diese befindet sich ca. 500 m vom Tatort entfernt. Unter der Jugendliege findet sich ein schwarzes Smartphone der Marke HTC. Das Handy befindet sich offenbar im eingeschalteten Zustand. Die Geschädigte gibt an, dass es sich weder um ihr Handy, noch um das ihres Bruders handelt.

Am Hals der Geschädigten ist im Kehlkopfbereich eine deutliche, ca. 10 x 15 cm große, ovale, ausgeprägte Hautrötung mit Unterblutungen erkennbar.

Die Blechtüre des Sicherungskastens für die Tatwohnung steht offen. Sowohl an der Seitenwand des Sicherungskastens als auch an dessen Blechtüre befinden sich mehrere, ca. 10 mm breite, Hebelmarken eines flachen Werkzeuges. Zurzeit befindet sich die Geschädigte in der Wohnung des Zeugen Müller. Die Wohnung selbst und mögliche Spuren am Sicherungskasten werden durch eine Streifenwagenbesatzung abgesichert. Die Geschädigte war zum Tatzeitpunkt alleine in der Wohnung, ihre Eltern und ihr 11-jähriger Bruder waren für drei Wochen in die Türkei gereist.

Die Arbeitsstelle der Geschädigten befindet sich im Gebäude Marktallee 115 (Entfernung zur Wohnung ca. 1.000 m).

2 Auftrag

2.1 Erläutern Sie im Rahmen der kriminalistischen Fallanalyse jeweils die Tatsituation und die Beweissituation.

2.2 Erläutern Sie, welche Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen des Auswertungsangriffs durch die Kriminalwache zu treffen bzw. zu veranlassen sind.

3 Fortsetzung des Sachverhaltes

Im Rahmen der weiteren Ermittlungen kann durch das Kriminalkommissariat 12 der bereits wegen bewaffneten Raubes auf Tankstelle und wegen sexueller Nötigung in Erscheinung getretene

Horst Seemann

* 01.02.1961/Meerstadt

A-Stadt, Weseler Straße 363a

ermittelt werden.

Im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung wird bei dem Beschuldigten keine Tatbekleidung gefunden. In der oberen Schublade der Flurkommode kann durch die Durchsuchungskräfte eine halbautomatische Selbstladepistole

Walther PPK, Kaliber 7,65 mm,

Waffennummer 675 876

aufgefunden werden. Das Magazin der Waffe ist mit sieben Schuss gefüllt. Eine entsprechende Erlaubnis zum Besitz der Waffe hat Seemann nicht, daher werden die Schusswaffe und die Munition durch die Beamten beschlagnahmt.

Weiter werden in der Schublade eine schwarze Skimaske, mehrere Schraubendreher von unterschiedlicher Breite und eine Polygripzange gefunden.

4.3 Sonstige Formspuren

Neben den in Band I bereits erläuterten Schuh- und Reifenspuren bieten sich generell alle Arten von Formspuren für kriminaltechnische Untersuchungen an. Die Voraussetzungen unterscheiden sich in keiner Weise von den bekannten Ausführungen in Kapitel 4.2.1 und 4.2.2. Entscheidend für eine Identifizierung sind die Abbildung und Herausarbeitung von Individualmerkmalen, entweder fertigungsbedingt oder durch Gebrauch verursacht. Kriminalistisch bedeutsam sind diesbezüglich beispielsweise Handschuhspuren, Abdrücke von Stoff (z.B. Jeans), Faltenwurf von Kleidungsstücken oder Passstücke, bei denen der Nachweis erbracht werden soll, dass zwei oder mehrere Teile ursprünglich zusammengehörten.

Allgemeine Beweiskraft Handschuhspuren

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Abb. 2: Handschuhspur

Handschuhspuren am Tatort geben grundsätzlich Hinweise über die Anzahl der Täter (→ Situationsspur) und ermöglichen eine Gruppenbestimmung hinsichtlich der Handschuhart. Abbildung 2 zeigt einen Haushaltsgummihandschuh und eine typische Spur dieser Handschuhart. Leder-, Einweghandschuhe oder genoppte Handschuhe verursachen ebenfalls spezifische Spurenbilder.

Liegen potenzieller Täterhandschuh und gesicherte Tatortspur für eine vergleichende Untersuchung vor, kann der Handschuh im Idealfall als Spurenverursacher identifiziert werden. Welche Person ihn zur Tatzeit getragen hat, steht damit natürlich noch nicht fest. Allerdings sind Handschuhe regelmäßig auch Träger serologischer (DNA) und hin und wieder auch daktyloskopischer Spuren, über deren Zuordnung zum Spurenverursacher zumindest Ermittlungsansätze erarbeitet werden können.

