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Viele Jahre Todesangst

Am Dienstag, den 2. Mai 1933 um neun Uhr zweiundzwanzig bestieg Prof. Dr. Sebastian Jakobsen, Germanist und Jurist, mit seiner Frau Viktoria und der Tochter Edda auf dem Anhalterbahnhof in Berlin den Zug nach Wien. Ein Dienstmann stellte ihre drei großen Koffer, eine Tasche und einen kleinen Rücksack in das reservierte Abteil der ersten Klasse.

Diese genauen Angaben über Uhrzeit und Tag bekam ich von Edda, als ich sie Jahrzehnte später nach dieser Begebenheit in München traf. Sie sagte: „Das weiß ich noch so genau, weil ich am Tag vor der Abreise meinen fünfzehnten Geburtstag feierte. Und aus diesem Anlass mein Vater mir eine Armbanduhr schenkte. Meine erste Uhr. Sie hatte eine vergoldete Armkette und ich musste aufpassen, dass ich die Uhr nicht verlor, denn das Armband war mir zu weit“.

Ich begegnete Edda zufällig auf der Vernissage eines jungen österreichischen Malers. Wir stießen mit unseren Händen zusammen, als wir beide gleichzeitig nach den restlichen Lachs-Kanapees griffen. Sie lächelte mich mit intensiv dunkelrot gefärbten Lippen an, als ich mich bei ihr entschuldigte. „Pardon“, sagte ich. Sie sagte: „Halten Sie mal bitte“, und überreichte mir ihren hässlichen Kleinhund, den sie auf dem Arm trug. Ich stellte also meinen Teller ab, nahm den hechelnden Hund und sah zu, wie sie sich alle noch vorhandenen Lachshäppchen auf ihren Teller stapelte. Zudem fürchtete ich, der Hund könnte mich vor Aufregung oder Angst bepinkeln, auch knurrte er böse.

Dann nahm sie den Hund wieder an sich, nickte freundlich, balancierte den gefüllten Teller geschickt in der linken Hand, den Hund auf dem angewinkelten rechten Arm haltend, lächelte charmant und schritt davon.

Ich sah sie noch ein- oder zweimal inmitten der Besucher. Sie redete mit diesem oder jenem, interessierte sich aber offensichtlich nicht für die Bilder der Vernisage.

Als ich eines der abstrakten Bilder betrachtete, traten zwei Frauen heran. „Schauen Sie, meine Liebe, das da hab ich gekauft. Es passt so gut zu meinem blauen Sofa“, erklärte die eine. Ich wandte mich nach den Frauen um. Sie hatten elegante Kostüme an, trugen auffallend protzigen Schmuck, sahen aus, als seien sie schon einige Male geliftet worden und waren sicherlich erst kurz vor dem Besuch dieser Vernissage beim Friseur gewesen.

Der österreichische Maler, Christian Friedrich Hoetschl, gesellte sich zu den beiden Frauen. Er trug einen weiten Umhang über einem Rollkragenpullover, eng anliegende Hosen und Lackschuhe, alles in Schwarz; auf mich machte er den Eindruck eines Existentialisten der fünfziger Jahre aus dem Kreis um Jean Paul Sartre. Der Österreicher lächelte angestrengt.

„Ach ja?“, fragte die andere Frau, beugte sich etwas vor und betrachtete das Bild genauer. Dann an ihre Freundin gewandt. „Ich werde auch eines kaufen, vielleicht das dort mit dem intensiven Rot“, und deutete auf das entsprechende Gemälde.

Der verspätete Existenzialist stand zwischen den Frauen, lächelte noch immer gequält.

„Es bildet so einen schönen Kontrast zu meinem Beuys“, ergänzte die Dame. Die Angesprochene schaute ein wenig pikiert. „Nein, so etwas, Sie haben einen Beuys? Ich hab' auch einen Beuys. Ja, Sie haben völlig Recht, meine Liebe, einen Beuys muss man einfach haben“, betonte sie lautstark.

Langsam entfernte ich mich von diesen beiden Galeriebesucherrinnen und ging auf die entgegengesetzte Seite des Ausstellungsraumes. Und da sah ich sie wieder, die kleine Frau mit ihrem Hündchen. Immer noch stand diese zierliche Person da, mit ihren zu einem wilden Lockenkopf aufgetürmten, rot gefärbten Haaren, in dem über einem silbrig glänzendem Samtkleid offen getragenen Hermelinmantel, den Hund auf dem Arm, den Teller in der Linken und aß keinen Happen.

Nun, überlegte ich, dass ist ja auch unmöglich, es sei denn, sie würde sich dazu bequemen ihren grässlichen Köter einmal abzusetzen. Aber das tat sie nicht.

Der teuere Pelzmantel, das elegante Kleid standen im krassen Kontrast zu ihren stark geschminkten Lippen und dem roten, auftoupierten Haaren. Ich konnte sie schwer einordnen; als Dame würde ich sie damals sicher nicht bezeichnet haben. Sie machte auf mich eher den Eindruck einer in die Jahre gekommenen und nicht unvermögenden Edelhure.

