Rich Schwab

Paaf!

– Der vierte Büb Klütsch-Roman –

FUEGO

– Über dieses Buch –

Juli 1986, zwölf Wochen nach Tschernobyl. Die Grünen und die Anti-Atom-Bewegung triumphieren: Das große Pöckensdorfer Anti-Atom-Festival, kurz Paaf!, kann stattfinden – alle behördlichem Hürden sind genommen. An die hunderttausend Protestpilger werden erwartet, und in dem beschaulichen Dörfchen in der Oberpfalz ist der Teufel los. Nicht nur dort – natürlich wollen etliche Geschäftemacher auf den Zug aufspringen, und nicht zuletzt versuchen diverse politische Gruppierungen – und der Verfassungsschutz – ihr eigenes Süppchen zu kochen.

Das könnte Büb Klütsch und seiner Band Penner's Radio ziemlich wurscht sein, sie sind froh, dabei zu sein und geben natürlich alles, um vor dieser Kulisse ein denkwürdiges Konzert hinlegen – da macht es am dritten Festivaltag wirklich Paaf!, und hinter der Bühne gibt es einen Toten. Wieder einmal stolpert Schlagzeuger Büb, gewohnt selten nüchtern, in seinem vierten Abenteuer durch ein kaum durchschaubares Dickicht von politischen Ränken und kriminellen Machenschaften – und das, wo doch sein Kopf und sein Herz mit ganz Anderem beschäftigt sind …

Vorspann

Wenn in einer Beziehung erst mal das Vertrauen zerstört ist,

macht das Lügen keinen Spaß mehr.

Norm (»Cheers!«)

 

Hann isch disch jemols belore, Liebsche?

Opa Klütsch

 

Isch will et jaanit wesse.

Oma Klütsch

 

Na, siehste!*

Opa Klütsch

 

Wie immer gibt es am Ende des Buchs ein Glossar, wo Dialekt- und Fremdsprachenstellen und Urheberangaben nachgeschlagen werden können – die Sternchen [*] im Text führen Sie dorthin.

Prolog

Zamuschnija, Samstag, 26. April 1986

 

»Gori!«

Gregori Balakow stöhnte. Sehr unwillig verabschiedete er sich von der Hochzeit seines jüngsten Sohnes Simyon, obwohl die Feier schon drei Tage und Nächte andauerte und er sich bereits mehrmals in die Büsche hinterm Haus geschlagen hatte, um sich einen Finger in den Hals zu stecken und in seinem Körper Platz für neue Blini, Aalstücke, Butterwürfel und, vor allem, neuen Wodka zu schaffen. Ein Traum von einer Hochzeit, auch wenn Gregori länger als ein Jahr würde schuften und sparen müssen, um den Kredit abzubezahlen, den er dafür aufgenommen hatte. Aber Simyon war schließlich nicht nur sein jüngster, sondern auch sein einziger Sohn; die anderen beiden waren im Kessel von Stalingrad geblieben, für immer begraben unter Bergen von Kameraden.

»Was ist, Mama?«, raunzte er seine Frau an. Gerade hatte er noch mit ihr getanzt, hatte sie übermütig über den Hof geschleudert, schweißüberströmt, berauscht von der Freude über das Glück seines Sohnes, das Glück, das Lioba und er, trotz allem, als Eltern und als Großeltern hatten, berauscht von den wild galoppierenden Klängen der Hochzeitskapelle, von Wein, Bier und Wodka, von den Ausdünstungen der Frau in seinen Armen …

Ein Traum. Die Hochzeit war neunzehn Jahre her, sein Enkel Mischa weit weg auf der Polizeischule in Kiew.

Die Frau, die jetzt, wie fast jede Nacht seit zweiundsechzig Jahren, auf seinem linken Arm lag, ließ nicht locker.

»Gori«, flüsterte sie wieder eindringlich. »Da ist was. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Hör dir Soro an!« Nun drang es auch zu Gregori durch. Draußen knurrte der Hund, und seine Pfoten tapsten und kratzten auf dem Beton des Hofs, weil er unruhig hin und her lief. So gar nicht seine Art, er war fast so alt wie der Enkel. Ächzend wälzte Gregori sich aus dem Bett, seine mageren nackten Füße suchten auf dem kalten Dielenboden nach den Pantoffeln.

»Ich seh’ nach, Mama«, sagte er.

