Mami 1828 – So jung - so traurig

Mami –1828–

So jung - so traurig

Roman von Isabell Rohde

Annalena Ossiander stand in ihrem Ankleidezimmer und schob ungeduldig einen Bügel nach dem anderen von links nach rechts und wieder zurück. Was sollte sie nur anziehen? Das vanillefarbene Leinenkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt, das ihre leicht gebräunte Haut gut zur Geltung brachte und das Fabian gern an ihr sah?

Mit wehmütigem Lächeln hob sie die Schultern. Fabian war ihr Ehemann, aber sah er sie überhaupt noch richtig an? Ging es ihm nicht nur um die Rolle, die sie als seine perfekte Frau spielte? Fabian war ein begnadeter Dirigent. Er liebte den Ruhm und die Bewunderung seiner Verehrer und brauchte auch die verzückten Schreie seiner Verehrerinnen. Aber brauchte er sie, Annalena, noch?

Sie nahm ein Kleid aus violettem Chiffon hervor und sofort war sie mit allen ihren Gedanken bei Wolfgang. In diesem Modell, eines duftigen Hauchs von Kleid hatte sie ihm zum ersten Mal gegenübergestanden. Seitdem, so kam es ihr vor, war eine süße Ewigkeit vergangen, in der sie sogar ihren Ehemann ertrug. Seitdem sie Wolfgang kannte und liebte, gab es nichts, was Fabian ihr noch an Demütigungen und Schmerzen antun konnte. Ob sie dieses Kleid heute anziehen sollte?

Trug sie es, umflatterte es ihre Oberschenkel kokett und erlaubte sogar einen Durchblick auf die Silhouette ihres Körpers. Wolfgang behauptete, in diesem Kleid machte sie ihn vor Verlangen verrückt. Dann wußte sie jedesmal, daß es sich von einer Zukunft mit ihm zu träumen, ja, sie sogar zu planen lohnte.

Ihr Atem ging schneller. Sollte sie dieses Kleid heute tragen oder nicht? Sie mußte sich vorstellen, was Claudia dazu sagte. Würde ihre Tochter sie nicht überrascht ansehen und dann vielleicht zu kichern beginnen? Ein Mädchen von elf Jahren macht sich eben schon Gedanken. Aber war sie nicht stolz auf ihr aufgewecktes Töchterchen?

Annalena entschied sich für ein dunkelgrünes Kleid. Es reichte bis zu den Fesseln. Ein dezentes Ornament betonte den tiefen Ausschnitt, es war sommerlich, verführerisch, aber doch dezent. Nur paßte es nicht zu der Stimmung, die sie jedesmal in Wolfgangs Nähe überkam. Wenn sie nur einen Blick von ihm erhaschte, wurde sie sorglos, kapriziös und leichtsinnig.

Kurz entschlossen streifte sie das Kleid vom Bügel, hielt es sich vor den Körper und trat damit vor den Spiegel.

Sie war schön wie kaum eine andere Frau von knapp über dreißig. Wer sah ihr schon an, daß sie eine elfjährige Tochter hatte? Gutgelaunt schlüpfte sie hinein und trällerte dabei die einfache Melodie, die Claudia unten im Haus am Flügel übte. War das Mozart? Oder begann die Klavierlehrerin das arme Kind bereits mit Beethoven oder Brahms zu traktieren? Fabian wollte es natürlich so. Manchmal ergriff sie eine rasende Wut auf ihren Ehemann. Warum zwang er das unbekümmerte Kind dazu, sich diesen Qualen auszusetzen? Aus Claudia wurde nie ein musikalisches Genie.

Als Annalena am Schminktisch saß und ihr Haar ordnete, klopfte es zaghaft an die Tür. Sekunden später trat Claudia zögernd ein. Schritt für Schritt näherte sie sich ihrer Mutter.