Ich hatte diese merkwürdige Person längst vergessen, als ich einige Wochen später, einer Einladung folgend, hinaus fuhr aufs Land. Das Ehepaar Horowitz in Penzberg hatte mich angerufen. Ein Blumenstrauß lag auf dem Rücksitzt meines Wagens. Es war ein sonniger Julitag und ich freute mich auf die Gespräche mit diesem Künstlerehepaar und den bei solchen Anlässen immer reichlich anwesenden anderen interessanten Gästen, sowie, ich muss es gestehen, auf die erlesene Kochkunst von Frau Horowitz.

Meinen Wagen parkte ich einige hundert Meter vom Hause der Gastgeber entfernt, da ich aus Erfahrung wusste, dass die enge Strasse vor dem Anwesen bei so viel geladenen Gästen immer mit Autos zugestellt war.

Als ich das Haus betrat, der Dame des Hauses meinen Blumenstrauß überreicht hatte und in den rückwärtigen Garten geleitet wurde, wo die anderen Gäste schon beisammen saßen, stürmte kläffend ein kleiner Hund auf mich zu. Es war eindeutig der Köter von dieser auffälligen Person, der ich auf der Vernissage zum ersten Male begegnet war, denn so einen Hund vergisst man nicht, wenn man ihm einmal auf dem Arm gehalten hat. Im Garten und an dem kleinen Teich tummelten sich noch andere Tiere; das Entenpaar “Luise und Ferdinand“ saß am Teichufer, die griechische Landschildkröte “Sophokles“ knabberte im Zeitlupentempo an einem Salatblatt, das man ihm in das kleine Geviert aus Maschendraht gelegt hatte, der alte Rüde „Rambo“ räkelte sich mit den Katzen „Cleopatra“ und „Ramses“ in der Sonne.

Frau Horowitz stellte mich vor. Die meisten der Anwesenden kannte ich schon, Maler, Musiker, Schauspieler. Und da saß, zu meiner Überraschung, diesmal in einem hellen Kostüm, darüber offen getragen den Hermelinmantel, tatsächlich jene kleine Frau mit dem roten Haarschopf. Der kläffende kleine Hund sprang auf ihren Schoß und interessierte sich nicht für die anderen Tiere.

Der zierliche Rotschopf streckte mir recht beiläufig die Hand entgegen, als ich, mit einer leichten Verbäugung meinen Namen nannte. „Edda“, sagte sie nur. So, wie man “Königin“ sagt, weil sie offensichtlich davon ausging, dass ohnehin jeder weiß, mit wem er es in ihrem Falle zu tun hat.

Im Garten und auch später bei Tisch sprach ich mit jener Edda nur wenige belanglose Worte. Mir viel auf, dass sie sich zwar immer reichlich auf den Teller lud, aber kaum etwas aß. Sie stocherte mit der Gabel im Essen herum, nippte hier und da, ließ dann den noch fast vollen Teller zurückgehen. Dabei schmeckte alles ausgezeichnet, wie immer, wenn Frau Horowitz gekocht hatte. Auch bei den Getränken hielt sich die Frau mit dem kleinen Hund auf ihrem Schoß zurück.

Am Abend dann ergab es sich, auf Bitten von Frau Horowitz, dass ich die Rothaarige und ihren Hund nach München mit nahm. Frau Horowitz hatte, als sie am Vormittag in München gewesen war, diese Person samt ihrem Hund mit nach Penzberg genommen, da Edda kein Auto besaß, ja, nicht einmal einen Führerschein hatte, wie sie mir bei der Rückfahrt nicht ohne Stolz versicherte. Es schien so, als sei es unter ihrer Würde, sich mit so profanen Dingen abzugeben und einen Führerschein zumachen.

Der Hund lag während der ganzen Fahrt auf ihrem Schoß. „Sehen Sie“, behauptete Edda, „Schnukerl mag Sie, er knurrt nicht mehr“, und streichelte das Tier. Sonst sprachen wir kaum mit einander.

Sie ließ sich von mir bis vor ihre Wohnung nach Thalkirchen chauffieren. Ich hielt an. Sie wartete, bis ich um das Auto herumgegangen war, die Wagentür geöffnet hatte und ihr die Hand reichte um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie hoheitsvoll, setzte ihren Hund ab, der sofort auf die kleine Rasenfläche vor dem Reihenhaus zustürmte und genüsslich sich dort seiner Notdurft entledigte. „So ist es recht“, lobte Edda den Köter, „aber beeil dich, mich friert.“

Ich stand noch immer unschlüssig herum, wollte warten, bis Madame im Hauseingang verschwunden war, obwohl in dieser ruhigen Wohngegend ihr nichts zustoßen würde und ich im übrigen davon ausging, dass diese Edda, im Falle eines Falles, sich durchaus würde zu wehren wissen. Sicherlich war dieser Frau nichts Menschliches fremd.

