Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Kapitel 1
  5. Kapitel 2
  6. Kapitel 3
  7. Kapitel 4
  8. Kapitel 5
  9. Kapitel 6
  10. Kapitel 7
  11. Kapitel 8
  12. Kapitel 9
  13. Kapitel 10
  14. Kapitel 11
  15. Kapitel 12
  16. Kapitel 13
  17. Kapitel 14
  18. Kapitel 15
  19. Kapitel 16
  20. Kapitel 17
  21. Kapitel 18
  22. Kapitel 19
  23. Kapitel 20
  24. Kapitel 21
  25. Kapitel 22
  26. Kapitel 23
  27. Kapitel 24
  28. Kapitel 25
  29. Kapitel 26
  30. Kapitel 27
  31. Kapitel 28
  32. Kapitel 29
  33. Kapitel 30
  34. Kapitel 31
  35. Kapitel 32
  36. Kapitel 33
  37. Kapitel 34
  38. Kapitel 35
  39. Kapitel 36
  40. Kapitel 37
  41. Kapitel 38
  42. Kapitel 39
  43. Kapitel 40
  44. Kapitel 41
  45. Kapitel 42
  46. Kapitel 43
  47. Kapitel 44
  48. Kapitel 45
  49. Kapitel 46
  50. Kapitel 47
  51. Kapitel 48
  52. Rezepte aus dem Roman
  53. Der Geburtstagskuchen der Jacksons
  54. Wendys bösartige Bananensmoothies
  55. Janices walisische Kekse
  56. Beccas Aufmunterungspfannkuchen
  57. Danksagung
  58. Die Autorin
  59. Impressum

LUCY DIAMOND

Nur einen Herzschlag entfernt

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Frauke Meier

Zu diesem Buch

Becca und Rachel sind keine richtigen Schwestern. Nur Stiefschwestern, was vor allem Rachel nie vergisst zu betonen. Tatsächlich könnten sie unterschiedlich er nicht sein. Ein liebender Ehemann, Kinder, eine steile Karriere – die erfolgreiche Rachel scheint alles zu haben, wovon Becca immer geträumt hat, während diese von einer Katastrophe in die nächste schlittert. Doch als Becca die Nachricht erhält, dass Rachel plötzlich verschwunden ist, lässt sie dennoch alles stehen und liegen. Sie macht sich auf den Weg nach Birmingham zu Rachels drei Kindern. Aber als Becca die Tür zum vermeintlich perfekten Leben ihrer Schwester aufstößt, wird schnell klar, dass hier nichts so ist, wie es scheint. Rachels Mann ist vor Monaten ausgezogen, und im Büro hat man seit einer Ewigkeit nichts mehr von ihr gehört. Becca beschleicht die dunkle Vorahnung, dass ihrer Schwester Schlimmes widerfahren sein muss. Sie macht sich auf die Suche nach einer Frau, die ihr selbst viel ähnlicher zu sein scheint, als sie dachte, und je näher sie Rachels Geheimnis kommt, desto deutlicher wird, dass einem das Glück oftmals näher ist, als man erwartet!

Dieses Buch ist für Lizzy und Caroline,

in Liebe und Dankbarkeit

KAPITEL 1

»Wir erreichen in Kürze Manchester Piccadilly Station. Von dort haben Sie Anschluss an Züge nach London Euston, Liverpool Lime Street und Edinburgh International. Der Zug hält in etwa zwei Minuten in Manchester Piccadilly Station. Alle Passagiere bitte aussteigen.«

Als der Zug den Bahnsteig erreichte, brach im Waggon hektisches Treiben aus: Taschen wurden aus den Gepäckfächern über den Sitzen gezerrt, eselsohrige Zeitungen auf den Plätzen zurückgelassen, Telefone in Taschen verstaut. Rachel Jackson war bereits einen Schritt weiter, stand in der Schlange vor der Tür und stolperte gegen eine Gepäckablage, als der Zug hart abgebremst wurde und ruckartig zum Stehen kam.

