Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Zitat
  5. Prolog
  6. 1
  7. 2
  8. 3
  9. 4
  10. 5
  11. 6
  12. 7
  13. 8
  14. 9
  15. 10
  16. 11
  17. 12
  18. 13
  19. 14
  20. 15
  21. 16
  22. 17
  23. 18
  24. 19
  25. 20
  26. 21
  27. 22
  28. 23
  29. 24
  30. 25
  31. Epilog
  32. Danksagung
  33. Leseprobe
  34. Die Autorin
  35. Amy Harmon bei INK
  36. Impressum

AMY HARMON

Mein Himmel
in deinen Händen

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Corinna Wieja

Zu diesem Buch

Drei Jahre sind vergangenen, seit David Taggert nach Salt Lake City zurückgegekehrt ist. Zwar hat er sich hier inzwischen ein neues Leben aufgebaut und leitet eine beliebte Szene-Bar, aber die schrecklichen Erinnerungen an damals begleiten ihn noch immer jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Einzig im Ring kann er seine Vergangenheit vergessen. Nur wenn er kämpft, fühlt er sich lebendig. Das ändert sich schlagartig, als eines Abends die junge Millie Anderson in seiner Bar auftaucht und sich als Tänzerin bewirbt. Nichts an Millie ist gewöhnlich, und David ist vom ersten Augenblick an fasziniert von ihr. Die junge Frau ist wunderschön, lustig und tough. Sie lebt in einer riesigen alten Villa und zieht ihren kleinen Bruder Henry auf, der autistisch ist. Wenn sie tanzt, wirkt sie wie ein Engel. Und wenn sie Tagg ansieht, ist es, als könne sie direkt in seine Seele blicken. Von einem auf den anderen Tag stellen Millie und Henry Taggs Leben vollkommen auf den Kopf. Bis plötzlich etwas geschieht, das Tagg vor die schwerste Entscheidung seines Lebens stellt. Und er muss sich fragen, ob er wirklich stark genug ist. Für Millie, für ihre Liebe. Aber auch für sich selbst …

Für die Kämpfer
Cody Clark,
Stephenie Thomas,
Richard Stowell
und Nicole Rasmussen.
Und all jene, die Seite an Seite mit ihnen kämpfen.

Wie lange willst du mein so gar vergessen?

Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten

in meinem Herzen täglich?

Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Schaue doch und erhöre mich.

Erleuchte meine Augen,

dass ich nicht dem Tode entschlafe,

dass nicht mein Feind rühme, er sei meiner mächtig geworden.

Psalm 13 – Ein Lied Davids

PROLOG

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Moses

Gestern bekam ich einen Anruf von Millie. Tagg ist verschwunden. Er ist weg, und Millie hat keine Ahnung, wo sie ihn suchen soll, selbst wenn sie es könnte. So was sieht Tagg gar nicht ähnlich. Er weiß, dass sie ihm nicht hinterherlaufen kann, und fies ist er nicht. Noch nie gewesen.

Als ich Millie kennenlernte, merkte ich sofort, dass Tagg in ihr jemanden gefunden hatte, der ihm hilft, zur Ruhe zu kommen und ihm Halt gibt. Sie würde mit Freuden seine seelischen Knoten entwirren und ihn dazu bringen, sein Leben zu entschleunigen. Im Gegenzug würde er sie auf die ihm eigene Weise lieben. Das Schicksal schien die beiden zusammengeführt zu haben, obwohl ich an so einen Mist eigentlich nicht glaube. Auch wenn man das meinen könnte, bei all dem, was ich sehe und weiß. Aber genau dieses Wissen, dass Vieles weit über unseren Verstand hinausgeht, lässt mich an dem Konzept von Schicksal und Vorsehung zweifeln. Die Behauptung, etwas sei vorbestimmt und »solle so sein«, ist meiner Meinung nach nur eine faule Ausrede, um sich leichter damit abzufinden, wenn man etwas vermasselt hat oder vom Leben eine Wagenladung Mist serviert bekommt. Die angeblich vorbestimmten Dinge haben wir nicht verursacht. Wir haben keine Kontrolle darüber. Sie passieren einfach so, egal, wer oder was wir sind. Wie Sonnenuntergänge und Schnee und Naturkatastrophen. Ich hab nie daran geglaubt, dass Not und Leid vorbestimmt sein sollen oder Menschen füreinander bestimmt sein können. Wir haben die Wahl. Im Allgemeinen treffen wir die Entscheidungen. Wir erschaffen, machen Fehler, brennen Brücken hinter uns ab und errichten neue.