Schließlich hatte ihr Hund ausgeschissen. Edda hob ihn hoch, ging zur Haustür, drehte sich noch einmal um, winkte und verschwand. Ich sah auf die Uhr, es war kurz nach zehn. Erleichtert fuhr ich ab, denn ich wollte noch vor für einige Stunden das Nachtleben genießen.

Etwa eine Woche später rief mich Frau Horowitz an. „Mein Lieber, Sie haben ja einen enormen Eindruck auf Edda gemacht. Sie schwärmt ja gerade zu von Ihnen und bittet darum, dass Sie sie einmal anrufen, wenn Sie Zeit haben. Sie würde sich sehr freuen, sagt sie. Ich gebe Ihnen Eddas Nummer.“

Warum, überlegte ich, soll ich diese Person anrufen. Andererseits aber war ich neugierig geworden. Wie und bei welcher Gelegengheit habe ich diese Person beiendruckt, fragte ich micht verwundert. Also telefonierte ich eines Abends mit Edda. Wir verabredeten uns im Luitpold-Café am Odeonsplatz.

Als ich dort ankam, saß sie schon da. Den Hund, wie immer, auf dem Schoß. Sie winkte erfreut als sie mich sah, so als seien wir schon seit Jahren befreundet. Ich setzte mich zu ihr an den Tisch. Wir bestellten Kaffe. Ich fragte: „Woher haben Sie diesen kleinen Hund?“, weniger aus Interesse an dem Köter, sondern um ein Gesprächsstoff zu haben und mit Hunden anzufangen ist bei Hundehaltern immer ein guter Start.

Sie sah auf ihren Hund, streichelte ihn und antwortete. „Schnukerl hab ich von Harald Juhnke geschenkt bekommen, damals in Berlin“.

„Ach, Sie kommen aus Berlin?“, folgerte ich. Die kleine Frau schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Das ist eine lange Geschichte, eine komische und tragische“.

„Dann ist es eine gute Geschichte“, nickte ich zustimmend, „denn alle guten Geschichten haben sowohl tragische wie auch komische Elemente“.

Wir trafen uns jetzt öfter. Edda bot mir das Du an. Die Gespräche wurden vertrauter und länger. Sie erzählte zusammenhanglose Geschichten, eigenartige, zum Teil unglaubwürdige Erlebnisse. Die Frau fing an mich zu interessieren.

Edda wohnte mit einer Frau Rachel M. zusammen. „Wie bist du an Rachel, zu dem Zimmer hier in der Wohnung gekommen?“, fragte ich, als ich sie das erste Mal in Thalkirchen besuchte. Edda hatte Kaffe aufgebrüht, im kleinen Wohnzimmer den Tisch gedeckt, Kuchen eingekauft, von dem sie, wie immer, nichts aß. Sie tätschelte ihren Hund und erzählte. „Ich bin froh, dass ich hier untergekommen bin. Wenn wir beiden Weiber uns auch oft streiten. Aber die Miete ist billig und viel Geld hab ich nicht. Früher, ja, früher da war ich einmal reich“.

Mir fiel ihr kostbarer Hermelin ein.

Edda, bekleidet mit einer blauen Stoffhose und weißer Bluse, nippte an ihrem Kaffee, nahm ein Stück Kuchen in die Hand, legte es wieder zurück. Sie setzte den Hund ab, stand auf. „Komm, ich zeig dir was“, sagte sie und ging voran aus dem Wohnraum über den engen Flur in ihr Zimmer. Der Hund trippelte neben ihr her. Edda öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Ein großes Bett stand darin, daneben ein Nachtschränkchen. Vis a Vis dem Bett nahm ein wuchtiger Schrank fast die ganze Wandfläche ein. Unter dem einzigen Fenster standen ein kleiner Polstersessel und ein rundes Tischchen. Edda wies mit der Hand auf den Polsterstuhl. „Das ist Schnukerls Platz“, erklärte sie. Dann drehte sie sich um, schob die Türen des Schranks zur Seite. Vier Mäntel darin vielen besonders auf: der Hermelin, ein Nerz in Dunkelblau und ein Persianer in Dunkelgrau, sowie ein mit Hamsterfell gefütterter, eleganter dunkler Stoffmantel.

„Ich liebe Mäntel“, erklärte sie, „aber tragen tu ich nur noch den Hermelin. Er ist außer diesem da“, sie fasste den Stoffmantel an, „der leichteste und der eleganteste“.

„Warum“, fragte ich, „gibst du denn nicht die Mäntel, die du nicht trägst, bei einem Kürschner in Verwahrung?“

Sie schob die Schranktüren zu, schüttelte den Kopf. „Ich sitze oft da und schau mir die Mäntel an. Jeder einzelne erinnert mich an einen Teil meiner Vergangenheit. Jeder Mantel markiert einen Abschnitt meines Lebens.“

Wir verließen ihr Zimmer, setzten uns wieder an den Tisch im Wohnraum. „Wie also bist du an Rachel und an das Zimmer in dieser Wohnung gekommen“?, wiederholte ich meine Frage, während der Hund auf ihren Schoß sprang.