»Ich dachte, du schläfst, Mama. Du wolltest dich doch hinlegen, damit du heute abend bei Papas Sommerkonzert ausgeruht bist.« Nun lächelte die Kleine. »Wie gut, daß ich dich nicht geweckt habe. Aber weißt du, das Wetter ist so schön. Darf ich nicht…?«

Annalena wandte sich um.

»Ja, du darfst mit dem Klavierüben Schluß machen. Ich hätte dich sowieso gleich gebeten, mich in die Stadt zu begleiten. Was hältst du von einem kleinen Stadtbummel und einem anschließenden Café-Besuch?«

Hoffentlich war Claudia einverstanden. Es sollte doch wie ein Zufall aussehen, wenn Wolfgang im Café zu ihnen trat.

Claudia ähnelte ihrer Mutter. Nur die ausdrucksvollen Brauen, die sich so elegant über ihre grünen, schmal geschnittenen Augen schwangen, hatte sie von ihrem Vater geerbt. Und diese Brauen zogen sich jetzt zusammen.

»Ich wollte aber zu Silke. Du weißt doch, sie hat ein Trampolin im Garten.«

»Ach, Claudia! Das Trampolin kann warten. Darauf wirst du noch in Jahren herumhüpfen. Aber so ein Einkaufsbummel, bei dem wir beiden hübschen uns für die Ferien in Italien eindecken, ergibt sich nicht alle Tage.«

»Ich habe genug zum Geburtstag bekommen.«

Claudia trug ihr wunderschönes, dunkelblondes Haar von einem Band aus der Stirn gehalten. Jetzt nahm sie es ab und schüttelte ihre Mähne. »Ich brauch’ nichts, Mama. Ist doch jedes Jahr dasselbe mit den Schulferien im Haus an der Adria. Papa kommt nur zum Wochenende, und wir beide fahren jeden Tag an den Strand oder auch mal was angucken in Bologna oder Venedig. Aber sonst?«

»Daß du so denkst, wußte ich allerdings nicht, mein Schatz«, hauchte Annalena mit erstauntem Lächeln.

Dabei hoffte sie im stillen, auch Claudia könne den langen Ferienwochen im wunderschönen Haus in Italien längst nichts mehr abgewinnen. Fabian tauchte dort ja nur noch auf, wenn ihm seine Verehrerinnen zu dicht auf den Pelz rückten oder er dringend ein wenig Abstand von einer seiner Liebesaffären brauchte.

»Tu ich aber«, erwiderte Claudia trotzig.

»Dein armer Vater«, meinte Annalena und bemerkte, wie Claudia gleichgültig mit den Schultern zuckte. Sagte das nicht alles? Ahnte ihre Tochter vielleicht schon, wie schlecht es um die Ehe ihrer Eltern stand?

Ihr Mann betrog sie, wo er nur konnte. Er, der begnadete Dirigent, nahm sich alle Freiheiten. Seine letzte Geliebte hatte er vor zwei Jahren geheiratet, und noch war keine ebenbürtige Nachfolgerin aufgetaucht. Aber Annalena wußte schon, welche Damen inzwischen ihrer großen Chance bei Fabian entgegenfieberten.

»Du bist gewachsen, Claudia«, wechselte sie das Thema. »Neue Jeans und zwei oder drei Bikinis brauchst du bestimmt. Komm, zieh’ keine Schnute, mein Liebling. So ein Bummel hat uns bist jetzt doch immer viel Spaß gemacht.«

»Ja, aber…«, Claudia stöhnte leise. »Müssen wir eigentlich wieder die ganze Ferienzeit in Italien verbringen? Kann ich nicht wenigstens zwei Wochen früher zurück nach München? Silke und Agnes sind dann auch hier.«

Das Gesicht ihrer Mutter verschloß sich. Aber genau so unvermittelt hellte ein schelmisches Lächeln es wieder auf.

