Robert Spaemann

MEDITATIONEN
EINES
CHRISTEN

Ornament

EINE AUSWAHL AUS
DEN PSALMEN 52–150

Klett-Cotta

IMPRESSUM

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Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94909-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10948-1

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2016 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALT

Vorrede

Psalm 52

Psalm 53

Psalm 54

Psalm 55

Psalm 61

Psalm 62

Psalm 63

Psalm 64

Psalm 65

Psalm 73

Psalm 78

Psalm 82

Psalm 87

Psalm 90

Psalm 91

Psalm 102

Psalm 103

Psalm 110

Psalm 111

Psalm 113

Psalm 114/115

Psalm 117

Psalm 119

Psalm 122

Psalm 126

Psalm 130

Psalm 137

Psalm 139

Psalm 146

Psalm 147

Psalm 149

Psalm 150

VORREDE

Der hebräische Psalter ist eine Sammlung von Liedern, Gebetstexten, Meditationen und Gedichten aus verschiedenen Epochen. Entstanden sind diese sogenannten Psalmen aus verschiedenen geschichtlichen oder persönlichen Anlässen. Gebetet, rezitiert, gesungen oder gesprochen werden sie von Juden und Christen sowohl in gottesdienstlicher Funktion als auch in persönlichen Situationen, die denen irgendwie verwandt sind, aus denen der jeweilige Psalm entstand. Der Psalter ist das klassische Gebetbuch von Synagoge und Kirche. Er bildet den größten Teil des täglichen Stundengebetes der christlichen Mönche in Ost und West sowie des kürzeren täglichen Stundengebets der Priester. Die Psalmen gehören – unabhängig von der Gläubigkeit der Leser oder Sänger – zum fundamentalen Kulturgut Europas.

Übersetzt ins Griechische wurde der Psalter um 100 v. Chr. von, wie man sagt, siebzig gelehrten Diaspora-Juden in Alexandrien, zusammen mit dem ganzen Alten Testament, es entstand die sogenannte Septuaginta. Diese und deren lateinische Übersetzung, die Vulgata, bildeten für Jahrhunderte die Basis der Interpretation durch die Kirchenväter sowie der mittelalterlichen Kommentatoren. Die modernen Kommentare bedienen sich weitgehend der historisch-kritischen Methode. Sie versuchen, die Psalmen durch Rekonstruktion ihrer Ursprungsbedingungen dem Verständnis zu erschließen.

Wissen, das über den Ursprung eines Textes informiert, muss der persönlichen Aneignung dieses Textes nicht abträglich, sondern kann für sie ein Gewinn sein. Allerdings erfordert das nun eine Aneignung zweiter Stufe, nämlich der Rezeption der Rezeptionsgeschichte und ihres heutigen Standes. Am Ende aber müssen wir – um Wittgensteins Metapher zu gebrauchen – die Leiter wegwerfen, auf der wir hinaufgestiegen sind. Das Studium kann ins Gebet münden. Studium und Gebet sind aber nicht dasselbe. Die reflexive Vermittlung lohnt sich nur, wenn sie in eine neue Unmittelbarkeit mündet.

Die hier vorgelegten Meditationen über eine Auswahl ab Psalm 52 sind die Gedanken eines Laien, eines offenbarungsgläubigen Christen und vernunftgläubigen Philosophen, Gedanken, die keinerlei Kompetenz beanspruchen und niemanden überzeugen wollen, aber mir bei der betenden Aneignung der Psalmen hilfreich waren. Gedanken früherer Interpreten sind in sie eingegangen, die Tradition christlicher Aneignung ebenso wie das, was man den »Stand der Wissenschaft« nennt. Bei diesem »Meditieren bei Tag und bei Nacht« (Psalm 1) stößt man auf Menschen, die ähnlicher Denkart, oder doch aufgrund ihrer Denkart disponiert sind, sich diese Sicht ihrerseits anzueignen.

Begonnen habe ich damit vor Jahrzehnten. Hans Urs von Balthasar (1905  1988) war es, dem einige dieser Texte in die Hand gerieten und der mir eine Veröffentlichung nahelegte. Ich wollte das aber erst ins Auge fassen, wenn ich aufgehört hätte, als Lehrer der Philosophie tätig zu sein. Das ist nun seit langem der Fall.

Mein Schlüssel zum Verständnis der Psalmen ist die Auslegung, die wir Jesus und den Aposteln verdanken. Sie setzt voraus, dass die Verfasser der Psalmen »vom Geist erleuchtet« waren, dass es sich also um prophetische Texte handelt, die – oft ohne Wissen der Verfasser – auf eine messianische Zukunft verweisen. Christus betet nicht nur den 22. Psalm »Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen« am Kreuz. Er zitiert öfter Psalmen mit der Absicht, zu zeigen, dass sie eigentlich von ihm handeln. Er ist der exemplarische Beter des Psalters.

Die innere Aneignung des Textes durch den christlichen Beter geschieht in der Weise der Aneignung ihres durch Christus geoffenbarten Inhalts. Die christliche Aneignung des Alten Testaments ist niemandes »Enteignung«. In den letzten Jahrzehnten wurden die Juden von den Christen oft unter dem ehrwürdigen Bild des »älteren Bruders« gefasst. Der ältere Bruder im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist immer beim Vater geblieben, während sich der jüngere so lange draußen herumgetrieben hat, bis ihm nur noch der Weg zurück nach Hause bleibt. Der Vater, der für den Heimgekehrten ein Fest feiert, nimmt dessen älterem Bruder nichts weg. Aber das Fest ist nicht, was es sein könnte, solange der ältere nicht mitfeiert und die »versprengten Kinder Gottes« (Joh 11, 52) als »Anbeter im Geist« (Joh 4, 24) im durch Christus erneuerten Israel willkommen heißt.