Edda brach ein Stück vom Kuchen ab und fütterte damit ihren Hund. „Ich wusste nicht wohin. Hatte keinen Pfennig und keine Wohnung mehr. In Berlin wollte ich nicht bleiben. Ich schämte mich, weil ich doch ziemlich bekannt war und nun gewissermaßen betteln musste. Konnte meine Mäntel und einige andere Sachen bei Freunden unterstellen. Nutzte die erstbeste Gelegenheit, als ein Bekannter nach München fuhr. Kam hier an und ging zum Büro der jüdischen Gemeinde. Dort arbeitet Rachel. Ich hätte in einem Altenheim unterkommen können, aber das wäre nur ohne meinen Schnukerl gegangen, also war es für mich nicht möglich. Schließlich machte mir Rachel, die unverheiratet ist und allein lebt, das Angebot mit ihr diese Wohnung zu teilen, organisierte, dass meine Sachen nach München kamen, kümmerte sich um meine Rente. Denn von Behördenkram verstehe ich nichts. Das ist mir zu lästig, weißt du“.

„Kann ich verstehen“, sagte ich. „Was ich dich schon länger fragen wollte: Warum heißt dein Hund „Schnukerl“, dass ist doch ein sehr süddeutscher Name, klingt für mich Österreichisch. Und du hast den Hund, sagst du, aus Berlin, kommst aus Berlin“.

Edda hielt die letzten Kuchenkrümel dem Hund hin. „Ich bin in Berlin geboren, hab dann in Wien gelebt, später in Budapest. Nach dem Krieg wieder in Berlin und nun, ja, lebe ich in München“.

„Erzähl mir dein Leben“, bat ich, „von Anfang an, wenn du willst“.

Edda nickte, lächelte milde und begann. „Mein Vater, Sebastian Jakobsen, war ein eleganter Mann. Er wurde in Budapest geboren. Später zog er mit seinen Eltern nach Wien, dort studierte er auch. Nach dem Studium bekam mein Vater bei einem renommierten Verlagshaus in Berlin eine Anstellung. Er lernte meine Mutter, Viktoria, kennen. Sie kam aus einer alt eingesessenen Kaufmannsfamilie. Ihr Vater Jonathan Israel besaß ein großes Kaufhaus in Berlin-Mitte, war Vorsitzender des jüdischen Kulturvereins und einer der Förderer der Synagoge in der Oranienburgerstraße. Die Vorfahren der Familie meiner Mutter hatten als Altkleidersammler angefangen. Als der preußische König, ich glaube im Jahre 1736, mit einem Erlass den Juden in seinem Herrschaftsbereich das Niederlassungsrecht gewährte, ließ sich einer der Urahnen meiner Mutter in Berlin nieder. Er kaufte schließlich ein kleines Haus im heutigen Scheunenviertel. Und sein Geschäft florierte. Aus Schlesien importierte sein Sohn, der das Geschäft übernommen hatte, Stoffe, schließlich auch aus England. Aus dem Altkleiderhandel war ein renommiertes Tuchgeschäft geworden, aus dem Tuchgeschäft entstand dann, nach und nach, im Laufe der Generationen, das Kaufhaus. Und Jonathan Israel, mein Großvater, war stolz auf den Titel Hoflieferant. Er war ein überzeugter Preuße, ein aufrechter Deutscher, der im Ersten Weltkrieg seinen Sohn Siegfried als patriotischer Vater begeistert an die Front geschickt hatte und welcher dann mit hohen Auszeichnungen für Tapferkeit dekoriert worden war. Später unterstützte mein Großvater die neue rechte Partei von Adolf Hitler, weil er der festen Überzeugung war, dass diese NSDAP ein Segen für Deutschland sei. Kurz und gut, die Familie Israel war reich, kultiviert und angesehen.“ Edda lächelte still vor sich hin, seufzte kurz und fuhr dann nachdenklich fort, „meine Mutter hat mir erzählt, als sie 1918, im November, heirateten, im “Adlon“, standesgemäß, wie sie sich auszudrücken pflegte, da tobten draußen Straßenkämpfe. Es war ja gerade der Erste Weltkrieg vorbei, das Kaiserreich untergegangen und überall gab es Unruhen. Schon am ersten Mai des folgenden Jahres kam ich zur Welt“. Edda lächelte verschmitzt. „Die Hochzeit meiner Eltern war wohl dringend notwendig, wie man es sich ja leicht ausrechnen kann“.

Ich nickte, trank einen Schluck von dem inzwischen kalt gewordenen Kaffee und fragte: „Wie, wo und wie lange habt ihr in Berlin gelebt?“

Edda erzählte weiter und ich fing an mir Notizen zu machen.