»Wissen wir beide, was die Zukunft uns bringt?« fragte sie leichthin. »Hauptsache, wir beide amüsieren uns heute. Also, was ist? Wollen wir nicht versuchen, zwei richtig schicke Bikinis für dich zu finden?«

Das war verlockend, Claudia mußte es zugeben. Und so saßen die beiden eine Viertelstunde später in Annalenas Cabriolet, glitten an den Villen des Vororts vorbei und fuhren bei strahlendstem Sommerwetter in die City.

Claudia genoß es, an der Seite ihrer schönen Mutter von Geschäft zu Geschäft zu schlendern. Sie bemerkte die bewundernden Blicke der Passanten und freute sich, wenn sie als Frau und Tochter des Dirigenten Ossiander erkannt und dementsprechend hofiert wurden.

Nach fast zwei Stunden steuerten die beiden, vollbepackt mit Einkaufstüten auf ein stadtbekanntes Café zu.

Claudia bemerkte, daß ihre Mutter zur Uhr sah.

»Das wird spät für dich, wie?« erriet sie. »Heute abend gehst du doch zu Papas Konzert, nicht? Wenn’s knapp wird, verzichte ich aufs Eis. In Italien gibt’s ja genug davon?«

»Nein, nein, die Zeit muß sein. Ich hab’s dir versprochen.«

»Fein«, freute Claudia sich. »Aber ich muß Silke anrufen. Die wartet sonst.«

»Das machst du im Café«, entschied Annalena und schritt eilig auf einen freien Tisch zu.

Claudia bekam ein Eis serviert, Annalena bat um einen Fruchtdrink. Um sie herum versammelten sich vergnügte Gäste, man rief sich Grüße und Wünsche für die Ferienzeit oder das nächste Wochenende zu und sowie ein Platz frei wurde, stand schon der nächste Anwärter bereit.

Claudia war mit ihrer Schleckerei so beschäftigt, daß sie den lässig gekleideten Herr, der sich ihrem Tisch mit erwartungsvollem Lächeln näherte, gar nicht bemerkte.

Erst als er überrascht ausrief: »Hallo, Annalena, was für ein wunderbarer Zufall, dich hier anzutreffen!« sah sie auf.

Ein freundliches Männergesicht wandte sich ihr neugierig zu. Das offene Lächeln war gewinnend, der Blick verriet verschmitzte Lebensfreude und herzliche Aufmerksamkeit.

»Ja, ein netter Zufall!« hörte sie ihre Mutter zustimmen.

»Claudia, das ist Wolfgang. Wolfgang Bosch, ein Freund von Bekannten. Wir kennen uns schon länger. Willst du dich nicht setzen, Wolfgang?« bot sie ihm dann gleich an.

Wolfgang Bosch setzte sich, dann reichte er Claudia die Hand. Mit einem verlegenen Gesicht griff sie danach. Er war ihr nicht unsympathisch, aber es war ihr irgendwie unangenehm, daß ihre Mutter einen Mann, den sie noch nie gesehen hatte, einfach duzte.

»Einkäufe für den Urlaub, wie?« erriet er. »Oder verspätete Geburtstagsgeschenke? Und? Freut sich eine junge Dame von gerade elf Jahren auf die Ferien, wie ich es als Schüler tat?«

»Klar!« sagte Claudia schnell, obwohl es doch gar nicht so war.

»Claudia«, verriet ihre Mutter mit besonders weicher Stimme, »langweilt sich manchmal in unserem Haus an der Adriaküste.«

»Das kann ich verstehen.«

Claudia sah ihn an. Er hatte wache Augen von undefinierbarer Farbe. »Das glaub’ ich nicht. Sie sind doch schon… na ja… also…«

»Alt, nicht wahr?« lachte er. »Du meinst, ich bin zu alt, um verstehen zu können, wie ein Einzelkind sich im Urlaub ohne Spielkameraden langweilt?«

»Genau.«

»Claudia!« schalt Annalena sie. »Wie taktlos von dir!«

Claudia blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Aber Wolfgang Bosch war kein Spielverderber. Er blinzelte ihr voller Verständnis zu, bis sie lachen mußte.