Zu den »Meditationen« ist noch Folgendes zu sagen. Die Meditation ist im christlichen Verständnis eine spirituelle Praxis, die im subjektiven und kollektiven Horizont der Erfahrung, der Überlieferung und des Wissens und im Glauben an den dreieinigen Gott die innere Wahrheit und Heiligkeit des biblischen Textes aufspürt und zum Vorschein bringen will. Was wir können, ist, mit unseren Meditationen durch unser Sein und durch unsere Weisen, uns zu verhalten, göttliche Schönheit repräsentieren, zur Darstellung bringen. Religion hat eine »fromme« Innenseite und eine psychologische, soziologische, kulturwissenschaftliche und phänomenologische Außenperspektive. Lebendig ist eine Religion nur kraft ihrer Innenseite. Wie es ist, verliebt zu sein, kann uns keine Psychologie oder Kultursoziologie nahebringen. Wir müssen es schon erfahren haben. Aber es gehört zum Bildungsprozess des Menschen, von der Außenseite seines Erlebens zu wissen und beide Sprachen sprechen zu können, ohne sie zu vermischen. Die »Meditationen« sprechen die fromme Sprache der Glaubenserfahrung, die durch die Zudringlichkeit der Außenperspektive angefochten und beirrt wird, ohne doch vor ihr zu kapitulieren. Das hat eine Nebenfolge, die die Übersetzung betrifft.

Die Psalmen in diesem Band werden in der Version der Einheitsübersetzung wiedergegeben. Im Text der Meditationen aber habe ich mir teilweise auch die Freiheit genommen, die Verse so zu zitieren, wie sie mir im Gedächtnis gegenwärtig sind, also gelegentlich in eigener Übersetzung der Vulgata, in der Übersetzung von Joseph Franz von Allioli oder anderen. Dadurch kommt die Vielschichtigkeit des Ur-Textes besser zum Vorschein. (Die jeweiligen Verse, auf die sich mein Text bezieht, sind aber auf jeden Fall durch die Versangabe als Marginalien am Rand auffindbar.)

Alle traditionellen Übersetzungen, Luther ebenso wie Allioli, haben ein Gemeinsames: Sie vermeiden es, den geoffenbarten Namen Gottes Jhwh auszusprechen, und sagen an seiner Stelle, dem jüdischen Brauch folgend, »der Herr«. Erst im 20. Jahrhundert sind Bibelübersetzungen erschienen, die sich über das Verbot, den Namen Jahwe auszusprechen, hinwegsetzen. Papst Benedikt XVI. hat das missbilligt und für den liturgischen Gebrauch des Psalters verlangt, zur Tradition zurückzukehren. Man muss dann aus dem Kontext erschließen, ob »der Herr« in einem bestimmten Zusammenhang den Gottesnamen meint oder nicht. Wenn es zu Beginn des 139. Psalms heißt: »Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten«, dann ist klar, dass das erste »Herr« Gott meint und das zweite den Messiaskönig. Luthers Übersetzung begegnet der möglichen Verwirrung dadurch, dass das Wort »Herr« überall dort, wo es den Namen bedeutet, durch Großbuchstaben hervorgehoben wird. Und erwähnt zu werden verdient auch, dass die schöne Psalmenübersetzung in Zürichdeutsch »D’ Psalme Züüridütsch« anstelle des Namens das großgeschriebene Wort ER setzt eine Hervorhebung, die man auch mündlich leicht hörbar machen kann. In allen traditionellen Bibelausgaben ist es im Übrigen üblich, die Pronomina großzuschreiben, wenn sie sich auf Gott beziehen, eine Praxis, die auch im Folgenden weitgehend beibehalten wurde.

Stuttgart, an Mariä Lichtmess 2016

Robert Spaemann

PSALM 52

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1 [Für den Chormeister. Ein Weisheitslied Davids,

2 als der Edomiter Doëg zu Saul kam und ihm meldete: David ist in das Haus des Abimelech gegangen.]

3 Was rühmst du dich deiner Bosheit, du Mann der Gewalt, was prahlst du allzeit vor dem Frommen?

4 Du Ränkeschmied, du planst Verderben; deine Zunge gleicht einem scharfen Messer.

5 Du liebst das Böse mehr als das Gute und Lüge mehr als wahrhaftige Rede. [Sela]

6 Du liebst lauter verderbliche Worte, du tückische Zunge.

7 Darum wird Gott dich verderben für immer, dich packen und herausreißen aus deinem Zelt, dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden. [Sela]

8 Gerechte werden es sehen und sich fürchten; sie werden über ihn lachen und sagen:

9 »Seht, das ist der Mann, der nicht zu Gott seine Zuflucht nahm; auf seinen großen Reichtum hat er sich verlassen und auf seinen Frevel gebaut.«

10 Ich aber bin im Haus Gottes wie ein grünender Ölbaum; auf Gottes Huld vertraue ich immer und ewig.

11 Ich danke dir, Herr, in Ewigkeit; denn du hast das alles vollbracht. Ich hoffe auf deinen Namen im Kreis der Frommen; denn du bist gütig.

Die Prädikate »gut« und »mächtig« bedeuten nicht dasselbe. Die Erfahrung in dieser Welt ist immer und immer wieder, dass die Mächtigen nicht gut und die Guten nicht mächtig sind. Und ebenso alt ist der Protest dagegen. Nie haben sich Menschen mit dieser Erfahrung abgefunden. Besonders aber im Raum des Glaubens ist dieser Gegensatz etwas, das nicht sein dürfte – aber ist. Der Beter des 52. Psalms und vieler anderer Psalmen findet sich nicht ab mit diesem Zustand. Aber er wendet sich nicht sofort an Gott mit der Bitte um das endgültige Kommen seines Reiches, sondern er spricht aus der Gewissheit über die Wirklichkeit dieses Reiches schon jetzt. Sein Adressat ist zunächst der Mächtige, dann, ab Vers 8 bis Vers 9, sind es wohl die anderen Gläubigen. Und am Ende mündet der Psalm in einen Lobpreis und eine Bitte.