*

Nach der Hochzeit bezog das junge Paar, Eddas Eltern, ein Haus mit fünf Zimmern am Lietzenseeufer in Charlottenburg. Es gehörte Viktorias Eltern, die es vor Jahren erworben hatten. Das Töchterchen Edda wurde geboren. Sebastian avancierte in den folgenden Jahren zum Cheflektor des Verlags, machte sich als Theaterkritiker einen Namen und erhielt eine Gastprofessur an der Universität, nachdem er sich durch mehrere Veröffentlichungen in Fachzeitschriften als Germanist auf dem Spezialgebiet „Mittelhochdeutsch“ Renommee verschafft hatte.

Durch die Schwiegereltern wurden Viktoria und Sebastian in die besseren Kreise Berlins eingeführt.

„Oft an den Wochenenden fuhren wir hinaus an den Müggelsee, nach Friedrichshagen, zur Villa der Großeltern“, schwärmte Edda in Erinnerung. „Es war ein Seegrundstück und das herrschaftliche Haus lag in einem schönen Park mit vielen alten Bäumen. Mein Gott, bin ich da oft in den Baumkronen herumgeklettert.“ Edda fuhr mit ihrem rechten Arm in die Höhe, deutete so einen großen Baum an. „Als kleines Mädchen hab ich mich benommen wie ein Junge“. Edda schmunzelte eine Weile still vor sich hin. „Ich besuchte dann eine anerkannte Privatschule, begleitete meinen Vater oft zu diversen Prämieren, las viel, vor allem Theaterstücke und wollte Schauspielerin werden“.

Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus, der Hetze in den Zeitungen gegen Juden, aber verspürte ihr Vater mehr und mehr Unbehagen. Sebastian entrüstete sich. „Diese braune Bande hat keinen Stil, sie benimmt sich rüpelhaft. Ich finde sie einfach unästhetisch“. Mit dieser und ähnlichen Äußerungen legte er sich unter andren auch mit seinem Schwiegervater an, der auf diese neue Bewegung seine ganze Hoffnung setzte. „Ich als Unternehmer bin froh, dass bald wieder Ordnung herrschen wird in Deutschland. Das ist gut für die Geschäfte“, betonte er. „Diese dumme Hetze gegen uns Juden ist doch nur eine vorübergehende Erscheinung. So etwas hat es von Zeit zu Zeit immer mal wieder gegeben. Das legt sich bald. Man wird nicht vergessen, zwölftausend Juden sind im Ersten Weltkrieg an der Front für Kaiser und Vaterland gefallen. Unter all jenen auch mein Sohn Siegfried, der im Kriege hohe Auszeichnungen erhielt, und zuletzt auf dem Felde der Ehre geblieben ist. Nein, nein, dass sind nur einige Wenige, die da hetzen. Außerdem hab' ich der Partei der Nationalsozialisten von Anfang an nicht unerhebliche Geldbeträge zukommen lassen, was also soll unserer Familie schon passieren?“

Viktoria, vor allem aber Sebastian, beobachteten die Entwicklung in Deutschland mit aufmerksamen Misstrauen. Als einige Studenten in Sebastians Vorlesung eines Tages riefen: „Wir lassen uns nicht ausgerechnet von einem Juden die Schönheit der deutschen Sprache erklären“, und unter Protest den Hörsaal verließen, darüber hinaus der ein oder andere Kollege Sebastian nicht mehr grüßte, als dann noch “dieser Prolet Hitler“, wie Sebastian ihn nannte, zum Reichskanzler gewählt wurde, sich mit dem Ermächtigungsgesetz jeder parlamentarischen Kontrolle entzog, alle Parteien, außer der NSDAP, aufgelöst wurden, beziehungsweise sich selbst auflösten, und daraufhin schließlich einstimmig “Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ beschlossen wurde und in Kraft trat, welches Nichtariern verbot als Beamte weiterhin tätig zu sein; als dann am ersten April schließlich die SA jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien blockierte und beschmierte, den Bürgern dort den Zutritt verweigerte, war für den ahnungsvollen Dr. Jakobsen der Zeitpunkt gekommen die Koffer zu packen und Deutschland zu verlassen. „Wenn Kleingeister, wenn Spießer an die Macht kommen, dann toben sie bekanntermaßen ihre Komplexe aus und das bedeutet das Ende jeder zivilisierten Gesellschaft“, war Sebastian überzeugt.

„Meine Eltern haben mir nur gesagt, dass wir anlässlich meines Geburttags die Großeltern in Wien besuchen. Sie wollten mich nicht beunruhigen. Und ich freute mich auf diese Reise. War ich doch bis dahin immer nur mit den Eltern in den Ferien an die Ostsee gefahren, meistens nach Heiligendamm. Und nun endlich ging es nach Wien, zu den lieben Großeltern, die uns einige Male in Berlin besucht hatten. Und ich würde in eine Stadt kommen von der Vater mir viel erzählt hatte, von der er schwärmte, so wie fast jeder von dem Ort seiner unbeschwerten Jugend schwärmt. Wien, das klang für mich aufregend und geheimnisvoll“.