»Manchester Piccadilly, hier ist Manchester Piccadilly. Bitte alle aussteigen. Alle Passagiere bitte aussteigen.«

Das war’s. Sie hatte es geschafft. Adrenalin strömte durch ihren Körper, als die Türen entriegelt wurden und sich der Strom der hektisch drängenden Passagiere auf den Bahnsteig ergoss. Wie benommen folgte sie der Menge und merkte kaum, dass jemand ihr seinen Koffer an die Beine rammte. Hallo Manchester, dachte sie beim Aussteigen. Ich bin hier, weil ich ein paar Antworten brauche. Hast du welche für mich?

Verglichen mit Hereford kam ihr der Bahnhof riesig vor, ein höhlenartiges Gebilde, dessen Dach auf einem komplizierten Gitternetz aus Trägern und Streben ruhte. Um sie herum hallte die Stimme aus der Lautsprecheranlage. Es war Anfang Juni, und während der morgendlichen Fahrt zur Schule hatte es ausgesehen, als würde bald fahler Sonnenschein durch die Wolken sickern, doch nun war die Luft kalt, und Rachel zog den blassgrauen Cardigan fester um den Leib, als sie inmitten der anderen Reisenden den Bahnsteig hinunterging. Ihre Nerven kribbelten. Nun, da sie hier war, fühlte sie sich überfordert. Ihr Vorhaben kam ihr plötzlich so ungeheuerlich vor, es erschütterte sie mit der ganzen Gewalt zunehmend lauter und stärker werdender Trommelschläge. Wollte sie die Wahrheit überhaupt noch erfahren?

Ja, ermahnte sie sich eisern und schritt voran. Ja, das will ich. Nach all den Lügen, die ihr vorgesetzt worden waren, musste sie es wissen. Sie musste das durchziehen.

Vor den Drehkreuzen staute sich die Menge. Murren wurde laut. Eine Gruppe japanischer Touristen schien die Fahrkarten verloren zu haben, und ein älteres Paar versperrte den anderen Durchgang, weil ihr Einkaufstrolley an der elektronisch gesteuerten Schranke hängen geblieben war. Der Unmut war ansteckend, und Rachel spürte, wie ihr eigener Zorn zunahm. Kommt schon, kommt schon. Beeilt euch. Wenn sie noch lange hier herumstand, würde sie es sich womöglich doch noch anders überlegen. Sie musste in Bewegung bleiben, musste ihre Entschlossenheit behalten.

Endlich war sie an der Reihe. Mit klammen Fingern zog sie ihr Ticket durch und trat in die Haupthalle, in der bunter Trubel herrschte. Es wimmelte von Menschen, die Koffer schleppten, in Telefone bellten und zu ihren Zügen eilten. Eine Frau auf mörderisch hohen Highheels und mit einem Aktenkoffer rannte Rachel beinahe über den Haufen, scheinbar ohne es wahrzunehmen, denn sie hielt kaum inne. Ein Klingelton dröhnte aus den Lautsprechern, Mütter zerrten ihre kleinen Kinder mit sich, eine Gruppe skandinavisch aussehender Teenager mit riesigen Rucksäcken und beneidenswert gebräunten Beinen beugte sich eifrig diskutierend über eine Karte.