Der Beter spricht nicht leibhaftig zu dem Reichen, sondern zu ihm als einem imaginierten Gegenüber. Er will sich selbst vergewissern, dass die Ordnung der Dinge eine falsche ist. Es gibt verschiedene Stadien der Gottwidrigkeit. Es gibt den Heuchler, der eine Frömmigkeit vortäuscht, die er nicht besitzt. Und es gibt den Zyniker, der diesen Kanon prinzipiell ablehnt und sich (Vers 3) »seiner Bosheit rühmt gegen den Frommen«. Er ist erfolgreich, wer will ihm das bestreiten? Etwas anderes als irdischer Erfolg zählt für ihn nicht. In einer Welt, in der das Gute und das Mächtige auseinanderfallen (Vers 4  6), hat er sich für das Mächtige entschieden. Und es fällt auf, dass sein Erfolg vor allem seiner »Zunge« zu verdanken ist. Sie ist »wie ein scharfes Messer«, das heißt, sie versöhnt nicht, sondern spaltet. Und sie lügt. Die menschliche Rede enthält die Möglichkeit, Sein und Schein zu trennen, Eindrücke hervorzubringen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, während der Fromme nur auf die Wirklichkeit, die wahre Wirklichkeit setzt und so als hoffnungslos naiv erscheint. Die Rede des Mächtigen ist destruktiv, es sind »Worte des Verderbens« statt aufbauende Worte.

(Vers 7) Aber nun beschwört der Beter jene wahre Welt, in der der Destrukteur sich selbst destruiert: »Gott wird dich verderben für immer.« Im Reich Gottes ist die Trennung von Sein und Schein aufgehoben, und jeder erntet, was er gesät hat. Der Punkt der fundamentalen Einheit von Macht und Gutsein, der Ort, wo das Mächtige gut und das Gute mächtig ist, heißt »Gott«. Er ist es, der den Verderber verdirbt und vernichtet, der ihn »entwurzelt aus dem Land des Lebens«. Der entwurzelte Baum verdorrt. Das Leben der Menschen wie das der Pflanzen ist nicht autark. Es ist angewiesen auf ständige Zufuhr von oben und von unten. Erst das Wasser, das Jesus in Aussicht stellt, wird in dem, der es bekommt, zur Quelle, »die fortsprudelt ins ewige Leben«, wie es im Johannesevangelium (4, 14) heißt. Die Frommen sehen das Ende des Gottlosen und sollen lachen. Es ist kein hämisches, schadenfrohes Lachen, sondern ein Lachen der Freude über die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung der Dinge, jener Ordnung, von der schon Anaximander spricht, wenn er schreibt, dass die Dinge einander Buße zahlen für das Unrecht. Schadenfreude ist für die Seele des Schadenfrohen verderblich. Aber wenn die Großsprecherei des Gottlosen in sich zusammenfällt, dann ist Genugtuung des Frommen darüber die normale Reaktion. »Dass du die Feinde der heiligen Kirche demütigen wollest«, so beten wir schließlich in jeder Allerheiligenlitanei. »Demütigen«, humiliare, das heißt so viel wie »demütig machen«, und das ist wiederum nichts anderes als bekehren.

Alle Sicherungen des gottlosen Menschen, alles Vertrauen auf eigenen Reichtum, eigene Klugheit und eigene Kraft fällt in sich zusammen. Der Kampf um Erhaltung des Lebens wird von jedem Kämpfer am Ende verloren. Spätestens der Tod, die äußerste Ohnmacht, ist das Ende aller Bemühungen um Selbstbehauptung. (Vers 10) Gerade im Anblick des Gottlosen aber erlebt sich der Beter als »grünenden Ölbaum« im Haus des Herrn (in den Vorhöfen des Tempels wuchsen Ölbäume).

Bekehrung sagt sich leicht, aber es wirklich zu tun, erfordert einen gewaltigen Schritt, nämlich alles von Ihm zu erwarten, Ihm zu vertrauen, wie das Kind, das sich von einer hohen Leiter in die Arme des Vaters fallen lässt. Auf die Vertrauenserklärung folgt dann der Lobpreis: (Vers 11) »Denn du hast es getan.« Was getan? Er, der die Hoffnung erfüllen wird, Er ist es, der die Hoffnung und das Vertrauen selbst schon gegeben hat. Die göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe sind nicht das Ergebnis von Mühe und Anstrengung, sondern sie sind reine Gabe. »Er hat es getan.« Dank und Lobpreis müssen deshalb nicht warten, bis die Hoffnung erfüllt ist. Wer die Erfüllung der Hoffnung gibt, hat bereits die Gewissheit dieser Erfüllung, die Hoffnung, gegeben. Der Beter gehört zu denen, die diese Gabe empfangen haben und die deshalb weiter hoffen. Vor ihnen, so heißt es in der Vulgata, »ist dein Name gut, exspectabo nomen tuum, quoniam bonum est.

In anderen Psalmen wird Gott die Qualität »süß« beigelegt: Gustate et videte, quoniam suavis [griech.: chrestos] est Dominus. [»Kostet und seht, wie gütig der Herr ist.«] (Psalm 34, 9) Süßigkeit ist etwas, das nicht gewusst werden kann, ehe es geschmeckt wurde. Der Beter hat sie geschmeckt. Trahit sua quemque voluptas, sagt Vergil, »jeden reißt seine Lust hin« (2. Ekloge 1, 65). Die voluptas des Frommen ist der Name Gottes und der Name seines Sohnes, unseres Erlösers. Für ihn, der bereits eine Erfahrung der Gnade gemacht hat, sind diese Namen »süß«. O Jesu, so schreibt der heilige Bernhard von Clairvaux, in ore mel, in aure melos, in corde jubilus (»O Jesus: Honig im Mund, Gesang im Ohr, Jubel im Herzen«). (Sermones super Cantica, sermo 15, cap. 3 f.)

PSALM 53

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1 [Für den Chormeister. Nach der Weise »Krankheit«. Ein Weisheitslied Davids.]

2 Die Toren sagen in ihrem Herzen: »Es gibt keinen Gott.« Sie handeln verwerflich und schnöde; da ist keiner, der Gutes tut.

3 Gott blickt vom Himmel herab auf die Menschen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht.

4 Alle sind sie abtrünnig und verdorben, keiner tut Gutes, auch nicht ein Einziger.

5 Haben denn die Übeltäter keine Einsicht? Sie verschlingen mein Volk. Sie essen Gottes Brot, doch seinen Namen rufen sie nicht an.

6 Es trifft sie Furcht und Schrecken, obwohl doch nichts zu fürchten ist. Deinen Bedrängern hat Gott die Glieder zerschlagen. Gott lässt sie scheitern, denn er hat sie verworfen.

7 Ach käme doch vom Zion Hilfe für Israel! Wenn Gott einst das Geschick seines Volkes wendet, dann jubelt Jakob, dann freut sich Israel.