In der Neutorgasse Sieben, im ersten Bezirk, bezogen Sebastian, Viktoria und Edda im vierten Stock zwei Zimmer in der Wohnung der Großeltern.

Edda fand die neue Umgebung interessant, diese großartige Stadt mit ihren imposanten Gebäuden, großen Plätzen und schönen Parks. Ganz Wien kam ihr vor wie eine gigantische Dekoration zu einem melodramatischen Heldenepos.

„Im Gegensatz zu Berlin. Die deutsche Hauptstadt erinnerte mich damals eher an Stücke von Carl Sternheim; diese knappen, schnodderig herausgeschossenen Sätze, dieser spielerische Zynismus. Wien dagegen repräsentierte doch eher Ödön von Horvath, die verquaste Melancholie und bösartige Liebenswürdigkeit. Wien das war eine merkwürdig todessüchtige Walzerseeligkeit, Berlin Marschmusik und Paul Linke“, erläuterte mir Edda ihre damaligen Eindrücke. „Und ich war in nur fünf Minuten zu Fuß an der Donau“, ergänzte sie ihre Ausführungen.

„Deutschland kehrt zurück ins Mittelalter“, resignierte Sebastian anlässlich der Bücherverbrennungen am 10. Mai, „froh können wir sein diesen Barbaren entflohen zu sein. Wer Bücher verbrennt schreckt auch vor Mord nicht zurück.“

Seine Frau Viktoria hingegen war der Meinung, dass solche Ausrutscher, wie sie es verharmlosend nannte, nur eine überzogene Reaktion auf das neu erwachende Nationalgefühl der Deutschen seien. Und sie war weniger angetan von der österreichischen Hauptstadt und den dortigen Lebensumständen. Erstens vermisste sie verständlicherweise ihre Eltern und zweitens musste sie sich die Küche mit ihre Schwiegermutter teilen. Auch gab es kein Personal, wie sie es gewohnt war.

Sebastian freute sich in der Stadt seiner Jugend zu sein, bei seinen Eltern, aber sorgte sich um die Zukunft der Familie. Denn die Ersparnisse würden bald aufgebraucht sein. Sich demnächst möglicherweise Geld von seinen Schwiegereltern zu borgen, was diese ihm vor der Abreise aus Berlin angeboten hatten, widerstrebte ihm. Er versuchte bei diversen Zeitungen einige Artikel zu lancieren, mit mehr oder weniger Erfolg. Schließlich fand Sebastian einen Verleger, einen ehemaligen Studienkollegen, erhielt Vorschuss und schrieb an einem Buch zum Thema: Die Beeinflussung des Jiddischen bei der Entwicklung deutscher Dialekte vom Mittelalter bis zur Neuzeit.

Edda besuchte ein jüdisches Gymnasium.

*

Die ersten Wochen und Monate in Wien waren für mich sehr aufregend“, erzählte Edda. „Und später, im Frühjahr 1936 verliebte ich mich das erste Mal; ganz harmlos und naiv war ich.“ Sie lächelte im Gedenken an diese ersten aufwühlenden Empfindungen still vor sich hin, schloss für einen Moment die Augen, schüttelte sacht den Kopf. Dann blickte sie mich an. Ihre Augen glänzten in Erinnerung an diese betörende Zeit.

Wir gingen bei strahlendem frühherbstlichen Wetter im Tierpark spazieren. Edda hatte, trotz des Sonnenscheins, wie immer ihren Hermelin an. Sie fror leicht, wie sie mir versicherte. Ihren Hund führte sie an der Leine, weil es hier im Tierpark Vorschrift war.

Hätte ich den Köter nicht schon einmal kläffend auf mich zulaufen, so wie vor Eddas Haus auf dem Rasen und auch in ihrer Wohnung umhergehen sehen, wäre ich sicher gewesen, dieser Hund könne gar nicht laufen. Aber er trippelte brav neben uns her. Er zerrte immer wieder wie wild an seiner Leine und röchelte dabei, als würde er ersticken. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um das Tier. Wusste ich doch, wie sehr Edda an diesem Köter hing. Andererseits hatte ich mir ein Buch über Hunderassen besorgt und darin gelesen, dass Chihuahuas, obwohl sie so zerbrechlich aussehen, sehr widerstandsfähig sind. So schien es auch mit Edda zu sein. Auch sie zierlich und klein, hatte viel durchgemacht und dennoch bis dato alles bestens überstanden.

Später führte ich Edda, wie benahe an jedem Sonntagnachmittag, ins “Henderson“ in der Müllerstrasse. Sie liebte es in diesem Schwulentanzschuppen ihren Nachmittagstee zu trinken. Da saß sie dann, beobachtete mit sichtlichem Vergnügen, die, wie ich fand, oft sehr einfallslosen Travestiedarbietungen und hielt gewissermaßen Hof. Die jungen und meist gut aussehenden Männer hofierten sie, scherzten mit ihr und streichelten das eine um das andere Mal ihren Hund.