Rachel hatte das Gefühl, klein, still und anonym in der Masse unterzugehen, während sie nach Schildern Ausschau hielt, die ihr den Weg zum Ausgang und zum Taxistand weisen konnten. Meilen entfernt von den grünen Hügeln und dem Ackerland, das ihr Zuhause umgab, war hier niemand, der sie kannte oder auch nur ahnte, dass sie diese Reise gemacht hatte. »Ein Meeting«, hatte sie nur vage zu Sara von gegenüber gesagt, als sie sie gebeten hatte, Luke und Scarlet am Nachmittag von der Schule abzuholen. »Ich bin spätestens um fünf zurück.« Nur eine Stippvisite. Vom Zug aus hatte sie angerufen, um sich zu vergewissern, dass Violet an diesem Tag bei der Arbeit war. »Ja, sie ist da, ich stelle Sie durch«, hatte eine nette Dame zu ihr gesagt, aber Rachel hatte sofort mit wild klopfendem Herzen aufgelegt. Nein. Nicht am Telefon. Es musste von Angesicht zu Angesicht stattfinden, denn sie wollte der Frau in die Augen blicken und sich die ganze Geschichte anhören.

Oh Gott. Es war so beängstigend. Was würde Violet ihr erzählen?

Vielleicht sollte sie erst noch einen Espresso trinken, überlegte sie beim Anblick eines nahen Coffeeshops, von dem ein verlockender Duft von Zimt, Kaffee und Vanille ausging. Immerhin hatte sie mehr als genug Zeit, und sie konnte etwas brauchen, das sie dazu brachte, sich den letzten Ruck zu geben, den sie vielleicht noch brauchte. Ein Schluck kräftigen Kaffees, dann wäre sie bereit, mit dem Herumeiern aufzuhören, in ein Taxi zu steigen und diese Sache hinter sich zu bringen Pack es an, Kleines, wie ihr Dad zu sagen gepflegt hatte.

Sie stellte sich in der Schlange an. In ihrem Kopf herrschte wieder einmal ein wildes Durcheinander kummervoller Gedanken, die alle um den Zeitungsbericht kreisten, den sie entdeckt hatte. Und bei dem Gespräch nach der Bestattungsfeier für ihren Vater, mit dem diese ganze verworrene Geschichte angefangen hatte. Hat Ihr Vater … mich je erwähnt? Nun wünschte sie, sie wäre Violet nie begegnet. Und plötzlich kam es ihr überaus unbesonnen vor, dass sie hergekommen war. Was, wenn das alles gar keinen Sinn hatte?

Aus ihren Gedanken gerissen zuckte sie zusammen, als eine männliche Stimme hinter ihr sagte: »Entschuldigen Sie, Verehrteste?«

Während sie sich überrascht umwandte, packte auf der anderen Seite jemand ihre Handtasche. »Hey!«, schrie sie und versuchte hastig, die Tasche festzuhalten, aber im nächsten Moment versetzte ihr jemand von hinten einen Stoß, und sie verlor das Gleichgewicht und fiel, fiel, fiel …

Ihr blieb gerade genug Zeit, um vage wahrzunehmen, dass ihr die Handtasche entrissen wurde und jemand davonrannte, ehe sie mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Dann wurde es schwarz um sie.

»Sie ist was? Verschwunden?«, wiederholte Becca am Telefon und wandte sich von ihrer Mitbewohnerin ab, die am anderen Ende des Sofas saß und an den Saiten einer Laute herumzupfte. Meredith gehörte einer Gruppe an, die sich dem Lebensstil des Mittelalters verschrieben hatte, und verbrachte die meisten ihrer Wochenenden in dem entsprechenden Outfit. Das Lautespiel war ein neuer und unwillkommener Nebenaspekt ihres Hobbys. »Sagen Sie das bitte noch mal«, bat Becca und legte ihr angebissenes Stück Pizza weg, um sich besser auf das Gespräch konzentrieren zu können.