Es gibt Menschen, die »in ihrem Herzen sagen: Es ist kein Gott«. Für den Gläubigen ist das der Inbegriff der Torheit. Im Gebet eines Ungläubigen von Unamuno heißt es: »Gott, wenn es dich gäbe, dann wäre ich selbst ja wirklich.« (Miguel de Unanumo, »La oración del ateo«) Gott leugnen heißt im Absurden leben wollen. Wenn Gott nicht ist, schreibt Nietzsche, gibt es nicht so etwas wie Wahrheit, also auch nicht so etwas wie Aufklärung. Denn »auch wir Aufklärer […] leben noch von dem Christenglauben, der auch der Glaube Platons war, dass Gott die Wahrheit, dass die Wahrheit göttlich ist« (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral). Der 53. Psalm nennt die Leugner der Existenz Gottes kurzerhand »die Toren«. Und zwar nicht jeden, der verbal die Existenz Gottes bestreitet, sondern den, der ihn »in seinem Herzen leugnet«, der also lebt, etsi deus non daretur, als ob es Gott nicht gäbe. »Wenn es Gott nicht gibt«, schreibt Dostojewskij (Die Brüder Karamasov), »ist alles erlaubt«. Wer Gott »mit dem Mund« leugnet, aber so handelt, als ob es Gott gäbe, gehört nicht zu den Gottesleugnern »in seinem Herzen«.

In seiner Lebensweise ist Gott gewissermaßen anonym gegenwärtig. Für Israel ist Gott aus der Anonymität herausgetreten. Er hat diesem Volk den Namen gegeben, mit dem Er in der Mitte des Volkes gegenwärtig ist, verehrt und angerufen wird, den Namen JHWH. Zuletzt aber ist Er in Jesus leibhaftig unter den Menschen erschienen. Und das Bekenntnis zu Ihm in dieser seiner nun ganz konkret gewordenen Präsenz muss nun auch ein leibhaftiges, konkretes und eindeutiges sein. »Wenn du mit deinem Mund bekennst: Jesus ist der Herr, und mit deinem Herzen glaubst: Gott hat ihn von den Toten auferweckt, so wirst du gerettet werden.« (Röm 10, 10)

(Vers 1) Torheit nennt der Psalm ganz einfach die wirkliche, nicht nur verbale Gottesleugnung. Was auf ihrem Grund entsteht, kann nichts (Vers 2) Gutes sein. Es ist »verwerflich, schnöde, abtrünnig, verdorben«, also böse. Denn der tiefste Grund des Gutseins wird negiert. Und das ist kein Einzelfall, sondern der Psalm erklärt, dass alle Menschen von dieser Art sind, »keiner tut das Gute, auch nicht ein einziger«. Der heilige Paulus zitiert diesen Passus als Beweis dafür, dass »alle, Juden wie Griechen, unter der Herrschaft der Sünde stehen« (Röm 3, 9  12). Dieses Verdikt sagt zweierlei: Es sagt, dass die unerlöste Menschheit unter dem Gesetz der Sünde steht, nicht unter der Herrschaft Gottes. Und es sagt zweitens, dass jeder Mensch, obwohl er unter dem Gesetz der Sünde leidet, zur Herrschaft dieses Gesetzes selbst unablässig beiträgt. Die Feststellung, dass alle Menschen ausnahmslos unter dem Gesetz der Sünde stehen, lässt sich nicht empirisch begründen oder bestätigen. Und der Psalmist versucht das auch nicht. »Alle Menschen« sieht nämlich nur Gott.

(Vers 3) Und der nächste Vers unseres Psalms beruft sich mit Bezug auf diese These auf Gottes Urteil: »Gott blickt vom Himmel herab auf die Menschen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht.« Und es ist Gott, der keinen findet. Wenn aber Er es ist, der keinen findet, dann heißt das: Es gibt keinen. Wenn aber dies so ist, muss man dann nicht sagen: Was der Psalm als »böse« brandmarkt, ist die Natur des Menschen? Aber für sie hat der Mensch keine Verantwortung.

Die Evolutionstheorie ist es, die uns eine Antwort auf die Frage nach dem anbietet, was wir böse nennen. Und ihre Antwort ist nicht falsch, aber dennoch nur Teil der wahren Antwort. Sie lautet: Mit der Schöpfung eines »vernünftigen Tieres« eröffnet sich ein Entscheidungsspielraum. Das göttliche Verbot im Paradies stellt den Menschen vor die Entscheidung, seine Naturwüchsigkeit zu überschreiten und etwas zu tun, nicht, weil es in seiner Natur liegt, sondern »weil Gott es geboten hat« (Thomas von Aquin, Expositio super II epist. ad. Cor. 3, 2). Die alternative Option bestand darin, in der bloßen Natur zu bleiben, und damit beginnt die Sünde. Böse ist, so schreibt Hegel, nicht die Natur, sondern das Bleibenwollen in der Natur. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Kap. 36) Dabei ist es ein Wesen der geistigen Welt, der Teufel, der dem Menschen suggeriert, es gebe in Wirklichkeit keine Transzendierung der egoistischen Motivation natürlicher Wesen: Gott selbst stehe in dieser Ordnung, und sein Verbot sei nicht eine Prüfung und eine Chance, sondern selbst nur Ausdruck egoistischer Missgunst.

Adam und Eva verspielten die Chance, Stammeltern eines die ganze Menschheit umfassenden Volkes Gottes, einer civitas Dei, zu sein, deren Bürger Gott mehr lieben als sich selbst. Da diese Menschheitsfamilie als Reich Gottes nicht zustande kam, kann man in sie auch nicht von Natur hineingeboren werden. Jeder Mensch wird deshalb zunächst in einen Unheilszusammenhang hineingeboren, der einer naturalistischen Erklärung zugänglich ist. Aber wo die naturalistischen Erklärer versuchen, den Begriff des Bösen und der Sünde zu verdrängen, da scheitern sie, weil sie nicht wissen von einer göttlichen Stimme, die den Menschen aus dem Naturzustand herausruft. Jesus sagt deshalb, das erste, was der Heilige Geist der Welt zu Bewusstsein bringen wird, ist, »dass es eine Sünde gibt«. (Joh 16, 8) Aber dazu musste Gott erst in Jesus konkrete Gestalt annehmen, der deshalb von der Sünde sagt, sie bestehe darin, »dass sie nicht an mich geglaubt haben«. In dieser Welt des »Alle gegen alle«, wo der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, gilt wieder das Recht des Stärkeren.