„Mit Schwulen, Nutten und Zuhältern“, erklärte mir Edda später beim Essen, „habe ich immer gute Erfahrungen gemacht“. Wieder stocherte sie unlustig auf ihrem Teller herum, obwohl sie sich zuvor ausgiebig mit der Speisekarte beschäftigt und es eine Ewigkeit gedauert, bis sie sich endlich für ein Gericht entschieden hatte, so dass der Kellner schon recht mürrisch zu werden begann.

„Ich führte in Berlin selbst ein Lokal“, sagte sie, „und da verkehrten viele Schwule, manche Stricher, Nutten und Zuhälter, obwohl es eigentlich kein einschlägiges Lokal war. Aber es lag sehr günstig, mitten in der Szene“.

„Was hältst du davon, wenn wir einmal nach Berlin fahren?“, fragte ich sie. Edda sah mich mit strahlenden Augen an. „Das würdest du tun? Mit mir nach Berlin fahren?“

„Warum nicht? Im nächsten Frühsommer wär ´s möglich, da habe ich ohnehin in Berlin zu tun“, antwortete ich.

„Aber nicht ohne meinen Schnukerl“, sagte Edda mit Bestimmtheit und blickte auf ihren Hund herab, der unter dem Tisch hockte. Ich wollte sagen, „wenn der bis dahin noch lebt“, hielt aber dann doch lieber meinen Mund.

*

Der Einfluss der Faschisten nahm auch in Österreich zu. Das jüdische Gymnasium wurde geschlossen. Edda war nicht sonderlich unglücklich darüber, hatte sie doch nun noch mehr Zeit durch die Stadt zu schlendern, sich mit ihrem Freund Luis zu treffen, vor allem aber Karten für Vorprämieren der diversen Theatern zu organisieren. Manchmal hatte Edda gar das Glück bei den Hauptproben im Burgtheater zuschauen zu dürfen. Oder aber sie saß halbe Tage im Caféhaus, las Zeitung, diskutierte ausgiebig mit Gleichaltrigen. Und zu diskutieren gab es viel: Die Eroberung von Abessinien durch die Italiener, die Militärrevolte der Frankisten in Marokko und nicht zuletzt die ständigen Prügeleien von Kommunisten und Faschisten in Wien selbst.

Eddas Vater kommentierte die Schließung des jüdischen Gymnasiums mit dem Satz, „Nun holt uns das Böse ein.“ Viktoria tadelte ihn. „Du mit deiner Schwarzmalerei. Verängstige doch das Kind nicht.“

„Hast du dieses Machwerk von diesem Emporkömmling, diesem Adolf Hitler, dem ungebildeten Sohn eines einfachen Zollbeamten und einer Putzfrau, nicht gelesen? Dieses schlecht geschriebene, grauenhafte Buch “Mein Kampf“. Da steht klipp und klar, wie sich dieser Nichtsnutz das zukünftige Deutschland vorstellt und was er mit Andersdenkenden, vor allem aber mit Juden, zu tun beabsichtigt“.

„Man muss nicht alles glauben, was gedruckt wird“, entgegnete Eddas Mutter und ging hinüber ins andere Zimmer; sie musste sich um ihre kränkelnden Schwiegereltern kümmern. Dadurch kam sie auch kaum noch aus dem Haus und Edda übernahm es, die Einkäufe zu erledigen. Und Edda pflegte für vier Wochen ihre Großeltern, als ihre Mutter wieder einmal nach Berlin gereist war, um ihre Eltern zu besuchen.

Sebastian schrieb eifrig an seinem Buch und zog sich mehr und mehr zurück.

Viktoria vom Besuch aus Berlin zurück, wo sie den Trubel um die Olympischen Spiele, wo sie die zu diesen Ereigniss zahlreichen Besucher aller möglichen Länder und die hoffnungsvolle Stimmung der Bevölkerung voll begeisternder Anteilnahme erlebt hatte, schwärmte von den Fortschritten in Deutschland und in der Reichshauptstadt.

Sebastian aber wollte an solch positive Entwicklungen unter der Naziherrschaft nicht glauben. Die Eltern stritten sich immer häufiger und Edda flüchtete bei solchen Auseinandersetzungen mit einem Buch unterm Arm in den Volksgarten. Dort saß sie dann auf einer Bank unter einer mächtigen Buche und las und vergaß darüber die Zeit.