»Fünf Uhr, hat sie gesagt«, erklärte die Anruferin ein wenig atemlos und ziemlich ungehalten. »Fünf Uhr spätestens! Und jetzt geht sie nicht an ihr Telefon, die Kinder haben keine Ahnung, wo sie sein könnte … Ich meine, das passt einfach nicht zu ihr, nicht wahr? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Soll ich die Polizei rufen? Bei Ihnen ist sie nicht, oder?«

All diese Informationen zu verarbeiten, die wie ein Sperrfeuer auf sie einprasselten, fiel Becca nicht leicht, ganz besonders, solange Meredith unmelodisch vor sich hin musizierte. »Nein, bei mir ist sie nicht«, entgegnete sie, stand vom Sofa auf und ging durch den Raum zum »Küchenbereich«, wie ihr Vermieter die Kochnische recht euphemistisch genannt hatte. Mit der freien Hand fegte sie ein paar Toastkrümel von der Arbeitsplatte und gelobte im Stillen, morgen gründlich sauber zu machen. »Ich weiß nicht …«

»Na ja, es war Mabels Idee, dass wir Sie anrufen, das ist alles. Ich wusste einfach nicht, bei wem ich es sonst versuchen könnte! Wie es scheint, werden die Kinder nun wohl etwas länger als geplant bei mir sein, nur wollten Alastair und ich eigentlich ausgehen, und ich – ach, entschuldigen Sie, das ist mein Mann. Wir haben die Theaterkarten schon vor einer Ewigkeit besorgt, und ich weiß nicht, ob der Babysitter mit drei weiteren Kindern neben meinen beiden zurechtkommt. Außerdem können sie hier sowieso nicht schlafen. Alastair hat das Gästezimmer mit seiner Sportausrüstung belegt. Ich habe ihm gesagt, er soll das Zeug wegräumen, mehrfach, aber Sie wissen ja, wie Männer sind …«

Becca hielt das Telefon ein Stück vom Ohr weg. Die Frau – Sara, hatte sie gesagt? Oder Sandra? – hatte eine schrille Stimme und sprach sehr laut. Außerdem schien sie fähig zu sein, ununterbrochen zu reden, ohne zwischendurch Luft zu holen. Beeindruckendes Lungenvolumen, dachte sie und legte die gebrauchten Teebeutel neben die Spüle. »Ja«, sagte sie, als doch endlich eine Pause eintrat. Nach all dem wusste sie nicht recht, was sie sonst sagen sollte. Es war ja schön und gut, dass ihre Nichte Mabel der Frau ihren Namen genannt hatte, aber Becca hatte Rachel seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen. Die Beziehung zwischen ihr und ihrer Stiefschwester war nicht unbedingt so symbiotisch wie die siamesischer Zwillinge.

»Also, was meinen Sie, wann können Sie hier sein?«

Woah. Ohne Vorwarnung war Sara plötzlich zum Kern der Sache gekommen. »Dort sein? Was meinen Sie, warum …?« Mist. War das ihr Ernst? Beccas Schicht im White Horse begann in vierzig Minuten, und sie hatte noch nicht einmal ihren Tee getrunken, ganz zu schweigen davon, sich einigermaßen anständig zurechtzumachen.

»Mabel fand, wir sollten Sie anrufen. Sie wären die beste Wahl. Weil Sie doch zur Familie gehören und so. Sie sagte, sie kann sich um die beiden Kleinen kümmern, bis Sie hier sind. Sie kommen aus Birmingham, richtig? Dann könnten Sie innerhalb von … nun, in ungefähr einer Stunde in Hereford sein? Oder in anderthalb Stunden? Das dürfte klappen.«

»Na ja, theoretisch, aber …« Aber ich habe einen Job in einer stickigen Kneipenküche, in der ich heute Abend zu arbeiten habe, und, noch wichtiger, die Kinder kennen mich kaum. Sie verzog das Gesicht und wünschte sich, die Frau hätte nicht gesagt, dass Mabel sie für die beste Wahl hielt. Becca war von jeher anfällig für Komplimente. Ein nettes Wort, und sie fiel auf alles und jeden herein.

»Gott sei Dank! Ich sage es den Kindern. Mabel! Deine Tante ist unterwegs, okay? Nur für den Fall, dass eure Mum sich noch mehr verspätet.«

»Einen Moment«, versuchte Becca zu protestieren. Die Frau war wie eine Dampfwalze. Warum regierte sie nicht längst das ganze Land?