(Vers 5) Und so werden aus der Masse der verwerflich Handelnden, also der Masse der Menschheit, nur die einsichtslosen Übeltäter herausgehoben, die »mein Volk verschlingen«. Das Volk besteht zwar selbst auch aus lauter Bösen. »Ihr, die ihr böse seid«, so sagt Jesus sogar zu seinen Jüngern. (Mt 7, 11) Aber dort, wo das Gesetz des Dschungels regiert, gibt es immer die Mächtigen und die weniger Mächtigen, die Armen. Sie sind dem Reich Gottes näher, weil sie von dem Gesetz des Dschungels nicht profitieren. Darum werden sie von Christus seliggepriesen. Die Ausbeuter »essen Gottes Brot, doch seinen Namen rufen sie nicht an«. Sie wollen die Gabe ohne den Geber. So wie nach Paulus denen, die Gott lieben, »alle Dinge zum Besten gereichen« (Röm 8, 28) – »auch die Sünden«, fügt Augustinus hinzu –, so gereichen denen, die sich selbst lieben »bis zur Verachtung Gottes« »alle Dinge zum Verderben« (De civitate Dei, XIV, 28).

(Vers 6  7) »Und am Plan gegen die Armen werden sie scheitern.« Auf dieses Scheitern setzt der Beter. Glaube und Hoffnung kommen in den letzten Versen des Psalms zum Ausdruck. Der Glaube ist die Überzeugung vom Scheitern des Gottlosen, dem Zusammenbruch, der von »gewaltigem Entsetzen« begleitet ist. Aber diese letzten Dinge sind nicht unmittelbare Erfahrung. Sie sind Gegenstand der Hoffnung und der Bitte.

(Vers 8) »Ach käme doch …!« »Wenn Gott einst das Geschick seines Volkes wendet, dann jubelt Jakob, und Israel wird sich freuen.« Die Freude des Gläubigen ist nun einmal wesentlich Vorfreude.

Erwartet aber wird die »Hilfe für Israel« »vom Zion aus«, also nicht unmittelbar vom Himmel. Zion ist der Ort des Tempels. Der Tempel aber ist »der Tempel Seines Leibes« (Joh 2, 21), und der Leib Christi ist die Kirche Gottes. Wenn Gott seine Hilfe zur Rettung seines Volkes schickt, dann tut er dies durch Jesus Christus: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich.« (Joh 14, 6)

PSALM 54

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1 [Für den Chormeister. Mit Saitenspiel. Ein Weisheitslied Davids,

2 als die Sifiter kamen und Saul meldeten: David hält sich bei uns verborgen.]

3 Hilf mir, Gott, durch deinen Namen, verschaff mir Recht mit deiner Kraft!

4 Gott, höre mein Flehen, vernimm die Worte meines Mundes!

5 Denn es erheben sich gegen mich stolze Menschen, freche Leute trachten mir nach dem Leben; sie haben Gott nicht vor Augen. [Sela]

6 Doch Gott ist mein Helfer, der Herr beschützt mein Leben.

7 Auf meine Gegner falle das Unheil zurück. Weil du treu bist, vernichte sie!

8 Freudig bringe ich dir dann mein Opfer dar und lobe deinen Namen, Herr; denn du bist gütig.

9 Der Herr hat mich herausgerissen aus all meiner Not und mein Auge kann auf meine Feinde herabsehn.

Das Gebet eines Bedrängten und ungerecht Verfolgten mit der Bitte, dass ihm sein Recht wird, ihm und ihnen. Ihnen, den Bedrängern und Bedrückern, geschieht Recht, wenn das, was sie dem Beter antun, sie selbst trifft: (Vers 7) »Es falle das Unheil zurück auf meine Gegner.« Recht ist die Einheit des Guten und des Mächtigen. Gott ist diese Einheit. (Vers 3) Unter beiden Prädikaten wird Er hier angerufen. Gott soll helfen »durch seinen Namen« und »durch seine Macht«. Was bei Platon »das Gute selbst« heißt, das ist im Raum der Offenbarung kein »Prinzip«, sondern ein lebendiges Wesen, der »lebendige Gott«, der unter einem Namen identifiziert und angerufen werden kann: nicht also »Etwas«, sondern »Jemand«. Der Name ist die Präsenz Gottes in der Welt. Alles Schöne, alles Herrliche, alles Gute in der Welt ist »Verherrlichung« seines Namens.

Dass der Name »geheiligt« werde, ist eine der Vaterunser-Bitten. Geheiligt wird er überall dort, wo Menschen seinen Willen tun. Aber wenn wir den Namen anrufen, dann meinen wir nicht nur das personifizierte Gute, sondern wir meinen es zugleich als absolute Macht. »Alles, was Er will, das tut Er«, heißt es im 135. Psalm (Vers 6). Manche Priester ersetzen heute das Wort »allmächtig« durch das Wort »gütig«. Wenn aber der Gütige nicht der Allmächtige wäre, könnte Er uns letzten Endes nicht helfen. Vor allem könnte Er nicht vor dem Tod retten. Es gibt die Macht des Faktischen. Alles ist, wie es ist. Auch unsere Bemühungen, den Gang der Dinge zu gestalten, sind nur ein winziges Element im unaufhaltsamen Strom des Geschehens. Dass die absolute Macht nicht eine anonyme und blinde ist, sondern sich geoffenbart hat unter einem Namen, unter dem sie angerufen werden kann, das ist jüdischer und christlicher Glaube.

(Vers 5) Von dieser Macht erbittet der bedrängte Beter sein Recht. Seine Feinde »haben Gott nicht vor Augen«. Sie spielen ihren Part im universalen Parallelogramm der Kräfte, wo jeder für sich im Mittelpunkt der Welt steht und nach dem Wort Anaximanders dafür mit dem eigenen Untergang zahlt (»Die Dinge zahlen einander Buße für das Unrecht, indem sie zugrunde gehen«). Sie haben Gott nicht vor Augen, das heißt, sie sind blind gegen die Gerechtigkeit, der sie doch unfreiwillig unterworfen bleiben, während der Beter die Gerechtigkeit will. (Vers 7) Er möchte, dass das Unheil sich gegen die kehrt, die es dem Beter zugedacht haben. Wobei es leicht ist, Gerechtigkeit zu wollen, wenn man selbst Opfer der Ungerechtigkeit ist. Darum werden ja diejenigen selig gepriesen, die »Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen« (Mt 5, 10). Ihr Interesse fällt nämlich mit dem Interesse Gottes zusammen.