»Zieh dir was an«, sagte sie. Das hätt’ ich sowieso, dachte Gregori. Schon weil meine Zigaretten im Morgenrock stecken. Lioba sah es nicht mehr gern, wenn er rauchte. Seine Hustenanfälle machten ihr Sorgen – jeden Morgen, jeden Abend, fast konnte man die Uhr nach ihnen stellen. »Ach, Lili«, pflegte er zu sagen. »Im nächsten Jahr werd’ ich neunzig – da hör’ ich doch jetzt nicht mehr damit auf.«

Er schlich aus dem Alkoven, in dem ihr Bett stand, nahm den zerschlissenen Morgenmantel vom Haken im Durchgang, zerschlissen, aber warm – Lioba hatte ihn vor Jahren aus einer alten Steppdecke genäht –, zog ihn an, stieß sich wie jeden Morgen seit neun Jahren an dem neuen Tischchen, auf dem das Radio stand, das Simyon und seine Ludmilla ihm zum Achtzigsten geschenkt hatten, den linken Zeh an und fluchte leise in sich hinein.

Draußen winselte der Hund. Gregori runzelte die Stirn. Das einzige, was dem Köter normalerweise Angst machte, war Liobas Katze, besonders wenn sie gerade mal wieder geworfen hatte. Und Gregoris Zorn, natürlich, aber den hatte er nur in seinen Flegeljahren gelegentlich zu spüren bekommen; Bauer Gregori war ein sanfter Herr, sogar wenn sie samstags vom Markt in Pripjat zurückkamen. Wenn Gregori genug Kartoffeln, Mangold, Zwiebeln, Eier und Sonnenblumenkerne verkauft hatte, genehmigte er sich gerne ein Gläschen mit den anderen Bauern aus der Umgebung; dann schlenkerte sein Fahrrad mit dem Anhänger hinten dran zwar oft gefährlich auf den Feldwegen hin und her, und mehr als einmal war er im Graben gelandet, aber nie ließ er seinen Ärger an seinem Hund aus, wie so viele der anderen. Nein, Gregori lachte, stand nach einem weiteren kräftigen Schluck aus der Flasche wieder auf und sang auf dem Heimweg alte ukrainische Lieder; Lieder, die man seit dem Krieg eigentlich besser nicht mehr singen sollte in der glorreichen Sowjetunion – Balladen, voller Sehnsucht nach den alten Tagen.

Es war kalt, als Gregori die Tür zum Hof öffnete. Auf den Äckern von Zamuschnija glitzerte silberweiß der Reif, und in den Senken lagen noch Schneeflecken. Als der Hund die Tür knarren hörte, kam er angelaufen, die Rute zwischen den Hinterläufen, den Bauch fast am Boden schleifend, die Ohren ängstlich angelegt. Er drängte sich zwischen Gregoris Beine, als sei ein Bär hinter ihm her. Oder der Leibhaftige.

»Was ist los, mein Alter?«, brummte Gregori. »Es gibt keine Bären mehr hier. Und der Leibhaftige sitzt in Moskau und trinkt französischen Champagner.« Der zottelige rote Hund hob seinen Kopf und jaulte auf. Dann lief er zum Rand des kleinen Hofs, blieb am Rain des Sonnenblumenfelds stehen und bellte heiser, zweimal, dreimal, dann kam er wieder zurück gekrochen und drückte sich erneut an Gregoris Beine.

Der alte Bauer horchte, versuchte zu erkennen, was sich zwischen den Sonnenblumen verbarg oder vielleicht dahinter – aber es wehte fast kein Wind, die Pflanzen standen still. Was dahinter sein mochte, war nicht zu erkennen – Liobas Sonnenblumen wuchsen über zwei Meter hoch, mit Stängeln so dick wie ein Männerarm. Aber …

»Verdammt«, murmelte Gregori. Der Himmel. Über seinen Feldern war er blauschwarz, gesprenkelt mit Sternen. »Papa, wie viele sind es?«, hatte der kleine Simyon immer wissen wollen, wenn er abends auf der Bank vor dem Häuschen saß, müde in den Schoß seines Vaters geschmiegt. »Zähl sie«, hatte Gregori geantwortet. Und verlässlich war der Kleine darüber eingeschlafen.