»Also, soll ich noch warten, ehe ich die Polizei rufe? Die werden mir wahrscheinlich sowieso sagen, dass ich erst vierundzwanzig Stunden abwarten soll, oder? Und sie ist ja eine erwachsene Frau. Es wird sie schon niemand entführt haben oder so was. Oje, das hätte ich nicht sagen sollen. Ich glaube, Luke hat mich gehört. Mach dir keine Sorgen, Schatz! Mummy geht es gut! Wahrscheinlich … ach, du weißt schon. Sie ist eben mit etwas anderem beschäftigt.«

Becca starrte zum Fenster hinaus auf die Hauptstraße vor dem Haus und ließ den Monolog, der in einem scheinbar unaufhaltsamen Strom durch das Telefon hallte, über sich ergehen. Das letzte Mal hatte sie Rachel vor dreizehn Monaten bei der Beerdigung ihres Dads gesehen. Damals hatten sie sich – gestelzt und floskelhaft – über das Büffett und den Ablauf des Gottesdiensts unterhalten. Becca war zu spät gekommen, der Verkehr war der reinste Albtraum gewesen. Beständig Entschuldigungen murmelnd hatte sie sich durch den Gemeindesaal ihren Weg zu Rachel bahnen müssen, die sie mit einem Blick empfangen hatte, der so vorwurfsvoll gewesen war, dass sich Becca sogar bei der bloßen Erinnerung noch die Fußnägel kräuselten. Ihre Nichten und ihren Neffen hatte sie sogar noch länger nicht mehr gesehen – eineinhalb Jahre, schätzte sie; Weihnachten bei Mum und Dad. Luke musste fünf gewesen sein, dunkles Haar, umwerfende schwarze Wimpern, die veilchenblaue Augen umrahmten, und schüchtern gegenüber jedem mit Ausnahme seiner Mutter. Nicht einmal Lawrence, Rachels sanfter, selbstsicherer Mann, konnte ihn aus der Reserve … Augenblick mal.

»Einen Moment«, sagte sie erneut, dieses Mal aber lauter. Natürlich, danach hätte sie gleich fragen sollen. Es war verrückt, dass sie sich schon so lange unterhalten hatten, ohne dass sie gefragt hatte. »Wo ist denn Lawrence? Kann er nicht die Stellung halten, bis Rachel zurück ist?«

Plötzlich schwieg Sara, und eine sonderbare, angespannte Stille trat ein. »Lawrence?«, wiederholte sie dann mit einem nervösen Lachen. »Nun ja … Lawrence ist Ende letzten Jahres ausgezogen. Sie haben sich getrennt. Wussten Sie das nicht?«

KAPITEL 2

Einige Stunden zuvor

»Hallo, können Sie mich hören? Ich glaube, sie kommt zu sich, Jim. Können Sie mich hören, Schätzchen?«

Rachel schlug die Augen auf und starrte direkt in das Gesicht einer Frau, deren maisblondes Haar zu einem seitlichen Zopf geflochten war und die eine grüne Uniform trug. Himmel, ihr Kopf tat weh. Hämmerte, als wollte er platzen. Der Geschmack von Blut lag auf ihrer Zunge, metallisch und warm, und der Geruch eines Desinfektionsmittels kribbelte in ihrer Nase. Was um alles in der Welt …?

»Na also! Hallo, ich bin Cathy, Rettungssanitäterin, und wir sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Erinnern Sie sich, was passiert ist?«

Sie lag auf einer schmalen Pritsche und konnte einen Motor hören. Krankenwagen, dachte sie benommen. Ihr Kopf schmerzte. Ihr Kinn auch. Unfähig, den Vorgängen um sich herum einen Sinn abzuringen, schloss sie die Augen wieder. Nur ein seltsamer Traum. Schlaf einfach weiter. Das war das, was sie ihren Kindern immer sagte, wenn sie mitten in der Nacht erwachten.