(Vers 8) Am Ende gelobt der Beter Opfer zum Dank für die Erhörung. Ein Gelübde abzulegen für den Fall der Erhörung eines dringlichen Gebets ist eine urmenschliche Regung. Sie kann einem primitiven Bestechungsversuch gleichkommen, was für den Psalmisten auszuschließen ist. Es kann sich um die Sehnsucht nach dem Sieg der Gerechtigkeit handeln. Mit dem Dankgelübde beugt der Beter seiner eigenen Undankbarkeit vor – der Mensch neigt dazu, wie die neun Aussätzigen, die Jesus geheilt hat (Lk 17, 17), die Gabe gern anzunehmen, aber den Geber darüber zu vergessen. Dann aber ist die Gabe nutzlos gewesen, denn sie sollte den Menschen mit dem Geber enger verbinden.

(Vers 9) Zum Sieg der Gerechtigkeit gehört die Niederlage der Feinde, an denen der Psalmist »seine Augen weiden« möchte. Vergeltung, Buße des Übeltäters gehört nun einmal für jedes menschliche Empfinden zur Wiederherstellung des Rechts. Und auch wo der Apostel die Rache verbietet, da lässt er Gott sprechen: »Mein ist die Rache, ich will vergelten.« (Röm 12, 19) Nur aus dieser Gewissheit ist der Verzicht auf irdische Vergeltung möglich. Sich selbst Recht verschaffen, das bleibt auf der Ebene des Egozentrismus. Darum verbietet auch das bürgerliche Recht in christlichen Ländern die Rache und reserviert die Vergeltung dem Gericht. Wir Christen glauben allerdings, dass Gott sich in Christus selbst zum Gegenstand der Vergeltung für die Sünden der Welt gemacht hat und sogar für die Sünde seiner Peiniger, für die er den Vater um Verzeihung bittet. Das erst ist der wirkliche und endgültige Triumph über die ungerechte Gewalt, über die Trennung von Liebe und Macht.

Es bleibt die Frage, für wen der christliche Beter des Psalms Hilfe erbittet. Wo wie in der Kirche regelmäßig der Psalter rezitiert wird, da stellt sich diese Frage. (Vers 5) Nicht jeder einzelne Beter kann doch sagen »Gewalttätige trachten mir nach dem Leben« – oder doch? Dass »der Teufel umhergeht wie ein brüllender Löwe, suchend, wen er verschlinge« (1 Petr 5, 8), das schreibt immerhin der Apostel, und die Kirche zitiert den Satz jeden Abend zur Komplet. Der Teufel ist nach den Worten des Herrn der »Mörder von Anbeginn« (Joh 8, 44). Er trachtet uns in der Tat nach dem Leben, und nur in der Kraft Gottes können wir uns seiner erwehren. Was aber die irdische Verfolgung und Bedrohung betrifft, so kann jeder Beter den Psalm im Namen der Kirche Christi jederzeit beten, denn tatsächlich ist die Kirche immer irgendwo auf der Welt in ihren Gliedern der Bedrückung und der blutigen Verfolgung ausgesetzt. Wo immer ein Christ Psalmen betet, ist Christus und sein »Leib«, die Kirche, der eigentliche Beter.

PSALM 55

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1 [Für den Chormeister. Mit Saitenspiel. Ein Weisheitslied Davids.]

2 Vernimm, o Gott, mein Beten; verbirg dich nicht vor meinem Flehen!

3 Achte auf mich und erhöre mich! Unstet schweife ich umher und klage.

4 Das Geschrei der Feinde macht mich verstört; mir ist angst, weil mich die Frevler bedrängen. Sie überhäufen mich mit Unheil und befehden mich voller Grimm.

5 Mir bebt das Herz in der Brust; mich überfielen die Schrecken des Todes.

6 Furcht und Zittern erfassten mich; ich schauderte vor Entsetzen.

7 Da dachte ich: »Hätte ich doch Flügel wie eine Taube, dann flöge ich davon und käme zur Ruhe.«

8 Weit fort möchte ich fliehen, die Nacht verbringen in der Wüste. [Sela]

9 An einen sicheren Ort möchte ich eilen vor dem Wetter, vor dem tobenden Sturm.

10 Entzweie sie, Herr, verwirr ihre Sprache! Denn in der Stadt sehe ich Gewalttat und Hader.

11 Auf ihren Mauern umschleicht man sie bei Tag und bei Nacht; sie ist voll Unheil und Mühsal.

12 In ihr herrscht Verderben; Betrug und Unterdrückung weichen nicht von ihren Märkten.

13 Denn nicht mein Feind beschimpft mich, das würde ich ertragen; nicht ein Mann, der mich hasst, tritt frech gegen mich auf, vor ihm könnte ich mich verbergen.

14 Nein, du bist es, ein Mensch aus meiner Umgebung, mein Freund, mein Vertrauter,

15 mit dem ich, in Freundschaft verbunden, zum Haus Gottes gepilgert bin inmitten der Menge.

16 Der Tod soll sie überfallen, lebend sollen sie hinabfahren ins Totenreich. Denn ihre Häuser und Herzen sind voller Bosheit.

17 Ich aber, zu Gott will ich rufen, der Herr wird mir helfen.

18 Am Abend, am Morgen, am Mittag seufze ich und stöhne; er hört mein Klagen.

19 Er befreit mich, bringt mein Leben in Sicherheit vor denen, die gegen mich kämpfen, wenn es auch viele sind, die gegen mich angehen.

20 Gott hört mich und beugt sie nieder, er, der als König thront seit Ewigkeit. [Sela] Denn sie kehren nicht um und fürchten Gott nicht.