Glasbruch

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Abb. 3: Scherbe einer eingeschlagenen Scheibe

Bei eingeschlagenen Scheiben kann sich die Frage nach der Schlagrichtung stellen. Wurde sie von innen oder außen eingeschlagen? Kann der Verdacht einer Vortäuschung erhärtet oder ausgeräumt werden? Landläufig wird in solchen Fällen auf die Lage der Scherben geachtet. Liegen sie innen oder außen? Diese Feststellung kann allenfalls einen Hinweis geben. Weniger banal und dennoch genauso simpel, aber deutlich zuverlässiger, geben die im Fenster zurück gebliebenen Scherben Auskunft.

Die dem Schlag entfernte Seite zeigt deutlich sichtbare lamellenartige Abplatzungen (Wallnerlinien). Diese Spuren fehlen auf der Fensterseite, von der aus geschlagen wurde. Die Feststellung der ursprünglichen Außen- und Innenseite kann nicht allein anhand der vor oder hinter dem Fenster liegenden Bruchstücke erfolgen, sondern muss über die im Flügelfries zurückgebliebenen Scherben erfolgen. In solchen Fällen muss die Einbaurichtung der verbliebenen Glasbruchstücke im Zuge der Spurensicherung zwingend gekennzeichnet und dokumentiert werden. Für die Rekonstruktion der Schlag-/Angriffsrichtung und die Reihenfolge der Angriffspunkte (Schläge oder Schüsse) müssen möglichst alle Scherben gesichert werden. Die Scheibe wird zur Untersuchung wieder zusammengesetzt und die Rekonstruktion erfolgt anhand der von den Bruchzentren ausgehenden Bruchlinien und der Wallnerlinien.

Passstücke

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Abb. 4: Schließzylinder

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Abb. 5: Glasscherben

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Abb. 6: Blausäcke

Anhand der Bruchkanten von Passstücken kann der Nachweis erbracht werden, dass zwei oder mehrere Teile ursprünglich zusammengehört haben. Abbildung 4 zeigt die an der Bohrung für die Stulpschraube auseinandergebrochenen Hälften eines Profilschließzylinders.

In Abbildung 5 werden Glasscherben anhand der Bruchkanten wieder zusammengefügt. Die Abrisskanten eines blauen Müllsackes und der dazugehörenden Rolle lassen mit gewissen Einschränkungen den Nachweis zu, ob ein einzelner Sack zuvor mit der Rolle verbunden war oder nicht (Abb. 6).

Der Nachweis, dass ein bestimmter Müllsack mit einer Restrolle verbunden war, welche Säcke von ein und derselben Rolle stammen, ja sogar die Reihenfolge der Säcke an der Rolle lässt sich anhand anderer Parameter wesentlich präziser bestimmen. Die nachfolgend beschriebene Untersuchungsmethode hängt wesentlich vom Herstellungsprozess und dem verwendeten Material ab.

Die Herstellung erfolgt mit Recyclingmaterial, aus dem eine lange Plane gefertigt wird. Diese „Endlosplane“ wird maschinell zu einem Schlauch gefaltet und läuft auf einer Art rotierenden Keule. Die zu einem Schlauch gefaltete Plane läuft zunächst über einen Schweißbalken, der für die Verschließungen am Sackboden sorgt und anschließend an einem Perforationsmesser vorbei, das die Sollbruchstellen erzeugt (Rotationsperforation).

Die Fertigungsmaschinen erzeugen aufgrund von Verschmutzungen dunkle Streifen, die sich über die gesamte Schlauchlänge ziehen und sich folglich kontinuierlich von Müllsack zu Müllsack fortsetzen. Dabei handelt es sich um eine Art ungewollten, zufälligen Strichcode, ähnlich einem überdimensionalen Barcode, der sich in Erscheinungsbild, Ausprägung und Größe für alle Säcke einer Rolle identisch darstellt. Die „Strichcodes“ anderer Rollen, die entweder auf einer anderen Maschine oder in einer anderen Kalenderwoche gefertigt wurden, unterscheiden sich in diesen Merkmalen deutlich.

