Roland Scheerer

 

 

Die Welt

ohne Bleiziffer

 

 

edition lichtung

eBook-Ausgabe 2016

© lichtung verlag GmbH

94234 Viechtach Bahnhofsplatz 2a

www.lichtung-verlag.de

Umschlagfoto: Roland Scheerer

Konvertierung: lichtung verlag GmbH

eBook ISBN 978-3-941306-15-8

 

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Die gedruckte Ausgabe ist in der edition lichtung erschienen:

1. Auflage 2013

© lichtung verlag GmbH

Herstellung: DRUCK Team KG Regensburg

ISBN 978-3-941306-06-6

 

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Für Ursula Scheerer

 

 

Prächtigen grünen Stein gefunden –

sofort kommen. Sorbas.

(N. Kazantzakis, Alexis Sorbas)

Erster Teil

Weltraumlegos

1981–1982

 

 

 

Mitte August 1981 warf ich Bleiziffer auf der Felseninsel mit großer Wucht ein Seeigelskelett an den Kopf, das jemand heraufgetaucht und auf die Steine gelegt hatte. Seeigelsplitter flogen herum. Bleiziffer rannte heulend über den jetzt, bei Niedrig­wasser, frei liegenden Übergang von der Felseninsel zum Nacktstrand hinüber, um sich an seine Mutter zu kletten.

Mama winkte mich energisch ans Festland: »Du gehst sofort zu dem Jungen und sagst Entschuldigung.«

Ich wollte nicht, Mama packte mich und sagte zu Bleiziffers Mutter: »Guten Tag, mein Sohn hat Ihrem Kind gerade einen Seeigel an den Kopf geschmissen.«

Sie schubste mich vor.

»Geh, Kordian!«

Auf die Weise lernte ich ihn kennen: Ich studierte angestrengt das Farbspiel der Kieselsteine auf dem Strand, und die vertrockneten, um die Kiesel gewickelten Algen. Bleiziffer, der Marcus hieß, guckte verheult in den Kies und nahm meine hingestreckte Hand für eine Sekunde. Mit der anderen hielt er sich theatralisch den Hinterkopf an der Stelle, wo ihn der Seeigel erwischt hatte. Da waren unsere Mütter praktisch schon im Gespräch.

»Ach, aus Rottenegg? Nee, die Welt ist klein!«

Eine MI-8 hämmerte über die Bucht von Umag, es gab nämlich einen Stützpunkt in der Nähe, hinter dem Pinienwald. Aber Mama wollte mit mir nie zu dem Stützpunkt gehen, sondern immer nur nackt auf dem Kies ein Buch lesen, während ich mich kaum ins Wasser traute, wegen dem Quallenjahr. Bleiziffer und ich sahen dem Hubschrauber nach. Der Hubschrauberwind trocknete Bleiziffers Tränen, und da, in dem Moment, als das Wasser sich nicht mehr kräuselte und die MI-8 hinter dem Pinienkamm verschwand, mussten wir Freunde geworden sein. Wahrscheinlich beobachteten sie von Hubschraubern aus die Frauen auf dem Nacktstrand.

Pinaceæ: Eine etwa 80 Arten umfassende Gattung. Mit ihren langen Nadeln holt die Pinie das Wasser der Passatwinde aus der Luft. Kalbsmedaillons mit Pinienkernen (heiß, zärtlich, kraftvoll); so geht’s: Olivenöl in einer Pfanne erhitzen und die Filets darin etwa drei Minuten von beiden Seiten rosa braten. Tomaten, Pinienkerne, Kapern, Schalotte, Knoblauch und Kräuter im Bratfett anbraten. Pinien säumen die endlosen Felsstrände mit kristallklarem Wasser, die immer wieder von traumhaften Kiesbuchten unterbrochen werden. Die Ferienanlagen erstrecken sich entlang vieler kleiner Buchten, die über verschiedene Kies- und Felsstrände verfügen und von Pinien umgeben sind. Das Hotel Pinija liegt am Kap der kleinen, mit Pinien bewaldeten Halbinsel. Disco Aqua Club (schalldichte Anlage im Pinienwald ca. 2 Min. vom Hotel gelegen) Mai bis Okto­ber täglich geöffnet. Sommerbühne und Kaffeebar.