Tagg ist jedoch anders. Er soll so sein. Er ist einfach er. Ein Wirbelwind, ein Tornado, der sich nicht kontrollieren lässt. Er saugt alles in sich auf, aber im Gegensatz zu einer Naturkatastrophe lässt er nicht mehr los. Er lässt niemals jemanden fallen. Und doch hat er genau das nun getan. Ohne jegliche Vorwarnung hat er losgelassen.

Vor drei Jahren sind Tagg und ich nach Salt Lake City zurückgekehrt und geblieben. Am Anfang machte ich mir Sorgen, Tagg irgendwann ziehen lassen zu müssen, weil er eben kein sesshafter Typ ist. Er war schon immer rastlos, ein Getriebener, und langweilt sich schnell. Wenn man fast sechs Jahre lang durch die ganze Welt reist, geht einem das ins Blut über. Das Weiterziehen, das unstete, schnelle Leben, die Freiheit. Man hält es nur noch schwer für längere Zeit an einem Ort aus. Doch uns ist das gelungen. Uns beiden. Wir sind zusammen weggelaufen wie die verlorenen Jungs auf der Suche nach Nimmerland und haben es irgendwie geschafft, als Männer zurückzukehren.

Tagg hatte sich mächtig ins Zeug gelegt und einen ganzen Straßenblock zu einem Zuhause für all jene gemacht, die er im Lauf der Zeit um sich geschart und mehr oder weniger adoptiert hatte. Ich hatte mir einen Namen gemacht, meinen Kundenstamm erweitert, wäre fast ums Leben gekommen, hatte wieder Kontakt zu Georgia aufgenommen und sie schließlich dazu überredet, mich zu heiraten. Vor sechs Monaten kam unsere Tochter Kathleen zur Welt. Tagg heulte, als er sie zum ersten Mal in den Armen hielt, und scherte sich einen Dreck um sein Image als harter Kerl. Er wirkte so glücklich. So topfit und mit sich im Reinen.

Und nun hat er ohne ersichtlichen Grund losgelassen und sich aus dem Staub gemacht.

Er hat Millie fallen gelassen. Er hat das Tagg-Team, seine Geschäfte, seine Pläne für einen Titelkampf fallen gelassen. Und auch mich. Das ergab alles keinen Sinn. Falls es irgendwelche Vorzeichen gegeben hatte, hatte ich sie übersehen. Dabei bin ich der Kerl, der Dinge sehen sollte, die andere nicht sehen. Ich bin Moses Wright – Medium, Künstler, bester Freund – und ich hatte die Zeichen nicht erkannt.

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Moses

Tagg hatte keine Nachricht hinterlassen, seine Wohnung war aufgeräumt. Mehr als aufgeräumt – leer, besenrein. Im Fenster hing das Schild eines Immobilienmaklers. Tagg hat einen ausgeprägten Hang zur Unordnung; das musste er ändern, falls er mit Millie zusammenziehen wollte. Daher nahm ich an, seine Haushälterin wäre da gewesen, und rief sie an. Allerdings wusste sie auch nicht mehr. Niemand wusste etwas. Tagg hatte niemandem Bescheid gegeben. Seine Wohnung steht zum Verkauf, sein Pick-up ist weg. Er war weg. Ohne eine neue Adresse zu hinterlassen.

Im Fitnessklub hatte er einen Briefumschlag mit Millies Namen hinterlegt. Darin steckte ein Schlüsselbund, an dem ihr Haustürschlüssel hing, ein Schlüssel für den Fitnessklub, einer für die Bar und einer für den Aktenschrank in seinem Büro. Wir probierten eine Weile herum, bis wir rausfanden, welcher Schlüssel in welches Schloss passte. Trotzdem hatte ich nicht den Eindruck, dass Tagg Katz und Maus mit uns spielen wollte. Auch das war nicht seine Art. Er wollte nur nicht von uns gefunden werden. Und das jagte mir eine Heidenangst ein.