»Sind Sie jünger als mein Vater?« fragte sie.

Er nickte amüsiert, aber nicht ohne Stolz. »Ich denke, ja.«

Annalena schüttelte den Kopf. »Was du nur für Fragen stellst, Claudia!«

»Na und? Ich kenn’ den doch gar nicht. Und was ist? Darf ich jetzt aufstehen und telefonieren? Oder ist das auch taktlos?«

»Natürlich nicht.« Annalenas schöngeschwungene Lippen wurden plötzlich ganz schmal.

Claudia verschwand. Wolfgang Bosch wandte sich sofort ihrer schönen Mutter zu.

»Sie ist im schwierigen Alter, Liebling. Sei nicht so streng.«

»So, dann gefällt dir meine Tochter wohl?«

»Natürlich! Sie ist genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe. Ganz ihre Mutter, nur noch nicht so hinreißend weiblich.« Er nahm ihre Hand, und sein Blick erfaßte sie voller Ungeduld. »Du hast ihr also noch nicht verraten, was uns verbindet und was du vorhast?«

»Unmöglich! Das kann ich doch nicht, Wolfgang! Ein falsches Wort von mir, und sie vertraut sich Fabian an!«

»Wie du es planst, wird es richtig sein«, meinte er, nahm ihre andere Hand und hauchte auf beide einen Kuß.

*

Fabian Ossiander zog mit seinem Taktstock eine scharfe Linie durch die Luft, dieser Bewegung folgte eine kurze Geste, die in ein Verbeugen seines Oberkörpers überging. Der letzte Akkord verhallte.

Er legte den Taktstock beiseite und griff in seine Hosentasche, um ein blaugepunktetes Tuch hervorzuziehen. Damit wischte er sich über den Nacken, so daß die leicht gekräuselten, dunklen Haare ganz durcheinander gerieten.

Es störte ihn nicht. Mit gefälligem Lächeln blickte er auf die Musiker des Staatsorchesters, bis die mit ihren Instrumenten den Lärm machten, die Bewunderung und Dankbarkeit für seine Führungsqualitäten zum Ausdruck brachte. Natürlich, alle respektieren seine Geduld, sein Feingefühl und vor allem seine Genialität.

Es war heiß an diesem Nachmittag. Abends würde es hoffentlich kühler sein. Aufatmend bewegte er sich vom Pult herunter und wandte sich nur kurz dem riesigen Oval voller Sitzreihen zu. Wie immer bei seinen Proben ließ er nur auserwählte Persönlichkeiten als Zuhörer zu. Weiter hinten allerdings drängten sich Neugierige. Unter denen befanden sich viele seiner Fans, die sich die teuren Abendkarten nicht leisten konnten.

Bevor Fabian im Gang verschwand, der in die unterirdischen Räume führte, winkte er einmal huldvoll hinüber. Gleich danach, in der dürftig eingerichteten Garderobe, würde er endlich für wenige Minuten er selbst sein.

»Fabian!« Eine weibliche Stimme erreichte ihn gerade noch, bevor er wegtauchen konnte. Er sah sich um.

»Fabian!« wiederholte die Stimme. Es klang wie ein hingebungsvoller Seufzer.

Mit wenigen Schritten hatte Wiebke Lohmer ihn eingeholt. Die Anwältin war anfang vierzig und eine sehr selbstbewußte und energische Frau, die ihren knabenhaften Typ elegant zu betonen wußte.

»Du warst mal wieder phänomenal, Fabian! Hast du mich nicht bemerkt? Ich saß links in der dritten Reihe. Natürlich habe ich dir nicht mal zugezwinkert«, meinte sie kokett. »Ich weiß doch, daß du von Frauen Diskretion erwartest.«