Die Streifen erscheinen bei allen auf einer Rolle miteinander verbundenen Säcken nahezu deckungsgleich, verschieben sich aber aufgrund des dynamischen Fertigungsprozesses (Rotation) dahingehend, dass beim Vergleich zweier ursprünglich nicht verbundener Säcke ein deutlicher Versatz erkennbar ist. Je größer der Abstand auf einer Rolle, desto deutlicher zeigt sich der Streifenversatz. Abbildung 7 zeigt auf der linken Seite die Fortsetzung des Strichmusters bei zwei fortlaufenden, auf der Rolle zusammenhängenden Säcken und auf der rechten Seite bei zwei Säcken, die ursprünglich nicht miteinander verbunden waren. Auf der rechten Seite ist zu erkennen, dass es sich bei Erscheinungsbild und Ausprägung um das gleiche Strichmuster handelt, das Strichmuster von dem einen zum anderen Müllsack aber versetzt ist. Die zu untersuchenden Müllsäcke wurden zur Untersuchung aufgetrennt und im Durchlicht mit Maßstab fotografiert.

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Abb. 7: Müllsäcke mit „Strichcode“

Individueller Faltenwurf von Kleidungsstücken

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Abb. 8: Faltenwurf und Abnutzung einer Jeans

Testreihen haben gezeigt, dass der Faltenwurf und die Abnutzung von Kleidungsstücken einerseits in Bezug auf den Träger, andererseits in Bezug auf das Kleidungsstück, Individualcharakter haben und diese Art von Formspuren vergleichende Untersuchungen mit dem Ziel der Identifizierung zulassen.

In der Praxis gelang es mehrfach, Täter, die bei Tatausführung fotografiert worden waren, über den Faltenwurf und die Abnutzung ihrer Jeanshose zu überführen. Voraussetzung ist ein Lichtbild von guter Qualität aus einer Überwachungskamera, das es zulässt, Details herauszuarbeiten, die sich an der infrage kommenden Jeans ebenfalls darstellen. Im Idealfall kann das Kleidungsstück als das auf den Tatortaufnahmen abgelichtete identifiziert werden.

Konkreter Beweiswert

Ob mit Hilfe der über die Untersuchung der besonderen Formspuren zu beantwortenden Fragestellungen im Einzelfall die Täterschaft einer bestimmten Person bewiesen werden kann, ist gerade hier von der jeweiligen Fallkonstellation abhängig. Der bei einem Tatverdächtigen gefundene und als Spurenverursacher identifizierte Handschuh hat sicherlich einen hohen Stellenwert in der Beweiskette, welchen, hängt aber von der Würdigung der Gesamtumstände ab.

Der Nachweis, dass eine Scheibe eben nicht von außen, sondern von innen eingeschlagen wurde, beweist selbstverständlich, dass sich das Tatgeschehen anders darstellt, als der Geschädigte der Polizei schildert. Wie es sich aber abgespielt hat, müssen weitere Ermittlungen ergeben.

Wird der Müllsack, in dem am Tatort die Beute zum Abtransport bereitgestellt wurde, aber dort zurückbleiben musste, weil die Täter gestört wurden, einer Rolle zugeordnet, die bei der Wohnungsdurchsuchung eines Tatverdächtigen gefunden wird, hat auch das einen hohen Stellenwert. Inwiefern letztendlich die Tatausführung bewiesen werden kann, hängt auch hier vom Einzelfall ab.

Gleiches gilt für die Identifizierung von bei der Tatausführung getragenen Kleidungsstücken. Oftmals liefern die Untersuchungsergebnisse Anhaltspunkte für weitere Maßnahmen und erlangen ihren hohen Beweiswert in Kombination mit anderen Ergebnissen des Personal- und Sachbeweises.

Spurensicherung

Die Sicherung richtet sich im Einzelfall nach der Art und Beschaffenheit der Spur. Für Handschuhspuren gelten die Grundsätze der Daktyloskopie. Für die Untersuchungen von Glasbruchkanten sollten die Scherben im Original vorliegen. Im Einzelfall kann aber eine fotografische Dokumentation ausreichend sein. Passstückuntersuchungen erfolgen immer anhand der Originalteile.

Für die Erstellung von Jeansgutachten und anderen Kleidungsstücken liegen in der Regel naturgemäß lediglich digitale Lichtbilder vor. Erstrebenswert für die Untersuchung sind Kopien der Originaldatensätze in höchstmöglicher Auflösung und unkomprimiert.

Vergleichsmaterial

Notwendiges Vergleichsmaterial ist immer im Original zu beschaffen. Der mit der Untersuchung beauftragte Sachverständige fertigt nach eigener Maßgabe eventuell notwendige Vergleichsspuren oder Lichtbilder.

Spurenauswertung

Untersuchungsanträge und Untersuchungsmaterial sind der Untersuchungsstelle über die zuständige KTU zu übersenden, vorzugsweise dem Landeskriminalamt oder dem BKA, wenn deren personelle und materielle Infrastruktur die notwendige Untersuchung zulässt. Anderenfalls können externe Institute oder freie Sachverständige beauftragt werden.