In der obersten Schublade des grauen Aktenschranks stand ein Schuhkarton. Darin lagen Kassetten, beschriftet mit Taggs Namen und einer Zahl. Darunter befand sich ein Aufkleber mit kleinen aufgeprägten Punkten. Ein Kassettenrekorder, von der tragbaren Sorte, die den Lautsprecher oben hat und vorne nebeneinanderliegende Tasten wie bei einem Klavier, lag ebenfalls in der Schachtel.

Ich fragte Millie, ob sie damit was anfangen konnte. Überrascht fuhr sie mit den Fingern über Kassetten und Rekorder und nickte dann.

»Der ist von meinem Bruder Henry. Der Rekorder steht schon seit einer halben Ewigkeit in seinem Zimmer. Früher hat Henry immer Sportkommentator gespielt. Er hat sich die Spiele meines Dads im Fernsehen angeschaut und dabei seine Kommentare in den Rekorder gesprochen, als sei er Bob Costas oder so. Bevor meine Mutter starb, hat sie ihm einen Digitalrekorder gekauft. Aber Henry hebt alles auf. Bestimmt hat Tagg den Rekorder und die Kassetten von ihm.«

Tagg fasst alles gern an. Das hat er mit Millie gemeinsam. Sie muss alles anfassen, um sich ein Bild zu machen. Er muss alles anfassen, um es zu spüren und eine Beziehung herzustellen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er die Kassetten eingelegt und einfach drauflosgeplaudert und dabei ewig gebraucht hatte, um auf den Punkt zu kommen. Vermutlich lachte er beim Erzählen sogar, als sei alles nur ein Witz. Trotzdem konnte ich nicht richtig sauer auf ihn sein, denn ich wusste instinktiv, dass er die Bänder deshalb besprochen hatte, weil er Millie bloß auf diese Weise eine Nachricht hinterlassen konnte. Nur mithilfe der Kassetten konnte er sicherstellen, dass sie allein und ohne Publikum erfahren konnte, was er ihr zu sagen hatte.

»Du weißt, wie man das Ding benutzt, oder?«, fragte ich.

Sie nickte.

»Ich glaube, die Kassetten sind für dich bestimmt, Millie«, sagte ich.

»Er hat sie beschriftet«, flüsterte sie. »Er hat sie beschriftet, damit ich weiß, welche ich zuerst anhören muss.«

»Die Aufkleber?«

Wieder nickte sie. »Ja. Ich hab sie auf all meinen Sachen. In meinem Schlafzimmer steht eine kleine Kiste, in der sind Sticker mit Zahlen, Buchstaben und Wörtern in Punktschrift. Anscheinend hat Tagg tatsächlich zugehört, als ich sie ihm gezeigt habe.«

»Tagg hört immer zu. Man merkt es ihm nur nicht an, weil er so zappelig ist. Aber ihm entgeht nichts.«

Millies Lippen bebten, und ihre Augen schwammen in Tränen. Schnell wandte ich den Blick ab, auch wenn das unnötig war.

Ich hörte, wie sie eine Kassette einschob und auf Play drückte. Taggs Stimme füllte das stille Zimmer. Ich zuckte lächelnd zusammen, immer noch unschlüssig, ob ich sauer auf ihn sein sollte oder Angst um ihn haben musste. Eins wusste ich jedoch ziemlich genau – Tagg hätte sicher nicht gewollt, dass ich mitbekam, was er Millie zu sagen hatte. Ich ging zur Tür. Als ich sie jedoch öffnete, schaltete Millie das Band aus, und Tagg verstummte mitten im Satz über seine Bar. Ich wusste über seine Geschäfte bereits alles, was ich wissen musste. Aber Millie war anderer Meinung.