In diesem Hotel wohnte Bleiziffer mit seiner Mutter. Ich fand es schwach, dass mein Vater mit den Unterlagen zu Hause blieb und mich und Mama allein nach Jugoslawien fahren ließ. Auch wenn es in den Unterlagen um nichts weniger als um die Testreihe ging.

Was aber Bleiziffer betrifft, so stellte sich heraus, dass er überhaupt keinen Vater hatte! Bleiziffer fand Väter blöd. So eine Sichtweise war mir neu, aber es beruhigte mich, denn dann war es für ihn auch nicht schlimm und wir konnten ganz normal über alles reden. Während wir auf Streifzügen große Pinienzapfen suchten, besprachen sich unsere Mütter zweimal grillend im Schatten auf der Terrasse vor dem Apartmenthaus der Frau Aćimović, in Sichtweite des grünblaukarierten Haifisches, der ›Dobrodošli‹ sagte: »Ja, wenn wir so nah – Mensch, da könnten die zwei ja mal miteinander, das wär toll.«

Fand Mama auch. Und beide hatten jemanden gefunden, bei dem sie ihren Jungen mal abladen konnten.

Bleiziffer verließ schon nach drei Tagen das Hotel Pinija, sie fuhren nach Hause. Ich hatte in der Stadt, im Warenhaus ›Puljanka‹, an einer Glastheke mit Kleinzeug wie Aufklebern, Kugelschreibern und Notizkalendern so lange gequengelt, bis Mama sich von der beschürzten Verkäuferin ein bestimmtes Aufnähabzeichen geben ließ, wobei sie sich wieder mal überhaupt nicht vorstellen konnte, was ich mit dem Kram wollte, und mir lieber ein lackiertes Holzeselchen gekauft hätte. Als vor dem Hotel Pinija die Taschen und Koffer in den Bus von Yugotours geräumt wurden, gab ich Bleiziffer das Abzeichen. Darauf prangten zwei üppige Getreidebüschel, ein roter Stern, ein Haufen Fackeln, und ein blaues Schriftband: ›29 · IX · 1943‹.

»Cool«, sagte Bleiziffer und sah mir in die Augen.

Ich nickte, spannte bedeutungsvoll die Lippen an und tat, als verstünde ich, was er damit meinte. Dann hatte ich mich kurz nicht unter Kontrolle: Die Unterlippe rutschte mir nach vorn, sodass Bleiziffer bemerken musste, dass ich es doch nicht verstanden hatte. Bevor sich die Yugotours-Bustür schloss, rief Mama: »Also, Gertrud, dein Marcus ist bei uns jederzeit willkommen!«

 

Unter der Abbildung in der Großen Enzyklopädie der Technik, Band III, stand: Endmontage eines Starfighters. Ich fragte mich wieso, und ob diese Starfighter nur montags gebaut wurden, oder ob es immer gerade Montag war, wenn einer fertig wurde. Man sah die vorlackierten Flugzeugrümpfe unter Gittergestellen in den Lockheed-Hallen von Greenville, South Carolina. Bleiziffer behauptete, dass jemand die Aufnahme eben zufällig an einem Montag gemacht hatte, das sei doch klar, und zwar an einem Endmontag, als der Starfighter schon fast fertig war. Denn hätten sie ein Bild von einem Anfangsmontag genommen, da hätte man nur unzusammengesetzte Einzelteile gesehen, und keiner hätte dann gewusst, um was es eigentlich geht. Ich muss zugeben, dass mir das einleuchtete. Gemeinsam blätterten wir uns durch: Satellitenantennen, Sowjetische Staudämme, Spiegelteleskope. Auch ein Kernkraftwerk, wobei Bleiziffer und ich uns nicht einig waren, ob sie nicht die Abbildung vertauscht hatten, weil man eigentlich ein Schwimmbad sah – aber Bleiziffer bestand darauf: »Das Schwimmbad ist das Kernkraftwerk, du Doofi.«

Noch Jahre später träumte ich manchmal, dass das nahe gelegene Wolnzacher Freibad auch ein Kernkraftwerk war. Bei den Duschen gab es eine Klappe im Boden, durch die man zu dem geheimen Kraftwerk hinunterstieg.

Bleiziffers Mutter hatte ihn tatsächlich schon drei Tage nach unserer Rückkehr vorbeigebracht, weil sie zur Kundgebung fuhr. Bleiziffer sagte, er sei schon oft auf der Kundgebung gewesen und kenne sich aus, im Prinzip sei es langweilig, immer dasselbe.