21 Der Feind legt Hand an Gottes Freunde, er entweiht Gottes Bund.

22 Glatt wie Butter sind seine Reden, doch in seinem Herzen sinnt er auf Streit; seine Worte sind linder als Öl und sind doch gezückte Schwerter.

23 Wirf deine Sorge auf den Herrn, er hält dich aufrecht! Er lässt den Gerechten niemals wanken.

24 Du aber, Gott, wirst sie hinabstürzen in die tiefste Grube. Gewalttätige und Betrüger erreichen nicht die Mitte ihres Lebens. Ich aber setze mein Vertrauen auf dich.

Ein weiterer Hilfeschrei. Diesmal ist die Bedrängnis des Beters Teil einer kollektiven Bedrängnis. (Vers 10  12) Von »Gewalttat und Hader in der Stadt« ist die Rede, vom »Geschrei der Feinde«, von »Betrug und Unterdrückung« auf dem Markt, also dort, wo von Rechts wegen Recht gesprochen wird, (Vers 5  6) von Todesangst, von Furcht und Zittern, also offenbar von einer Terrorherrschaft, der nicht zu entrinnen ist. (Vers 11) Denn die Feinde »umschleichen die Stadt bei Tag und Nacht auf ihren Mauern«. (Vers 7  8) Davonfliegen in die Wüste, »an einen sicheren Ort«, würde der Beter am liebsten. Aber er hat keine Flügel. Und dazu kommt ein tiefer persönlicher Kummer: (Vers 14  16) Sein Freund, mit dem er in früheren Zeiten zum Tempel gepilgert ist, hat die Seite gewechselt und erweist sich als Denunziant. So schweift der Sänger »unstet umher und klagt«. Ihm bleibt nur der Ruf zu Gott: (Vers 17) »Ich aber, zu Gott will ich rufen, der Herr wird mir helfen.«

Der Beter beginnt mit der wiederholten Bitte um Gottes Aufmerksamkeit und Gehör. Mit »Herr, erhöre mein Gebet« oder »Gott, merk auf meine Hilfe« beginnt die Kirche die meisten ihrer Gebete und jedes ihrer Tagzeitoffizien. Warum diese Bitte? Warum das laute Rufen? Muss man um Gottes Aufmerksamkeit bitten? Jesus lehrt, dass man das muss. Er stellt uns als Vorbild die Witwe vor Augen, die, um ihr Recht zu bekommen, einem korrupten Richter so lange auflauert und lästig fällt, bis dieser endlich, um seine Ruhe zu haben, tätig wird. (Lk 18, 1  8)

Ist Gott so? Gott ist keine Metapher für eine wohltätige, anonyme, kosmische Macht, die man weder bitten noch der man danken kann. Wenn wir auch der Liebe Gottes sicher sein können, so sind doch Gottes Gaben nur dann für uns heilsam, wenn wir mit der Gabe den Geber empfangen. Wer sich gegen den Geber verschließt, der entzieht sich dem Gekannt-Werden durch Gott. Also auch der Aufmerksamkeit Gottes. Gott überlässt ihn sich selbst. »Der Herr kennt den Weg der Gerechten«, hieß es im ersten Psalm, »aber die Gottlosen sind wie die Spreu, die der Wind von der Erde verweht.« Ihren Weg kennt Gott nicht, darum ist er in Wirklichkeit auch gar kein Weg, sondern mündet im Verderben. Die hartnäckig wiederholte Bitte um Aufmerksamkeit bringt den Beter erst allmählich in die Disposition, Gegenstand der Aufmerksamkeit Gottes sein und Seine Gabe als Gabe empfangen zu können.

Wie steht es nun mit der Notsituation des Beters in einer Stadt, die in die Hände ihrer Feinde gefallen ist? Und dies, wenn sogar der enge Vertraute zum Verräter wird? Was bedeutet diese Stadt? Für den christlichen Beter bedeutet sie die Welt, »diese Welt«, wie der Apostel sagt. Sie, diese Welt, ist in die Hände des Feindes gefallen, den Christus den »Fürsten dieser Welt« nennt. (Joh 16, 11) Aber die Reconquista hat bereits begonnen – »Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgejagt«, sagt der Herr, der von seinem in feindlichem Territorium errichteten Thron »alles an sich ziehen wird«. (Joh 12, 31)

Die letzten Verse gipfeln in dem Satz, den der Beter zu sich selbst spricht bzw. sich sagen lässt: »Wirf deine Sorgen auf den Herrn … Er lässt dich niemals wanken.« Der Beter scheint hin- und hergerissen zwischen dem Rand der Verzweiflung und der Gewissheit: »Du hältst mich aufrecht.« Die Paradoxie seiner Existenz wäre Unsinn, wenn nicht die Zeitdimension beides miteinander vermittelte. Die Gewissheit gründet sich auf Hoffnung: Zwar ist das Rettende in jedem Augenblick präsent. Aber was nützt die Präsenz, wenn sie auf keine Weise erlebt und erfahren wird? Das Glück des Gläubigen ist nicht ein Glück »dem Elend der Welt zum Trotz« (Wittgenstein). Es ist das Glück der Erwartung, dass es mit dem Elend ein Ende haben wird, und zwar ehe es mit dem Leben selbst ein Ende hat. Mit dem Leben des Gottlosen hat es ein Ende, ehe der Gottlose die Erfüllung seiner Hoffnung erlebt. (Vers 24) »Gewalttätige und Betrüger erreichen nicht die Mitte ihres Lebens.« Nel mezzo del cammin di nostra vita – »Auf der Mitte meines Lebensweges« – so beginnt die Divina Commedia, Dantes Reise durch die jenseitige Welt, die im Himmel endet. Die Mitte, das kann die Hälfte bedeuten, es kann auch die das ganze Leben tragende Mitte meinen, die sich im Lauf des Lebens und an dessen Ende vollends enthüllt. Das Ziel ist es dann, bei dieser Mitte anzukommen.

Dass Gewalt und Lüge am Ende zum Scheitern verurteilt sind, vielfach schon in dieser und mit Gewissheit in jener Welt – das muss sich der Beter angesichts der scheinbar immer noch andauernden Macht des Fürsten dieser Welt immer wieder ins Gedächtnis rufen.

PSALM 61

Ornament

1 [Für den Chormeister. Mit Saitenspiel. Von David.]