»Moses? Bitte bleib und hör dir mit mir die Kassetten an. Du kennst ihn am besten. Du bist mit ihm schon so vertraut, wie ich es gerne sein möchte. Und er liegt dir so sehr am Herzen wie mir. Ich brauch deine Hilfe, damit mir nichts entgeht. Und danach brauch ich deine Hilfe, um ihn zu finden.«

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Mit achtzehn lernte ich David Taggert in einer psychiatrischen Klinik kennen. Der psychiatrischen Klinik Montlake. Bei einer Gruppentherapie sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Ich entdeckte seine tote Schwester hinter seiner Schulter und fragte, ob er Molly kannte. So hieß sie. Molly. Seine tote Schwester. Er war wütend auf mich losgegangen und hatte mich zu Boden gerissen. Mit den Händen um meinen Hals hatte er Antworten verlangt, ehe die Pfleger ihn von mir wegziehen konnten.

Kein besonders vielversprechender Anfang für eine Freundschaft.

Wir waren aus unterschiedlichen Gründen dort. Ich war eingewiesen worden, weil man Angst vor mir hatte, und Tagg, weil er geliebt wurde. Ich sah tote Menschen, und er wollte sterben. Wir waren jung, einsam, verloren und verirrt. Ich für meinen Teil wollte auch gar nicht gefunden werden, sondern einfach nur weg, so weit wie möglich, weg von den Toten.

Tagg wollte nur Klarheit.

Vielleicht lag es an unserem jugendlichen Alter. Oder daran, dass wir beide nicht besonders scharf darauf waren, die psychiatrische Klinik wieder zu verlassen. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass Tagg mit seinem ausgeprägten texanischen Akzent und seinem Cowboygehabe so ganz anders war als ich. Egal aus welchem Grund, wir wurden Freunde. Vielleicht auch, weil er mir glaubte. Ohne zu zögern. Bedingungslos. Ohne zu urteilen. Er glaubte mir. Und das ist auch so geblieben.

Nach unserem Schlagabtausch in der Therapiegruppe durften wir unsere Zimmer drei Tage lang nicht verlassen. Am dritten Isolationstag kam Tagg in mein Zimmer gesprintet und schloss die Tür.

Finster musterte ich ihn. Ich hatte angenommen, die Tür wäre abgeschlossen, und hatte das nicht einmal überprüft. Jetzt kam ich mir dumm vor, weil ich drei Tage im Zimmer verbracht hatte, obwohl die Tür gar nicht verriegelt war.

»Die Pfleger laufen alle paar Minuten zur Kontrolle durch den Flur. Mehr aber auch nicht. Das war schon lächerlich einfach. Ich hätte viel eher kommen sollen«, sagte er und setzte sich auf mein Bett. »Ich bin übrigens David Taggert. Aber du kannst mich Tagg nennen.« Er entschuldigte sich nicht dafür, dass er mich beinahe erstickt hätte, und machte auch nicht den Eindruck, als ob er eine Prügelei anfangen wollte, was mich ein wenig enttäuschte.

Wenn er sich nicht prügeln wollte, konnte er von mir aus gleich wieder verschwinden. Wortlos wandte ich mich dem Bild zu, an dem ich gerade arbeitete. Ich spürte die Nähe seiner Schwester am Rande meines Sichtfeldes. Ihr Bild flackerte hinter meinen Schutzmauern auf, und ich seufzte schwer. Ich war Molly leid und ihren Bruder noch mehr. Beide waren unglaublich hartnäckig und anstrengend.

»Du bist ein verrückter Dreckskerl«, sagte Tagg ohne Vorwarnung.

Ich hob nicht mal den Kopf von dem Bild, das ich mit dem letzten stummeligen Rest eines Wachsstiftes zeichnete. Ich versuchte, meine Stifte so lange wie möglich zu verwenden. Meine Vorräte schwanden viel zu rasch.

»Das behaupten die Leute, oder? Dass du verrückt bist. Aber das schlucke ich nicht, Mann. Nicht mehr. Du bist nicht verrückt. Du hast Fähigkeiten. Wahnsinnige Fähigkeiten.«

»Wahnsinnig. Verrückt. Bedeutet das nicht dasselbe?«, murmelte ich. Wahnsinn und Genie lagen eng beieinander. Ich fragte mich, über welche Fähigkeiten er redete. Er hatte mich nicht malen sehen.