Wir saßen in Parleiten mit dem Technikbuch im Garten, tranken Himbeer-Cefrisch und zählten die Starfighter am Himmel. Papa hatte gesagt, dass das Erprobungsflüge waren und sie dabei alles Mögliche ausprobierten und die Testreihen machten. Ich war enttäuscht, weil ich mich fragte, wann sie dann richtig flogen – nein, keine Rede davon, dass ich mir einen Krieg gewünscht hätte, obwohl der Herr Bachhuber in Heimat- und Sachkunde Wunderdinge von Süßigkeiten verteilenden Amerikanern erzählt hatte und es toll gewesen sein musste ‒ Krieg, das nicht; aber wozu trieben sie den ganzen Aufwand? Vielleicht war doch von Zeit zu Zeit ein echter Flug dabei?

Bleiziffer wollte schon gerne wissen, was mein Vater eigentlich machte. So genau konnte ich es ihm nicht sagen. Aber dass es direkt etwas mit den Starfightern zu tun hatte, das stimmte.

Wir hörten Nachrichten aus einem Radio-Cassettenrecorder von Privileg. Irgendetwas hatte sich geändert, denn von dem Kater war jetzt immer seltener die Rede, obwohl er doch immer der Wichtigste gewesen und jedes Mal in den Nachrichten vorgekommen war, und ich hatte es gut gefunden, dass da auch Tiere vorkamen, oder Leute mit Tiernamen. Der Bundeskanzler Schmidt war immer noch sehr wichtig, kam immer noch vor. Aber der Allerwichtigste war nach wie vor Ferner: Ferner sagte der Abgeordnete … Ferner der Bundeskanzler … Ferner, so Kater.

Ein Marienkäfer setzte sich auf die Cefrisch-Dose, deren Inhalt mindestens haltbar gewesen wäre bis Ende: 10/1982. Wenn dieser Inhalt nicht schon im Verlauf des Rests dieser Sommerferien sukzessive, gehäufteesslöffelweise in einer Glaskanne mit kalkreichem Leitungswasser aufgelöst, Glas für Glas in einem Zug hinuntergestürzt, und meist an einem bestimmten Platz hinter der Gartenhecke, zwischen einem dicht stehenden Brennnesselgebüsch und einem Weißdorn, perlend auf den immensen Blättern einer verwilderten Herkulesstaude wieder ausgeschieden worden wäre.

 

Als ich im September in die Dritte kam, freute ich mich. Wenngleich ich Bleiziffer jetzt viel seltener sah, weil er von Rottenegg aus in Mainburg zur Schule ging. Seine Mutter hatte eine Sonder­genehmigung erwirkt, weil sie den pädagogischen Ansatz der Geisenfelder Volksschule für reaktionär hielt. In Mainburg säßen junge, neue Kräfte, die sich für die Kinder einsetzen und etwas bewegen würden.

Ich freute mich, weil Herr Bachhuber wieder von den Amerikanern erzählte, wie sie herumgefahren und nett gewesen waren und Sachen verteilt hatten. Ich mochte es aber nicht, wenn Herr Bachhuber selber versuchte, wie die Amerikaner zu sein. Er tat dann hinter dem Rücken ein Gummibärchen in eine schwitzige, gerötete Faust, und man musste raten, in welche: rechts oder links. Es war ein Glücksspiel, und wenn man Pech hatte, musste man das Gummibärchen essen, Herr Bachhuber hatte kein Verständnis für die Ausrede, man wolle es sich für später aufheben. Er wollte nicht, dass unsere Taschen verklebten.

Hätte Breschnew damals eine SS-20 in die Parleitener Dorfkapelle gejagt, wäre alles vorbei gewesen: Bachhuber hätte nie mehr wie die Amerikaner sein wollen können, das Privilegradio hätte die sägenden, webenden Synthesizerklänge der Achtzigerjahre über eine violettverkohlte Strahlenwüste ohne Leben geschickt, solange die Monozellen reichten. Oder es wäre das Funkhaus in München samt Thomas Gottschalk und dem Fritz mit seinen Hits zuerst getroffen worden, dann hätte das Radio in der Wüste geschwiegen. Nun hatte Breschnew es aber nicht getan, und es wurde Herbst. Ein Herbst, in dem wir im Feilenforst mutwillig Parasolpilze knickten und für den Förster Bucheckern holten.