Es war wieder so ein Tag mit Streitereien der Eltern gewesen, weil der Vater behauptet hatte, mit der Ernennung des Seyß-Inquart zum Bundeskanzler, hätten nun auch in Österreich die Faschisten endgültig den Sieg davon getragen und es würde ein schlimmes Ende nehmen, dass Edda es nicht mehr ertragen konnte und der elterlichen Wohnung entfloh. Sie blieb bis spät in die Dämmerung hinein im Park, obwohl es um diese Jahreszeit nach Sonnenuntergang doch schnell empfindlich kühl wurde

Als sie nach Hause zurückkehrte fand sie ihre beiden Zimmer in der Wohnung der Großeltern leer. Sie schaltete das Licht ein, legte neue Buchenscheite ins Herdfeuer, dass die Glut aufstob, machte sich zwei Scheiben Brot mit ein wenig Käse, setzte sich vor den Herd und aß. Dann ging sie, wollte bei den Großeltern nachsehen, ob ihr Vater oder ihre Mutter dort wären, aber da es in den Räumen der Großeltern still und dunkel war, nahm sie an, dass diese schon zu Bett seien, wollte dann doch lieber nicht stören und ging zurück in die Wohnküche. Edda setzte sich an den Tisch und wartete, schlief schließlich auf dem Stuhl ein.

Es war beinahe Mitternacht als sie erwachte. Schritte auf der Treppe holten sie aus einem wirren Traum wieder zurück in die Wirklichkeit. Der Vater kam mit verweinten Augen herein, setzte sich stumm Edda gegenüber an den Tisch, stützte seinen Kopf in die Hände und sagte fast tonlos. „Es ist aus. Ich habe Recht behalten. Nun ist es für uns aus. Das ist das Ende“.

Edda konnte sich darauf keinen Reim machen, war verwirrt und verzweifelt, denn noch nie hatte sie ihren stolzen Vater in so einer deprimierten Verfassung gesehen. Sie wollte fragen was los ist und wo die Mutter sei, aber sie bekam keinen Ton heraus.

Der Vater erhob sich langsam, ging gebeugt im Zimmer auf und ab, schließlich blieb er stehen. „Das Buchprojekt ist abgesagt, Anweisung von höchster Stelle. Und dabei war ich fast fertig.“ Er schüttelte traurig den Kopf, machte wieder einiege Schritte, blieb erneut stehen, dachte einen Augenblick nach und fuhr fort. „Nun, das ist nicht das Schlimmste. Mein liebes Kind, das Schlimmste wird sein, dass in wenigen Tagen dieser Hitler hier in Wien einmarschieren und Österreich mit Deutschland vereint wird. Das ist die eigentliche Katastrophe. Du solltest verreisen. Ich habe das mit den Großeltern besprochen. Du könntest zu einer Bekannten nach Budapest“. Er setzte sich, sah seine Tochter an.

„Nach Budapest?“, fragte Edda, „und du und Mutter, ihr kommt nicht mit?“

„Viktoria ist heute nach Berlin gefahren, ich konnte sie davon nicht abhalten“.

Edda wiederholte wie ein Sprechautomat: „Nach Berlin gefahren“ und blickte ihren Vater fassungslos an. „Jetzt, jetzt ist sie nach Berlin gefahren, aber warum?“, und sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Sie war den Tränen nahe.

Ihr Vater nahm ihre Hand. „Mutter hat es in dieser bescheidenen Enge nicht mehr ausgehalten. Und du weißt, sie hält mich für hysterisch. Sie glaubt allen Ernstes, dass trotz der ständigen Hetze und der zunehmenden Tätlichkeiten gegen uns Juden, es nicht so schlimm kommen wird. Ihr Vater redet ihr da auch noch zu. Und ich würde gern deren Optimismus teilen. Aber, wie dem auch sei, ich möchte das du an einen sicheren Ort gehst“.

„Aber ganz allein?“, Edda fing an zu weinen und schämte sich ihrer Tränen

„Wenn sich alles beruhigt hat, möglicherweise beruhigt hat, kehrst du zurück. Oder, besser noch, ich werde dich besuchen. Jetzt kann ich hier nicht weg. Meine Eltern, Großmutter und Großvater, ich kann sie nicht allein lassen, das verstehst du doch?“, erklärte Sebastian mit sanfter Stimme. Tränen rannen Edda übers Gesicht, sie nickte ergeben.

*

Ich hatte Edda zu mir gebeten. Sie saß am Schreibtisch mir gegenüber. Ich zeigte ihr meine noch ungeordneten Notizen. Sie las langsam, nickte ab und zu, lächelte hin und wieder, stöhnte leise, legte die Papiere auf den Tisch und sagte: „Damals, als ich nach Budapest musste, schenkte mir meine Oma den dunkelblauen Nerz. Sie meinte: „Kind, wenn es dir einmal schlecht gehen sollte, dann kannst du diesen Mantel verkaufen“. Ich wollte den Pelzmantel nicht annehmen, aber sie bestand darauf. „Ich werde ihn gewiss nicht mehr tragen, und hier hängt er nur im Schrank herum und nimmt Platz weg und außerdem bist du jetzt eine junge Dame, kannst also ruhig so einen Mantel tragen, also nimm ihn“.