»Nein, Mann«, sagte er. »Das ist nicht dasselbe. Verrückte gehören an solche Orte wie den hier. Du aber nicht.«

»Ich glaub schon, dass ich hierhergehöre.«

Er lachte, eindeutig überrascht. »Du glaubst, dass du verrückt bist?«

»Ich glaube, dass ich einen Knacks habe.«

Fragend legte Tagg den Kopf schief. Als ich nicht weitersprach, nickte er. »Okay. Vielleicht haben wir alle einen Knacks. Oder sind geknickt. Ich auf jeden Fall.«

»Warum?«, fragte ich. Molly schwebte wieder im Raum, und ich zeichnete schneller, füllte unwillkürlich die Seite mit ihrem Gesicht.

»Meine Schwester ist verschwunden. Und das ist meine Schuld. Solange ich nicht weiß, was mit ihr passiert ist, werde ich den Knacks nicht kitten können. Ich werde bis in alle Ewigkeit geknickt bleiben.« Seine Stimme klang so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich den letzten Teil hören sollte.

»Ist das deine Schwester?«, fragte ich und zeigte ihm widerstrebend meinen Skizzenblock.

Tagg betrachtete das Bild. Dann stand er auf. Gleich darauf setzte er sich wieder, dann nickte er.

»Ja«, brachte er erstickt hervor. »Das ist meine Schwester.«

Und er erzählte mir alles.

David Taggerts Vater machte in Texas in Öl, wollte aber schon immer Rancher werden. Als Tagg immer öfter Ärger bekam und sich jedes Wochenende besoff, kaufte sein Vater eine zwanzig Hektar große Ranch in Sanpete County, Utah, und die Familie zog dorthin. Er war sich sicher, wenn er Tagg und seine ältere Schwester Molly aus ihrem alten Umfeld herausholte, würden sie ihre Probleme in den Griff bekommen.

Die Kinder blühten jedoch nicht auf. Sie rebellierten. Molly lief von zu Hause fort und verschwand spurlos. Tagg gab sich Mühe, nüchtern zu bleiben, aber wenn er nicht trank, ertrank er in Schuldgefühlen und versuchte schließlich, sich das Leben zu nehmen. Mehrmals. Weshalb er im psychiatrischen Flügel gelandet war, in derselben Etage wie ich.

Ich hörte zu, ließ ihn reden. Ich wusste ebenso wenig über Mollys Todesumstände wie er. Solche Erinnerungen teilten die Toten nie mit mir. Sie wollten mir ihr Leben zeigen, nicht ihren Tod. Als Tagg seine Geschichte beendet hatte, sah er mich mit traurigen Augen an.

»Sie ist tot, stimmt’s? Du kannst sie sehen, also ist sie tot.«

Ich nickte, und er nickte auch, nahm meine Antwort ohne Widerrede hin und senkte den Kopf, worauf meine Achtung für ihn stieg. Also zeigte ich ihm, was Molly mir zeigte, und zeichnete die Bilder, die mir durch den Kopf gingen, wenn sie in der Nähe war.

Tagg erzählte seinem Vater von mir. Und aus welchen Gründen auch immer – Verzweiflung, Hilflosigkeit oder schlicht dem Wunsch, seinen hartnäckigen Sohn zu beschwichtigen – heuerte David Taggert senior einen Mann und seinen Suchhundetrupp an, um die von mir beschriebene Gegend abzusuchen. Rasch nahmen die Hunde Mollys Spur auf und fanden ihre Leiche. Einfach so. In einem flachen Grab, über dem sich Steine und Müll auftürmten, nur fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der ich ihr lächelndes Gesicht auf eine Straßenbrücke gemalt hatte, wurde die Leiche von Molly Taggert aufgespürt.

Tagg hatte mir weinend davon berichtet. Tiefe, markerschütternde Schluchzer ließen seine Schultern erbeben und mein Magen verkrampfte. Zum ersten Mal hatte ich so etwas getan. Jemandem geholfen. Jemanden aufgespürt. Zum ersten Mal war meine Gabe, wenn man das so nennen konnte, nützlich gewesen. Tagg hatte jedoch nur weitere Fragen.