2 Gott, höre mein Flehen, achte auf mein Beten!

3 Vom Ende der Erde rufe ich zu dir; denn mein Herz ist verzagt. Führe mich auf den Felsen, der mir zu hoch ist!

4 Du bist meine Zuflucht, ein fester Turm gegen die Feinde.

5 In deinem Zelt möchte ich Gast sein auf ewig, mich bergen im Schutz deiner Flügel. [Sela]

6 Denn du, o Gott, hast meine Gelübde gehört und denen das Erbe gegeben, die deinen Namen fürchten.

7 Füge den Tagen des Königs noch viele hinzu! Seine Jahre mögen dauern von Geschlecht zu Geschlecht.

8 Er throne ewig vor Gottes Angesicht. Huld und Treue mögen ihn behüten.

9 Dann will ich allzeit deinem Namen singen und spielen und Tag für Tag meine Gelübde erfüllen.

Vom »Ende der Erde« aus ruft der Beter. Und da wir diese Beter sind, ist das Ende der Erde unser Ort – weit weg also von dem, wohin das Gebet geht, so dass wir beginnen mit der Bitte um Gehör. Der Beter ist zwar sicher, dass sein Gebet um Gehör gehört wird. (Vers 6) »Du Herr hast gehört meine Gelübde«, heißt es später. Aber diese Zuversicht gründet sich nicht darauf, dass Gott ohnehin überall ist und alles sieht und hört und weiß, was wir brauchen. Jesus Christus lehrt, dem Vater, obwohl Er dies alles weiß, sozusagen lästig zu fallen mit unserem hartnäckigen Gebet. Warum? Weil das Gebet nicht wie das Drehen eines Schalters ist, der einen Automatismus in Gang setzt. Worum wir bitten, ist die persönliche, freie Zuwendung dessen, der das Universum im Sein hält, und den wir Vater nennen dürfen – mit (Vers 3) »verzagtem Herzen«, wie der Psalmist sagt. Er schafft es nicht, einen sicheren Ort zu erreichen. Der Felsen, der Sicherheit und Schutz vor allem Widrigen, vor allem vor feindlichen Mächten, brächte, ist ihm zu hoch. Er muss bitten, geführt zu werden. Aber er weiß, er braucht gar nicht an einen anderen Ort geführt werden. Gott selbst ist die Zuflucht, (Vers 4) »ein starker Turm gegen den Feind«. Und indem wir beten, haben wir schon, um was wir bitten: die Geborgenheit (Vers 5) »im Schutz Deiner Flügel«. Der Beter muss gar nicht mehr dorthin, wo er noch nicht ist, er ist im »Zelt des Herrn«, und um was er bitten muss, ist nur, aus dieser Geborgenheit nicht wieder herausgerissen zu werden, also »ewig« bleiben zu dürfen.

Und da Gott treu ist, kann die Gefahr, herauszufallen aus der Geborgenheit, nur von uns selbst kommen. Das Gebet um die Gabe der Beharrlichkeit ist ein urchristliches Gebet. Denn wir können uns, wenn es um das Letzte geht, nicht auf uns selbst verlassen. Bedingung der Gewissheit ist, dass wir »Seinen Namen fürchten«. Initium sapientiae timor Domini: Der Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht. (Sir 1, 16) Der Gottesfürchtige ist der, der sich weder durch irdische Drohungen noch durch irdische Lockungen sein Koordinatensystem aus den Angeln heben lässt, das System der Koordinaten für das, was wichtig ist und was unwichtig, was sich lohnt und was sich nicht lohnt, was man fürchten muss und was man nicht fürchten muss.

(Vers 7) Dann scheint der Psalm zu einem anderen Thema zu wechseln, zur Bitte für den König. Der Beter gehört zum Gottesvolk. Er trennt sein Heil nicht von dem des Königs. Wenn der König behütet wird, will er dem Namen Gottes singen und spielen. Aber was er dem König erbittet, zeigt, dass es hier in Wirklichkeit um den Messias-König geht, um den Gesalbten des Herrn. »Seine Jahre mögen dauern von Geschlecht zu Geschlecht.« Er throne »ewig« vor Gottes Angesicht. Und »seiner Herrschaft wird kein Ende sein«, so führt der Engel die Worte dieses Psalms und die Weissagung Nathans im 2. Buch Samuel weiter, wenn er Maria die Geburt dieses Königs angekündigt (Lk 1, 26  33). Der christliche Beter muss nicht mehr für diesen König beten.

(Vers 6) Er kann mit dem vorigen Vers sagen: »Du hast, o Gott, meine Gelübde gehört.« Aber da die ewige Herrschaft dieses Königs noch verborgen ist und insofern noch im Kommen, kann auch der christliche Beter diese Herrschaft erbitten, und er tut es in jedem Vaterunser, wenn er spricht »Dein Reich komme«.

PSALM 62

Ornament

1 [Für den Chormeister. Nach Jedutun. Ein Psalm Davids.]

2 Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, von ihm kommt mir Hilfe.

3 Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; darum werde ich nicht wanken.

4 Wie lange rennt ihr an gegen einen Einzigen, stürmt alle heran wie gegen eine fallende Wand, wie gegen eine Mauer, die einstürzt?

5 Ja, sie planen, ihn von seiner Höhe zu stürzen; Lügen ist ihre Lust. Sie segnen mit ihrem Mund, doch in ihrem Herzen fluchen sie. [Sela]

6 Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe; denn von ihm kommt meine Hoffnung.

7 Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; darum werde ich nicht wanken.

8 Bei Gott ist mein Heil, meine Ehre; Gott ist mein schützender Fels, meine Zuflucht.

9 Vertrau ihm, Volk (Gottes), zu jeder Zeit! Schüttet euer Herz vor ihm aus! Denn Gott ist unsere Zuflucht. [Sela]

10 Nur ein Hauch sind die Menschen, die Leute nur Lug und Trug. Auf der Waage schnellen sie empor, leichter als ein Hauch sind sie alle.

11 Vertraut nicht auf Gewalt, verlasst euch nicht auf Raub! Wenn der Reichtum auch wächst, so verliert doch nicht euer Herz an ihn!

12 Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört: Bei Gott ist die Macht;

13 Herr, bei dir ist die Huld. Denn du wirst jedem vergelten, wie es seine Taten verdienen.

V