»Sie waren bewusstlos, meine Liebe. So, wie es sich angehört hat, wurden Sie niedergeschlagen. Ein paar Strolche haben sich im Bahnhof Ihre Handtasche geschnappt und sind geflüchtet. Erinnern Sie sich?«

Die Frau sprach mit einem nördlichen Akzent, wie Rachel benebelt erkannte. Wie in Coronation Street. Dads Lieblingssendung. Was war das noch – Handtasche? Bahnhof? Das ergab keinen Sinn. Wo war ihre Handtasche überhaupt? Sie hatte ihre Schlüssel in der Handtasche. Die brauchte sie doch, um ins Haus zu kommen. Schlüssel zur Tür. Tür zum Schlüssel. Wie war das noch?

»Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus, weil Sie mehrere Minuten bewusstlos waren und Ihr Gesicht ziemlich was abbekommen hat, ja? Versuchen Sie, stillzuhalten. Können Sie mir Ihren Namen verraten?«

Rachel blinzelte. Ihr Name. Ja. Sie versuchte, den Mund zu öffnen, um der Frau zu antworten, doch ein sengender Schmerz breitete sich in ihrem Kinn aus, und sie brachte lediglich ein Stöhnen zustande. Ihr Gesicht pulsierte. Ihr ganzer Körper tat weh. Und da war ein unerbittliches, hohes, durchdringendes Klingeln in ihren Ohren. War das ein Traum? Es musste einer sein. In Wahrheit lag sie wohlbehalten zu Hause im Bett, und das alles war nur ein eigenartiger Traum. Schlaf weiter.

»Okay, vergessen wir das erst mal. Wir sind beinahe da«, hörte sie die Frau sagen. Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, so, als wäre sie am anderen Ende eines Tunnels oder auf der anderen Seite einer belebten Straße. Rachel dachte an die Titelmusik von Coronation Street und daran, wie ihr Vater immer die Treppe hinaufgerufen hatte, wenn die Sendung begonnen hatte. Die traurigen Klänge. Die rote Katze im Vorspann, die immer an einer Wand entlangtapste. Sie hatte sich mit Dad in behaglichem Schweigen auf das alte braune Sofa gekuschelt und eine Cola getrunken, während er sich an einen Whisky Mac gehalten hatte.

Und dann wogte die Schwärze wieder auf und hüllte sie ein, und alles andere verschwand einfach.

»Wir sind kurz nach halb zwölf vor Ort eingetroffen. Man berichtete uns, die Dame sei im Bahnhof von ein paar Taschendieben zu Boden gestoßen worden. Sie hat keinen Ausweis, und wir kennen ihren Namen nicht. Als wir dort ankamen, war sie laut Zeugen schon seit einigen Minuten nicht ansprechbar. Allerdings ist sie im Krankenwagen kurz zu sich gekommen, wirkte aber verwirrt. Verdacht auf einen Bruch des Kiefers und möglicherweise des Wangenknochens. Ihr Handgelenk ist eindeutig gebrochen …«

Die Frau redete wieder. Sie hatte eine volltönende, freundliche Stimme und einen reizenden Akzent. Rachel fragte sich, wer wohl die arme Frau war, über die sie sprach, ehe sie mit Schrecken erkannte, dass sie diese Frau sein musste. Panisch riss sie die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Ärzte, Schwestern, die blonde Frau in Grün, alle beugten sich über sie wie Figuren aus einem Albraum.

»Hallo«, sagte einer der Ärzte, als er sah, dass sie wach war. Er war drahtig, hatte braune Haut, einen rasierten Schädel und sanfte braune Augen. »Wie heißen Sie, können Sie uns das sagen?«

Wieder klappte sie den Mund auf und versuchte zu sprechen, doch auch dieses Mal erlitt sie rasende Schmerzen, die ihr die Luft nahmen, als hätte sie einen Stromschlag erlitten. »Uh …«, war alles, was sie herausbrachte. Warmes, salziges Blut klebte an ihren Lippen.