Eines Nachts, nachdem die Lichter gelöscht waren, schlich er sich wie so oft ungesehen über den Flur zu mir und suchte nach Antworten, die ihm das Personal nicht geben konnte und von denen er glaubte, dass ich sie kannte. Tagg lächelte oft, geriet rasch in Wut, vergab schnell und handelte schnell. Er machte keine halben Sachen. Manchmal fragte ich mich, ob er nicht tatsächlich in der Anstalt am besten aufgehoben war, weil man ihn dort unter Kontrolle hielt. Er besaß jedoch auch eine sentimentale Seite.

»Wenn ich sterbe, was passiert dann mit mir?«

»Warum glaubst du, dass du sterben wirst?« Ich hörte mich schon wie ein Arzt an.

»Ich bin hier, weil ich mehrere Male versucht habe, mich umzubringen, Moses.«

»Ja, ich weiß.« Ich deutete auf die lange Narbe auf seinem Arm. Das war leicht zu erkennen. »Und ich bin hier, weil ich tote Leute male und jedem, dem ich begegne, eine Scheißangst einjage.«

Er grinste. »Ja, ich weiß.« Auch er wusste über mich Bescheid. Sein Lächeln verschwand jedoch sofort wieder. »Wenn ich nicht trinke, drückt mich das Leben so sehr runter, dass ich nicht mehr klar denken kann. So war das nicht immer. Aber jetzt ist es so. Das Leben ist ziemlich scheiße, Moses.«

»Willst du immer noch sterben?«, wechselte ich das Thema.

»Ab und zu. Was kommt danach?«

»Mehr«, antwortete ich schlicht. »Einfach mehr. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Es endet nicht.«

»Und du siehst, was danach kommt?«

»Was meinst du damit?« Ich konnte nicht in die Zukunft blicken, falls er das meinte.

»Kannst du die andere Seite sehen?«

»Nein. Ich sehe nur, was sie mir zeigen«, stellte ich klar.

»Sie? Wer ist sie?«

»Diejenigen, die zu mir kommen.« Ich zuckte mit den Schultern.

»Flüstern sie dir was zu? Reden sie mit dir?« Tagg hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, als sei das Thema heilig.

»Nein. Sie sagen nie was. Sie zeigen mir nur Dinge.«

Tagg erschauerte und rieb sich den Nacken, wie um die Gänsehaut wegzurubbeln, die ihm über den Rücken kroch.

»Siehst du alles? Ihr ganzes Leben?«

»Manchmal fühlt es sich so an. Dann ist es wie eine Flutwelle aus Farben und Erinnerungen, aus der ich nur zufällig Dinge auffischen kann, weil alles so schnell durcheinanderwirbelt. Außerdem kann ich nur sehen, was ich auch verstehe. Ich bin sicher, ihnen wäre es lieber, wenn ich mehr sehen könnte. Aber das ist nicht so leicht. Es ist subjektiv. Ich sehe gewöhnlich nur Bruchstücke, Puzzleteile. Niemals das ganze Bild. Aber ich bin schon besser im Filtern geworden. Dadurch fühlt es sich mehr wie Erinnern an und weniger so, als wäre ich besessen.« Als ich lächelte, schüttelte Tagg verwundert den Kopf.

»Moses?« Tagg riss mich aus meinen Gedanken.

»Ja?«

»Bekomm das nicht in den falschen Hals, aber … wenn du weißt, dass da mehr ist und es nicht schlimm ist oder unheimlich … keine Zombie-Apokalypse, kein Fegefeuer und keine Hölle, soweit du weißt, warum bleibst du dann noch hier?« Seine Stimme klang so leise und voller Emotionen, dass ich mir nicht sicher war, ob ich die richtigen Worte finden würde, um ihm zu helfen. Ich wusste nicht, ob es darauf überhaupt eine Antwort gab. Ich dachte einen Moment nach und fand schließlich eine Antwort, die sich richtig anfühlte.

»Weil ich immer noch ich sein würde«, sagte ich. »Und du immer noch du.«

»Was meinst du damit?«

»Wir können nicht vor uns selbst flüchten, Tagg. Ob hier oder dort, ob man bis ans Ende der Welt reist oder in einer psychiatrischen Klinik in Salt Lake City ist. Ich bin Moses und du Tagg. Und das wird sich nie ändern. Also müssen wir uns unserem Selbst entweder hier stellen oder woanders. Aber wir müssen auf jeden Fall damit klarkommen. Und daran ändert auch der Tod nichts.«

Er nickte langsam, den Blick auf meine Hände gerichtet, die Bilder entstehen ließen, die keiner von uns wirklich verstand.