4.4 Besondere Spurenkomplexe

4.4.1 Körperzellenhaltige Spuren

Wo immer der Mensch sich aufhält, hinterlässt er biologisches Material, sei es unbewusst und ungewollt, sei es bei der Körperpflege und Notdurftverrichtung oder infolge von Verletzungen. Die „feuchte Aussprache“, der Verlust von Haaren und Schuppen, das Niesen, der Griff an die eigene Nase, den Mund oder die Augen, die blutende Wunde, all das sind Reflexe und Handlungen, die den Verlust von Material zur Folge haben, das Körperzellen enthält. Die Besonderheit dieser in der Literatur auch hin und wieder als serologische Spuren bezeichneten Hinterlassenschaften liegt darin, dass sie häufig ohne Hilfsmittel nicht sichtbar sind und man sich gegen diese Vorgänge kaum schützen kann, weder als Straftäter noch als Spurensicherer. Abbildung 9 zeigt eine Übersicht der laut Anleitung Tatortarbeit/-spuren 2 unter dem Begriff körperzellenhaltige Spuren subsumierten biologischen Materialien und Körperregionen, die ihrerseits Spurenträger von Zellmaterial sein können.

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Abb. 9: Körperzellenhaltiges und Zellen übertragendes Material

Aufgrund der Zielgruppe dieses Buches soll hier durch die Autoren kein umfassendes Grundlagenwissen zur DNA-Analytik selbst vermittelt werden, da dies für die polizeiliche Tatortarbeit nicht erforderlich ist.

Zellmaterial enthält generell einen Zellkern, in dem das menschliche Erbgut in Form von Chromosomen gespeichert ist, deren Grundstruktur durch die Desoxyribonukleinsäure (DNS) (englisch DNA: deoxyribonucleic acid) gebildet wird. Die Analyse der im Spurenmaterial enthaltenen DNA, die in Europa nach einem einheitlichen Standard durchgeführt wird, ermöglicht die eindeutige Identifizierung von Spuren und Spurenlegern.

Das Ergebnis einer DNA-Analyse wird in Form eines DNA-Identifizierungsmusters dargestellt, aus dem biostatistisch eine Wahrscheinlichkeitsaussage hinsichtlich der Spurenverursachung errechnet wird. Das Identifizierungsmuster besteht aus den Ergebnissen der untersuchten Merkmalssysteme (Allele) 3 . Aktuell wird die DNA nach europäischem Standard in 16 Systemen untersucht, während der deutsche Standard bei 17 Systemen liegt. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, dass die DNA schlichtweg an 16 bzw.17 definierten Stellen untersucht wird. Die folgende Abbildung 10 zeigt ein fiktives Beispiel eines DNA-Identifizierungsmusters mit 17 untersuchten Systemen, inklusive X/Y-Allele (Geschlechtsmerkmale).

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Abb. 10: DNA-Identifizierungsmuster mit 17 untersuchten Systemen

Die Möglichkeit der Individualzuordnung einer Spur zu einer Person unterlag allerdings bisher der Einschränkung, dass sich die DNA-Identifizierungsmuster bei eineiigen Geschwistern nicht voneinander unterscheiden lassen, sodass rein wissenschaftlich alle der gleichen Einzelle entstammenden Geschwister als Spurenleger in Betracht kamen. Der Beweis der Täterschaft oder der Ausschluss mussten somit auf andere Weise erfolgen.

Ein Team von Eurofins Scientific, einem Anbieter für Genomik-Dienstleistungen in Ebersberg, veröffentlichte im März 2014 unter Federführung von Privatdozent Dr. Burkhard Rolf und Dr. Jacqueline Weber-Lehmann in der Fachzeitschrift „FSI-Genetics“ einen Artikel, wonach es erstmals gelungen sei, eineiige Mehrlinge genetisch voneinander zu unterscheiden. 4 Dabei gelang es, seltene Mutationen (SNP) 5 nachzuweisen, die kurz nach oder kurz vor der Zellteilung des Embryos auftreten können und somit beim anderen Zwilling nicht vorhanden sind. Dieser Nachweis lässt sich in Blut, Speichel und Sperma führen, während Hautkontaktspuren als Untersuchungsmaterial nicht geeignet sind. Nach Informationen von Eurofins Scientific 6 handelt es sich bei der angewandten Untersuchungsmethode um ein validiertes Verfahren, das allerdings bis dato in der Bundesrepublik Deutschland für forensische Zwecke nicht in Auftrag gegeben wurde.