Zu Weihnachten bekam Bleiziffer einen Wellensittich von seiner Mutter. Ihre Freundin Juliane aus Celle, Bürgerin der Freien Republik Wendland, hatte nach der Räumung der Bohrstelle 1004 in Gorleben beschlossen, die BRD zu verlassen, wegzufahren, zusammen mit Gotthard, der diese Longo-Maï-Landkommunen mit aufgezogen hatte und damit zuerst reich geworden, dann ausgestiegen oder rausgeflogen war.

Und weil Gertruds Freundin Juliane den Wellensittich dorthin, nach Griechenland, an einen See in der Gegend von Kastoria, nicht mitnehmen konnte, landete er am Ende bei Bleiziffer in Rottenegg. Bleiziffers Mutter behauptete, Marcus habe doch einmal den Wunsch nach einem Vogel geäußert, was Bleiziffer ab Mitte Februar zuerst zaghaft, dann immer heftiger bestritt.

 

In Posen, in der Gołębia, das heißt Taubengasse, gibt es dieses Wohnzimmercafé, ›Gołębnik‹, das heißt Taubenschlag. Wir haben fünf Grad Celsius, es ist der achte April zweitausend, der sieben­undzwanzigste Geburtstag eines Bootsbesitzers, der Kordian heißt. Das Gołębnik, das Loch Camelot in Krakau: Orte, an denen ich ganze Nachmittage, ganze Wochen allein verbringen könnte, versunken in opulente Farblithographien der ›Fauna Germanica / Die Käfer des Deutschen Reiches / IV. Band‹.

Und mit Erinnerungen im Kopf, die ich einmal niederschreiben müsste. Erinnerungen für eine Welt ohne Bleiziffer. An eine Welt mit Bleiziffer, von dem mir nur dieser Seeigel blieb.

Gestern bin ich aus Warschau gekommen, wo es nur zu diesem Behelfsabschied von Mirka gereicht hat, mit der ich schließlich nicht wenig herumgekommen bin auf der Suche nach den alten Büchern. Manchmal sehe ich mich einer Zeit entgegengehen, in der die Welt austaxiert sein wird. In der es nur noch Schätze zu heben gibt, die die Macher von Computerspielen für uns versenken.

Wir hatten einen Haufen Bücher nach Deutschland gebracht und ich verfügte nun über so etwas wie Geschäftskontakte. Es war eine ziemlich suggestive Ahnung davon gewesen, etwas aus meinem Leben zu machen.

An Mirkas Seite stand nun Waldek als Held und verspäteter Wachhund ›Waldi‹, was der Begegnung in Warschau etwas ziemlich Peinliches gab. Ich musste froh sein, dass sie nur kurz dauerte. Immerhin musste Waldek einen ernsten Grund gesehen haben, Mirka nicht aus den Augen zu lassen. Darauf, auch wenn es nicht viel ist, könnte ich mir etwas einbilden, wenn ich wollte. Mirka – die Nummer eins: Auf dem gerippten Trägershirt trug sie die Ziffer zentral, Baseball Style. Im Haar ein ganzer Schwarm bunter Klammerchen, die verschiedene Tiere darstellten. Ihren Wachhund hielt sie im Zaum.

Von Warschau aus fahre ich nach dem Abschied auf der E30 im zähflüssigen Verkehr bis Koło hinter einem Audi 80 her, den jemand gebraucht aus Deutschland importiert hat. Hinten ist noch das Bekenntnis dran: »Spanien ja – Corrida nein danke«. Ich habe im Kofferraum fünfeinhalb Kartons antiquarische Bücher, die werde ich morgen nach Deutschland bringen. Der Rest der Bücher steht in der Warschauer Wohnung. Den kann sich Kalina holen, wenn sie will. Man würde kaum glauben, dass Mirka und Kalina Schwestern sind. Kalina, die dunkle Magierin – Mirka, das lebensfrohe, offene Gewächs.