»Daran ändert sich nichts«, wiederholte er wie ein Echo. »Du bist Moses und ich Tagg.«

Ich nickte. »Ja. Und so sehr das manchmal auch nervt, es liegt auch Trost darin. Zumindest wissen wir, wer wir sind.«

Er fragte mich nie wieder nach dem Tod. In den folgenden Wochen legte er eine Zuversicht an den Tag, die er früher vermutlich bergeweise besessen hatte. Er schien Pläne für die Zukunft zu schmieden. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich anfangen sollte.

»Wohin gehst du nach deiner Entlassung?«, fragte er eines Abends beim Essen, die Augen auf den Teller gerichtet, die Arme auf dem Tisch. Er hatte einen fast so großen Appetit wie ich. Ich war mir ziemlich sicher, dass das Küchenpersonal froh über unsere Entlassung sein würde.

Ich wollte nicht mit Tagg über meine Zukunft reden. Ich wollte gar nicht darüber reden. Also schaute ich über Taggs Kopf hinweg aus dem Fenster und teilte ihm das wortlos mit. Aber Tagg blieb hartnäckig.

»Du bist fast neunzehn. Du bist offiziell raus aus dem System. Also, wohin willst du, Mo?« Ich weiß nicht, wie er auf die Idee gekommen war, mich Mo zu nennen. Ich hatte ihm das nicht erlaubt. Aber so war er nun mal. Hartnäckig war er mir immer mehr auf die Pelle gerückt und hatte sich durch meine Schutzmauer gebohrt.

Mein Blick flackerte kurz zu Tagg, dann tat ich seine Frage mit einem Schulterzucken ab, als sei sie nicht wichtig.

Ich hatte mehrere Monate in der Klinik verbracht. Über Weihnachten, Neujahr bis in den Februar hinein. Drei Monate in einer psychiatrischen Anstalt. Und ich wünschte, ich könnte bleiben.

»Komm mit mir«, schlug Tagg vor, warf die Serviette auf den Tisch und schob sein Tablett von sich weg.

Völlig verblüfft lehnte ich mich zurück. Ich erinnerte mich daran, dass Tagg am Tag seiner Ankunft in der Klinik geweint hatte; sein Schluchzen hatte von den Wänden im Flur widergehallt. Er war fast einen Monat nach mir gekommen. Ich hatte im Bett gelegen und den Versuchen, ihn zu beruhigen, gelauscht. Damals wusste ich noch nicht, dass er es war. Erst später, als er mir verriet, warum er in Montlake war, hatte ich eins und eins zusammengezählt. Ich dachte daran, wie er damals im Gesprächskreis auf mich eingeprügelt hatte, mit Wut in den Augen und rasend vor Kummer. Tagg riss mich mit seinen Worten aus den Gedanken.

»Meine Familie hat zwar nicht viel zu bieten, aber Geld haben wir haufenweise. Und du hast einen Scheißdreck.«

Ich blieb stocksteif sitzen und wartete ab. Es stimmte. Ich hatte nichts. Tagg war mein Freund, mein erster echter Freund außer Georgia. Aber ich wollte Taggs Mist nicht. Weder den guten noch den schlechten, und Tagg hatte genug von beidem.

»Ich brauche jemanden, der aufpasst, dass ich mich nicht umbringe. Jemanden, der stark genug ist, um mich aufzuhalten, falls ich beschließen sollte, mir den Verstand wegzusaufen. Ich gebe dir den Job, jede wache Minute mit mir zu verbringen, bis ich herausgefunden habe, wie ich nüchtern bleiben kann, ohne den Wunsch zu verspüren, mir die Adern aufzuschlitzen.«

Verwirrt legte ich den Kopf schräg. »Du willst, dass ich deinen Aufpasser spiele?«

Tagg lachte. »Ja. Schlag mir ins Gesicht, drück mich auf den Boden. Tritt mir die Scheiße aus dem Leib. Stell nur sicher, dass ich nüchtern und am Leben bleibe.«

Ich überlegte, ob ich dazu in der Lage wäre, Tagg zu schlagen, ihn auf den Boden zu drücken, ihn festzuhalten, bis der Alkohol- oder Todeswunsch vergangen war. Ich war groß. Stark. Aber Tagg war auch nicht gerade klein und schwächlich. Und plötzlich klang der Vorschlag nicht mehr ganz so prickelnd. Meine Zweifel mussten sich in meinem Gesicht gespiegelt haben, denn Tagg brachte weitere Argumente vor.