Rachel, wollte sie sagen. Ich bin Rachel. Als sie die Worte dachte, lichtete sich die Schwärze, die ihren Kopf ausfüllte, ein wenig, so wie Rauch, der sich allmählich auflöste. Mutter von Mabel, Scarlet und Luke, daran erinnerte sie sich, und sie ordnete jede kleine Erkenntnis wie die Teile eines Puzzles. Neununddreißig Jahre alt, Geburtstag am fünften November. Dads kleines Feuerwerkskind, wie er immer gesagt hatte.

»Keine Sorge, wir geben Ihnen etwas Morphin, das lindert die Schmerzen«, sagte jemand, und sie schloss die Augen und fühlte sich ausgezählt und machtlos. Sie begriff immer noch nicht, was sie hier machte. Wenn es darum ging, was passiert war und wie sie in diese Lage geraten war, klaffte ein Loch in ihrer Erinnerung, bodenlos und leer. Was immer vorgefallen war, blieb ein Mysterium. Sie erinnerte sich vage, dass die blonde Frau etwas über einen Bahnhof gesagt hatte, aber wo?

Das Merkwürdigste war, dass die Leute alle mit einem Akzent aus dem Norden sprachen, bis auf die Krankenschwester mit den dunklen Locken, die in einem breiten Glasgow-Dialekt zu ihr sagte: »Achtung, gleich piekst es!« (Von wegen, es piekst, dachte Rachel, bemüht, nicht aufzuschreien. Das war eher ein brutaler Stich.) Ihr war, als wäre sie in eine andere Welt versetzt worden. In eine verworrene, schmerzhafte Welt, in der nichts einen Sinn ergab.

Dann spürte sie, wie sich das Morphin einen Weg durch ihren Körper bahnte, während sie geröntgt und untersucht wurde, und es fühlte sich an, als würde sie ganz langsam durch Wasser sinken; tiefer und tiefer hinab in den Ozean. Die Ärzte sprachen leise und gerade außer Hörweite miteinander. »Spüren Sie das?«, fragten sie und stupsten hier und piekten da. »Wie ist es damit? Oh, sie ist wieder weg.« »Hallo? Können Sie mich hören? Ich bin Geraldine, die Assistenzärztin, und ich muss ihnen ein paar dumme Fragen stellen. Erinnern Sie sich an Ihren Namen?«

Natürlich erinnerte sie sich an ihren Namen! Sie war doch kein Idiot. Sie war eine Mutter, eine Ehefrau. Oh, einen Moment. Eine Exehefrau. Mist. Das war alles so ein Durcheinander. Wie spät war es überhaupt? Sie musste los, um vor drei ihre Kinder abzuholen; Mabel war inzwischen alt genug, um allein oder mit ihren Klassenkameraden nach Hause zu gehen, aber Scarlet und Luke holte sie immer noch jeden Tag von der Grundschule ab. Ihre Gesichter schwebten wie in Wasser durch ihr getrübtes Bewusstsein; sie mussten krank vor Sorge sein, wenn sie nicht dort wäre. Wo ist Mum?

Die Vorstellung erfüllte Rachel mit Panik, und sie zwang sich, sich durch den Morphinnebel zu kämpfen. »Meine Kinder«, versuchte sie zu der Frau neben ihrem Bett zu sagen, aber ihre Stimme funktionierte nicht, und die Laute kamen verzerrt und falsch über ihre Lippen. Es war entsetzlich. Wie ein zutiefst verstörender Traum. Hatte sie einen Schlaganfall erlitten? Warum war alles so sonderbar? Helft mir!, versuchte sie mit den Augen zu sagen. Hilfe!