Ich hoffe, dass der Zoll mich in Ruhe lässt. Und dass der Wagen weiter mitmacht, in Polen gibt es doch keinen ADAC, wenn dir der Auspuff herunterfällt irgendwo vor Trzciel, um nur einmal einen Ortsnamen zu erwähnen … und da ist ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Geschäftsleuten, die, gewiss ohne jedes kulturelle Interesse unterwegs nach Warschau, angesichts der Landessprache ratlos die Schultern zucken, während Mirka in der kurzen Zeit jene seichte Schicht Wasserpolnisch in mir freigelegt und fruchtbar gemacht hatte, die ich Tante Elsa verdanke. Eine einzige Silbe: Trzciel.

Wie lange ging das? An die fünf Monate: Ich kann alles aussprechen, Nutella und Nudeln kaufen gehen und vieles verstehen. Mirka hat in der kurzen Zeit das Äußerste an sprachlichem Fortschritt aus mir herausgeholt. Mirka!

Ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen finden durchs Fenster des Gołębnik herein. Am Nachbartisch sagt jemand: »Well, I don’t think it’s possible to build a network like this.«

Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wie es berechnet wird: Zoll. Beziehungsweise, angeblich darf man nichts ausführen, was von vor 1945 ist, und angeblich geht es dabei darum, keine Kulturgüter außer Landes zu schaffen – aber was können sie mit den ollen Büchern wollen? Oder ob ich eher dem deutschen Staat schade, wenn ich hier irgendetwas günstig bekomme? Vielleicht sollte es mich interessieren, aber es interessiert mich leider nicht. Ich denke, dass sie mich durchfahren lassen, denn wofür ist man schließlich an der Uni eingeschrieben? Dann sind das Unterlagen, die ich für die Abschlussarbeit bei Brusdeilins brauche. Zollbeamte haben doch nicht studiert. Die können nicht ermessen, welche Menge an staubigen Wälzern man durchackern muss. Um erst einmal ein Thema zu finden! Das Material will ja zunächst gesichtet sein, und wenn sich am Ende herausstellt, dass es doch zu nichts nütze ist – ist es dann meine Schuld?

Ich bestelle einen großen Kaffee mit Milch. Die Schauminseln in der Tasse formieren sich zu einem Buddha, der, mit dem Kopf nach unten, meditiert. Aus dem Bhagava, dem Erhabenen, wächst seitlich ein dicker Netzstecker heraus. Siebenundzwanzig sein: Auch die Liste der Dinge, die man nie mehr nachholen wird, wird täglich länger.

 

Dieses Wort, ständig war man damit konfrontiert: ›gefälligst‹. Marcus solle gefälligst für den Vogel sorgen, sagte Gertrud Blei­ziffer, sie könne nicht mit ansehen, wie Captain Future verwahr­lose. Captain Future hatte bei Juliane in Celle noch Venceremos geheißen, aber Bleiziffer hatte ihn umgetauft. Wenn es schon sein Vogel war, dann wollte er wenigstens den Namen bestimmen.

Ich konnte es Bleiziffer nachfühlen, denn bei Mama war es im Grunde dasselbe: Seit die Sawitzki-Brüder mir ihre nach dem Kopfballungeheuer Horst Hrubesch benannte Albino-Farbmaus aufgeschwatzt hatten, musste ich es mir selber täglich anhören: gefälligst. Und: Verantwortung für das Tier.

»Jede Zoohandlung würde Hrubesch gebraucht als Schlangenfutter zurücknehmen, du hast die Wahl!«

Seit einiger Zeit war es Papa, der mich mit dem Granada zu Bleiziffers fuhr. Seit er ständig zum Baumarkt musste, weil er unser Haus verbesserte und jedes Mal zwei Hohlraumschalterdosen fehlten und Klemmleisten, oder er sich um vier Fliesen verschätzt hatte und bei den nachgekauften wieder die Schattierung nicht stimmte – da lag es für ihn auf dem Weg. Diesmal hatte ich Hrubesch mit. Papa fand nichts dabei. Wenn es ihn interessiert hätte, hätte er sich gefreut, dass ich mich wieder mit der Maus beschäftigte.