Bei Eurofins handelt es sich um ein Unternehmen, dass für alle angewandten Verfahren eine Akkreditierung nachgewiesen hat und in einem europaweiten Vergabeverfahren für Spurenuntersuchungen ausgewählt wurde. Es erhält vom LKA NRW im Rahmen der sogenannten Fremdvergabe regelmäßig Auftragspakete für klassische forensische DNA-Untersuchungen und gehört somit zu den anerkannten Untersuchungsstellen.

Spurenart

Wie alle echten Spuren dient diese Spurenart der Rekonstruktion von Geschehensabläufen und hat somit Bedeutung als Situationsspur. Ihre wesentliche Bedeutung liegt allerdings in der Auswertung des im Zellmaterial vorhandenen Erbgutes, sodass sie hauptsächlich als Materialspur deklariert werden kann.

Besondere Aufmerksamkeit muss insbesondere den Blutspuren gewidmet werden, die darüber hinaus als Formspuren wesentliche Rückschlüsse auf ihre Entstehung und, in Kombination mit weiteren Informationen, auf Einzelheiten des Tatgeschehens zulassen (Abb. 11 bis 13).

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Abb. 11: Blutspritzer

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Abb. 12: Bluttropfen

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Abb. 13: Eingeblutetes T-Shirt

Die Interpretation von Blutspurenbildern (forensische Blutspurenanalyse) obliegt rechtsmedizinischen bzw. biologischen Spezialisten. Aus diesem Grund wird hier auf eine Vertiefung dieser Thematik verzichtet.

Allgemeine Beweiskraft

Neben der Möglichkeit, Geschehensabläufe zu rekonstruieren, die alle Spuren dieser Kategorie mehr oder weniger präzise ermöglichen, hängen die allgemeine Beweiskraft und damit die möglichen Untersuchungsziele von der Art des Zellmaterials und der Körperregion, aus der es abgesondert wurde, ab.

Im Wesentlichen werden die Untersuchungsziele auf dem Gebiet der körperzellenhaltigen Spuren auf die Möglichkeit der Individualzuordnung von Spur-Person und Spur-Spur konzentriert.

Insbesondere Blut ermöglicht aufgrund seiner Bedeutung als Formspur eine präzise Rekonstruktionen des Tatgeschehens.

Darüber hinaus gestattet die Blutspur den spezifischen Nachweis, dass es sich tatsächlich um Blut handelt, ob Menschen- oder Tierblut vorliegt und gegebenenfalls die Bestimmung der Tierart. Sofern es sich um Menschenblut handelt, kann die Blutherkunftsbestimmung, z.B. Menstruationsblut, Blut aus Nase oder Mund, Neugeborenen- oder Erwachsenenblut ..., wesentliche Aufschlüsse liefern. Diese Untersuchungsmöglichkeiten stellen klassische Gruppenbestimmungen dar. Die gute alte Blutgruppenbestimmung kann selbstverständlich nach wie vor durchgeführt werden, spielt aber im Zeitalter der DNA-Analyse in der angewandten Kriminalistik und Kriminaltechnik keinerlei Rolle mehr.

Die DNA-Analyse ermöglicht Zuordnungen von Spuren zu Personen (Individualidentifizierung) oder deren Ausschluss als Spurenleger. Weiter gestattet sie einen Sammlungsvergleich mit der DNA-Analyse-Datei (DAD) zur Herstellung von Tatzusammenhängen oder zur Erzielung von Individualidentifizierungen.

Sekrete (Nasen-, Scheidensekret, Speichel, Sperma, Schweiß), Körperabfallprodukte (Kot, Urin) sowie Haut und Hornmaterial ermöglichen generell die Bestimmung der Materialart und gestatten unter Umständen im Einzelfall die Rekonstruktion von Geschehnissen, ihre Eignung für eine molekulargenetische Untersuchung (DNA-Analyse) bedarf aber einer differenzierten Betrachtung.

Sperma, Speichel, Nasen- und Scheidensekret enthalten grundsätzlich genügend DNA-fähiges Zellmaterial, sodass Individualzuordnungen möglich sind. Während Sperma Keimzellenmaterial enthält, spricht man bei den anderen Körperflüssigkeiten von Epithelzellen, über deren Eignung für DNA-Analysen keinerlei Meinungsverschiedenheit besteht.

Schweiß enthält kein geeignetes Zellmaterial und bietet über die sogenannte Ausscheidereigenschaft lediglich die Möglichkeit der Blutgruppenbestimmung. Griffspuren, die, wie in Kapitel 4.1.1 Daktyloskopie