»Sie sollten vorerst nicht versuchen zu sprechen«, riet ihr die Frau sanft. »Ich fürchte, Sie haben sich den Unterkiefer und den Wangenknochen gebrochen, und Sie haben eine riesige Beule am Kopf. Wir nehmen an, dass Sie auch eine Gehirnerschütterung haben, wenn Ihnen also alles etwas seltsam vorkommt, dann ist das der Grund.« Während Rachel das Gesicht der Frau anstarrte, verdreifachte es sich, und jede Version zeichnete sich durch die gleichen grünen Augen und die gleichen Lippenbewegungen aus. Als würde sie es durch ein Prisma betrachten. Eines dieser Spielzeuge für Kinder mit den funkelnden bunten Steinchen am Ende. Teleskop – nein. Periskop – nein. Dieses Ding eben. Wie hieß es noch? Das Wort war außer Reichweite entschlüpft. Denk nach, Rachel. Denk nach!

»Uhh«, stöhnte sie zur Antwort. Das entwickelte sich allmählich zu ihrer Standardäußerung.

Sie wurde auf einer Trage durch hell erleuchtete Korridore geschoben. Lichter flackerten über ihrem Kopf. Nachtclubs, dachte sie. Stampfende Musik. Heimgehen und sich in die Schuhe von Stiefmutter Wendy übergeben. Ich bin zutiefst enttäuscht von dir, Rachel!

Wendy, dachte sie zusammenhanglos. Sie waren nie miteinander zurechtgekommen. Du bist nicht meine Mum!, hatte sie bei jedem Streit gebrüllt. Und … Oh. Etwas machte Klick in ihrem Kopf. Das Bild eines kalten Bahnsteigs drang in ihr Bewusstsein. Sie hatte in ihren schicken, drückenden Schuhen dagestanden, hatte mit der Fahrkarte in der Hand gewartet. Manchester Piccadilly, intonierte eine Stimme. Bitte alle aussteigen.

Ich bin hier, weil ich ein paar Antworten brauche.

Schrecken ergriff Besitz von ihr, als sie den Zusammenhang herstellte. Sie war in Manchester. So war das. Manchester! Weit entfernt von zu Hause, weit entfernt von ihren Kindern. Wer holte sie von der Schule ab, wenn sie in Manchester war? Es war, als müsste sie bei dem Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen, durch Sirup waten, doch dann tauchte eine verschwommene Erinnerung an einen Wagen voller Stimmen auf; Saras Kinder, dachte sie und runzelte die Stirn. Ja – und Sara würde im Gegenzug Scarlet und Luke abholen. Aber wie sollte Rachel nun von hier aus wieder nach Hause kommen? Sara würde sie umbringen, wenn sie nicht wie vereinbart bis fünf zurück wäre – sie würde sie buchstäblich mit ihren perfekt manikürten Händen erwürgen.

Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle, und sie versuchte, sich in eine sitzende Position aufzurichten. Sie musste nach Hause. Sie musste jemandem sagen, er möge Sara anrufen!

Die Schaukelbewegung der Trage hörte auf, und eine Krankenschwester tauchte neben ihr auf. Die Frau aus Glasgow, dachte sie, als sie die dunklen Locken erkannte. »Also schön, Liebes, bleiben Sie einfach liegen, genau«, sagte sie beschwichtigend. »Wir sind auf dem Weg zur Station. Dort machen wir es Ihnen bequemer, einverstanden? Jetzt schließen Sie für eine Weile die Augen und versuchen Sie, sich auszuruhen.«

Unter ihr klickte etwas, und dann drehten sich die Rollen leise quietschend; die Trage bewegte sich wieder. Die Decke sauste schwindelerregend über ihr vorbei, und die Leuchtstoffröhren hinterließen in ihrem Kopf orangefarbene Spuren, wann immer sie die Augen schloss. »Gut so, meine Liebe, schlafen Sie ein bisschen«, schwebte die Stimme der Schwester aus der Ferne herbei. »Sie müssen sich gar keine Sorgen machen.«