Die Bleiziffersche Terrasse, die, wie Marcus erzählte, von Amei­sen ganz ausgehöhlt war, lag im Sonnenlicht; am Himmel war irgendein Flugzeug. Marcus kam uns entgegen und fragte meinen Vater wie nebenbei: »Was machen Sie eigentlich so, beruflich?«

Ich war selbst ganz gespannt, was Papa antworten würde. Papa murmelte, als ob es nichts Belangloseres gäbe, etwas Unverständ­liches von Datenabgleich, Routinetests, Kalibrierung, Messreihen. Es klang alles andere als atemberaubend. Wenn er uns wenigstens anvertraut hätte, dass es ein Staatsgeheimnis war, dafür hätten wir Verständnis gehabt! Heute ist mir natürlich klar, dass Gertruds Anwesenheit dazu beitrug, dass er sich dem peinlichen Thema entziehen wollte: Gertrud stand in einem braun-blauen Wickelrock, der in Wachstechnik Szenen des traditionellen Lebens und stilisierte Gebirgslandschaften zeigte, in der Terrassentür und bat Papa ins Haus. Dort trank er einen Kaffee, bevor er zum Baumarkt weiterfuhr.

Unterdessen mischte Bleiziffer auf der Terrasse das Panzerquartett. Er hatte am letzten Wochenende das Spiel vorgeschlagen und dabei so getan, als ginge es um das Spielen – und nicht um Captain Future, inklusive Käfig. Captain Future sei gewisser­maßen bloß irgendein Einsatz, weil man eben einen Einsatz brauchte, damit es spannend wurde. Natürlich war mir klar, dass Bleiziffer alles dransetzen würde, Captain Future loszuwerden. Da ich die Gelegenheit als Chance begriff, hatte ich Hrubesch gegen Captain Future gesetzt. Mit dem Merkava, dem Leopard und einem unförmigen amerikanischen Transportungetüm von achtunddreißig Mann Besatzung vernichtete mich Bleiziffer, der eine unglaubliche Strähne hatte, in einer Umfassungsschlacht ohne Beispiel. In dem Moment, als er mir meine letzte Karte, ein leicht gepanzertes japanisches Spähfahrzeug, abnahm, womit er sein fünftes der angesetzten neun Spiele gewann – da war es klar, dass Hrubesch in Rottenegg blieb, und Bleiziffer tröstete es auch nicht, wenn ich ihm sagte, er könne ihn jederzeit gebraucht in einer Zoohandlung als Schlangenfutter abgeben, wenn es ihm zu viel würde, das sei jetzt seine Entscheidung. Vielleicht habe ich sogar von Verantwortung gesprochen.

Als wir Hrubesch ins Haus brachten, damit Bleiziffer ein schattiges Plätzchen für ihn suchen konnte, sodass seine Mutter die Maus nicht sofort sah, war Papa schon wieder da. Er saß vor einem Kaffee in der Küche mit ihr und rauchte. Mensch, mein Vater rauchte plötzlich Zigaretten?

»Die haben unsere Fliesen wieder nicht dagehabt.«

Stattdessen hatte Papa für Gertrud eine kleine Marmorbank besorgt, deren Bestandteile wir mit vereinten Kräften aus dem Kofferraum hievten und durch den Garten schleppten. Die Bank wurde an der Rückseite des Hauses, mit Blick auf die Felder, aufgestellt.

Ich protestierte, weil uns die Plackerei kaum Zeit zum Spielen gelassen hatte, und Papa gab nach: »Dann will ich nicht so sein. Ich werde mich noch im Garten umsehen.«

Und während Hrubesch im Vogelkäfig den Wellensittich ken­nen lernte, wobei er selbst vollständig ignoriert wurde, führ­te Bleiziffers Mutter meinen Vater durch Reseden und schwe­fel­­gelbe Nachtkerzen. Durch Rittersporn, Schafgar­be und Japan-Anemonen folgte er, blieb vorm giftigen Eisen­hut stehen, ließ sich Feuer geben, zeigte auf Sonnenblumen. Etwas spä­ter konnten wir die beiden auf der neuen Marmorbank pro­be­­sitzen sehen.

»Wo hast du Hrubesch gelassen?«, fragte Papa auf der Heimfahrt im Granada.

»Hab ich Bleiziffer geliehen.«

»Pass auf, Kordian, das muss nicht sein, dass du der Mama sagst, dass ich ’ne Zigarette geraucht hab, okay? Die mag das nicht, und ich rauche ja an sich auch nicht, einverstanden?«

»Aber sie wird Ärger machen wegen Hrubesch, weil ich ihn Bleiziffer geliehen hab.«

»Die soll sich nicht so. Du bist wohl alt genug, Kordian.«

So wurden wir stillschweigend handelseins.