»Du brauchst jemanden, der dir glaubt. Das tue ich. Es nervt irgendwann, nur Leute um sich herum zu haben, die denken, dass man einen Knall hat. Ich weiß, dass du keinen Knall hast. Du brauchst einen Ort, an den du gehen kannst, und ich brauche jemanden, der mich begleitet. Es ist kein schlechtes Geschäft. Du willst reisen. Und ich habe nichts Besseres zu tun. Ich bin lediglich gut im Kämpfen, das kann ich überall.« Er lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ehrlich, ich traue mir nicht zu, allein zu leben. Und wenn ich nach Hause zurückkehre, werde ich trinken. Oder sterben. Also brauche ich dich.«

Er sagte das so leichthin. Ich brauche dich. Ich fragte mich, wie ein harter Kerl wie Tagg, jemand, der sich aus Spaß prügelte, so offen und leicht vor einem anderen zugeben – und selbst daran glauben – konnte, dass er Hilfe benötigte. Ich hatte nie jemanden gebraucht. Im Prinzip zumindest. Und ich hatte diese Worte nie ausgesprochen. »Ich brauche dich« hörte sich an wie »Ich liebe dich«, und das jagte mir Angst ein. Es kam mir vor, als würde ich eines meiner Gesetze brechen. Aber in diesem Moment, in dem der Morgen sich bedrohlich näherte und die Freiheit allmählich in Reichweite rückte, musste ich zugeben, dass ich Tagg vermutlich ebenfalls brauchte.

Wir gaben ein seltsames Paar ab. Der Straftäter mit gemischter ethnischer Herkunft, der nicht aufhören konnte zu malen, und der große Texaner mit dem großspurigen Gehabe und den zotteligen Haaren. Aber Tagg hatte recht. Wir steckten beide in der Klemme und wussten nicht weiter. Wir hatten keinen Halt und sahen keinen Weg vor uns. Ich wollte lediglich meine Freiheit, und Tagg wollte nicht allein sein. Ich brauchte sein Geld und er meine Gesellschaft, so traurig das auch war. Und so zogen wir los. Wir rannten förmlich. Und warfen keinen Blick zurück.

»Wir bleiben immer auf Achse, Moses. Wie hast du gesagt? Hier, dort oder am Ende der Welt? Wir können nicht vor uns selbst flüchten. Also bleiben wir zusammen, bis wir uns selbst gefunden haben, in Ordnung? Bis wir herausgefunden haben, wie wir zurechtkommen.«

Das hatte er gesagt. Das hatten wir getan. Und Tagg Taggert wurde mein bester Freund. Wenn ich ihn am meisten brauchte, hielt er zu mir. Er ließ mich nie im Stich.

Daher musste ich ihn jetzt unbedingt finden.

Am meisten Angst hatte ich davor, dass er die Antworten, die er brauchte, womöglich bereits gefunden hatte. Vielleicht wusste er ganz genau, was er tat und wer er war. Vielleicht hatte er inzwischen Klarheit gefunden. Aber wir hatten mit achtzehn einen Deal geschlossen. Und ich stehe zu meinem Wort – ein Deal ist ein Deal.

»Ich brauche jemanden, der aufpasst, dass ich mich nicht umbringe. Jemanden, der stark genug ist, um mich aufzuhalten, falls ich beschließen sollte, mir den Verstand wegzusaufen. Schlag mir ins Gesicht, drück mich auf den Boden. Tritt mir die Scheiße aus dem Leib. Stell nur sicher, dass ich nüchtern und am Leben bleibe«, hatte er gesagt. Er hatte sein Leben in meine Hände gelegt.

Und ich konnte nur hoffen, dass ich nicht zu spät kam.