Und wie er mich verteidigt hat, weil Mama natürlich ausflippte: »Ein Unding sondergleichen, ein Lebewesen verleihen! Und … du riechst doch nach Qualm, Roland?«

Ich sagte: »Nein, der komische Geruch war an den Fliesenkartons.«

Und Papa führte an, erstens, dass ich alt genug war (wobei ich ihm Recht gab), zweitens, Verantwortung könne man dem Kind nicht eintrichtern, da müsse es selber dahinterkommen (was ich bestätigte), und drittens, er habe damals in Bad Endbach selber einen Hasen gehabt, den habe er in letzter Minute noch Balzers Otto geliehen, und das sei damals sehr wohl ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein gewesen, als Papas Opa schon mit dem alten, wurmlöchrigen, gedrechselten Tischbein in der Hand und einem Jagdmesser am Gürtel über den Hof in Richtung Hasenstall schlurfte.

 

Was Captain Future angeht, so hat er es Bleiziffer nicht verziehen, dass der ihn beim Spiel hatte verlieren wollen. Bleiziffer machte sich Sorgen, weil Captain Future seit einer Woche nicht mehr sang, nicht mehr fraß. Hrubesch, den wir am Samstag darauf abermals als Clown in den Vogelkäfig schickten, wurde missachtet wie zuvor.

»Die Maus passt nicht in Captain Futures Beuteschema«, sagte Gertrud Bleiziffer, »und woher kommt übrigens die Maus? Deine ist das, Kordian? Ich hoffe, die nimmst du dann wieder mit.«

Ich verschwieg auch hier, dass es sich um eine Dauerleihgabe handelte.

Es geschah kurz vor dem Halbzeitpfiff.

»Er ist tot«, sagte ich.

»Tot«, wiederholte Bleiziffer.

Fünfzehnhundert Kilometer westlich, in Elche, lag El Salvador im Finalrundenspiel der Gruppe C vor fünfzehntausend Zahlenden gegen Belgien seit Ludo Coecks Treffer in der neunzehnten Minute mit null zu eins hinten – verdient, musste man sagen, da das Team von Mauricio Rodriguez im Mittelfeld eigentlich gar nicht existierte und Jean Marie Pfaff im belgischen Tor sich zu Tode langweilte. Da piepste es im Käfig, aber nicht Captain Future war es, der überraschend die Stimme wiederfand, sondern Hrubesch, vor Schreck, weil der Wellensittich unvermittelt von der Stange herunter auf ihn hinabgestürzt war. Captain Future, wie er nun mit den Krallen nach oben im Staub lag und von der Dauerleihgabe vorsichtig beschnüffelt wurde: mausetot.

Die zweite Halbzeit brachte wenig Spannendes, auch wenn Rodriguez für Osorto, den Mann mit der Zwölf, der in der ersten Hälfte Gelb gesehen hatte, Miguel Angel Diaz brachte. Doch Diaz riss es nicht heraus, und die Belgier ließen es nun auch, ihrem Wesen nach, gemächlicher angehen, sparten Kräfte für das Spiel gegen Ungarn am Dienstag. Und so konnte Bleiziffer ein Buch über Pyramiden hervorholen, weil es nun um Grabbeigaben gehen musste. Es sollte etwas sein, das Captain Future im Jenseits brauchen konnte: eine Handvoll wertvoller Jod-S11-Körnchen, obwohl er letztens das Hungern vorgezogen hatte. Die Airfix-Schachtel der Hurricane von Lieutenant Gleed, 87. Jagdstaffel, Exeter, Mai 1940, Maßstab eins zu zweiundsiebzig, war ein würdiger Sarg. Fast zu schade, fand Bleiziffer einen Moment lang, dann dämmerte ihm aber seine Mitschuld an Captain Futures Los, und Bleiziffer hörte auf, knauserig zu sein, er legte sogar noch freiwillig einen vierfarbigen Wechselkugelschreiber in die Schachtel, obwohl die türkise Mine noch schrieb, während ich in den doppelten Paninibildchen von ›España ’82‹ kramte und Oleg Blochin (›CCCP‹) zu Captain Futures Uschebti und Reisebegleiter machte.

In Elche tat sich nichts mehr. Jean Marie Pfaff blieb einmal mehr unbezwungen. El Salvador würde, selbst bei einem hypothe­tischen Sieg über Argentinien am Mittwoch in Alicante, in jedem Fall wegen des Torverhältnisses ausscheiden, war man doch von Ungarn am Dienstag mit eins zu zehn gedemütigt worden, wobei wir heute, rückblickend, wissen, dass es den Ungarn auch nichts genützt hat und dass sie, glücklos, gleichfalls nach der ersten Runde nach Sopron, Győr, Esztergom, in die Große und in die Kleine Magyarische Tiefebene zurückkehrten.

Während sich in Elche nichts mehr tat, musste Tesafilm eine Mumienbinde mimen, denn Frau Bleiziffer weigerte sich standhaft, unseretwegen den Autoverbandskasten anzubrechen, nicht zu reden von ihren Vorwürfen, Bleiziffer habe Captain Future eingehen lassen, er sei »in keiner Weise« reif, sie sei bitter enttäuscht, bitter.

»Verantwortung«, schrie Gertrud, »Wertschätzung und Vertrauen«.

Verpflichtung, Bedingung, Übereinkunft.

Abkommen, Einsicht und Gegenseitigkeit.

Schöpfung, Miteinander, Mensch und Tier.

Bleiziffer drückte mir, wegen dieser Anschuldigungen verstimmt, wortlos eine Beethacke in die Hand, trug die Airfix-Schachtel durch seiner Mutter Rittersporn und Reseden, knickte im Vorbeigehen ein Sonnenblumenblatt, streifte den giftigen Eisenhut, verlor dort, beim Eisenhut, eine einzige Träne, die auf einen Trittstein fiel, zog bei den schwefelgelben Nachtkerzen ein einziges Mal den Rotz hoch und geleitete Captain Future durch das rückseitige Gartentor hinaus bis fast zum Wäldchen, blieb dann aber an der Kreuzung zweier Feldwege stehen und bedeutete mir, ein Loch auszuheben: »Da.«

Als er die Schachtel mit Captain Future, dem Uschebti Oleg Blochin und dem Wechselkugelschreiber hineintat, sagte Bleiziffer, indem er die Stimme seiner Mutter nachmachte: »Es war ja für alle Beteiligten eine Erlösung, Marcus.«

»Kapier ich nicht!«

Bleiziffer sagte, er kapiere es auch nicht, das sage man so, das gehöre dazu. Dreimal habe es ihm die Mama erklärt beim Marmorkuchen nach Opa Walters Beerdigung, als Bleiziffer überhaupt keine Lust auf Marmorkuchen hatte, dann aber doch traurig zwei Stücke aß und noch ein Stück Bienenstich und einen Apfel. Aber kapiert habe er es nicht. Nur dass es dazugehöre.

Kurz darauf sagte Bleiziffer, viele Kinder hätten einen bestimmten Vater, aber die bräuchten sich gar nichts darauf einzubilden. Seine Mutter habe ihm erklärt, dass er auch einen Vater habe, nur eben irgendeinen, keinen bestimmten, und das sei der ganze Unterschied.

Dass Captain Future nun tot war, stellte die Sache mit Hrubesch in ein anderes Licht. Bleiziffer und ich, wir beide hörten auf dem Rückweg von dem Vogelgrab auf, in Hrubeschs weiterer Gefangenschaft noch irgendeinen Sinn zu erblicken. Bleiziffer fand, man müsse sich das vorstellen: den Schreck, wenn ein toter, hellgrüner Vogel, so groß wie man selbst, von oben auf einen hinab­stürzt. Es sei ohnehin ein Wunder, dass Hrubesch den Schock überlebt habe. Welches Recht wir hätten, ihm, nach allem, was er durchgemacht hatte, die Freiheit zu verwehren?

 

Das Rätselhafte an dem Wort Weltraumlegos ist eine feine Doppel­deutigkeit. Das Wort bezeichnet Bausteine, die hier auf der Erde etwas abbilden, das als im Weltraum befindlich gedacht ist, wobei aber mitklingt, dass die Steine selber sich magischerweise draußen im Weltraum befinden. Das Wort flimmert unscharf, da sich seine beiden Bedeutungen zugleich ausschließen und nicht ausschließen, je nachdem, ob die Erde als Gegensatz zum Weltraum oder als Teil des Weltraums gedacht wird. Man sagt ja auch: von der Erde ins All und zurück.