Heute hätte er es vielleicht geschafft. Obwohl der Himmel sich wolkenlos über die Ebene spannte, waren nicht viele Sterne zu sehen. Denn im Osten, über den Sonnenblumen, breitete sich ein rötlicher Schein aus. Ein flackernder Schein, ein Zucken wie von Waldbränden.

Aber im Osten war kein Wald, nicht auf dieser Seite des Dnjepr.

Und um halb zwei in einer Aprilnacht geht noch keine Sonne auf.

Gregori holte seine Zigaretten aus der Tasche des Morgenrocks und zündete sich eine an. Er ging die fünfzig, sechzig Schritte bis zum Ende des Sonnenblumenfeldes, seine Pantoffeln schlappten. Soro, dicht an seiner Seite, schien sich nicht entscheiden zu können, ob er winseln oder böse knurren sollte.

Die Haustür knarrte wieder.

»Was ist, Gori?«, hörte Gregori seine Frau rufen, als er bei den Kartoffeln angekommen war. »Gori?«

»Ich bin hier«, rief er. Hinter sich hörte er ihre nackten Füße auf dem Lehm tapsen. Sie hatten nur ein Paar Pantoffeln – wann standen sie schon beide gleichzeitig mitten in der Nacht auf?

»Was ist los?«, fragte sie, in ihrem Flanellnachthemd vor Kälte schaudernd.

»Die verdammte Fabrik«, sagte Gregori und deutete nach Osten.

»Mein Gott«, keuchte Lioba und schlug die Hand vor den Mund. Keine fünf Kilometer vor ihnen war der Ursprung des hellen Scheins zu sehen. Flammen, Funkenregen und Rauch. Eine Feuersäule, die höher zu sein schien als der Reaktor des Kraftwerks von Tschernobyl; und der war dreimal so hoch wie der Kirchturm von Zamuschnija. »Gori, was ist das?«

»Die verdammte Fabrik«, sagte Gregori wieder. Er hatte sie von Anfang an gehasst und nie anders genannt, die Fabrik und das hässliche Monstrum von Stadt, das sie für die Arbeiter dort und ihre Familien in die Landschaft geklotzt hatten. Er hatte schon zu Beginn der Bauarbeiten vor bald dreißig Jahren den Kopf geschüttelt und dem Ungeheuer – und seinen Nachbarn – Unheil prophezeit. Gregori hatte nie verstanden, was dort geschah, wozu die verdammte Fabrik überhaupt gut war, egal wie oft Simyon versuchte, es ihm zu erklären. Er begriff nicht, was Radionukleide sein sollten und wieso die nichts mit Simyons Radio zu tun hatten. Er hatte nur immer schon gespürt, dass was immer dort stattfand, was immer dort produziert wurde, nicht gut für sie alle war. Da konnten ein paar Nachbarn, die regelmäßig im Pripjat angelten, ihm noch so begeistert erzählen, dass die Fische immer größer wurden, seit das Kühlwasser aus dem Kraftwerk in den Fluss geleitet wurde.

»Mein Gott«, sagte Lioba wieder. Sie zitterte am ganzen Leib. Obwohl Gregori wusste, dass es nicht nur die Kälte war, zog er seinen Morgenrock aus und hängte ihn ihr über die knochigen Schultern. Dankbar und ängstlich drückte sie seine Hand.

Dann hörten sie die Sirenen, sahen Dutzende von blauen und gelben Lichtern die Landstraße von Pripjat nach Teschernobyl entlang blitzen.

»Geh ins Haus, Lili«, sagte Gregori sanft. »Sie wissen schon Bescheid.« Aber Lioba konnte sich von dem Anblick nicht lösen.

»Du hast es immer gesagt«, flüsterte sie.

»Ich hab’ es immer gesagt«, bestätigte Gregori. »Aber glaub nicht, dass ich froh bin, recht gehabt zu haben.«

»Nein«, sagte sie und drückte wieder seine Hand. »Das weiß ich.« Dann schrie sie auf, und Gregori zuckte zusammen. Soro kniff den Schwanz ein, verschwand jaulend wieder im Hof und drückte sich an die Hauswand. Das Grollen einer Explosion war über die Felder gefegt wie ein Schneesturm. Über dem Kraftwerk schoss eine blau glühende Stichflamme in den Nachthimmel, ihr Widerschein legte sich über die Landschaft wie das überirdische Licht auf den Bildern von Bethlehem in Simyons Adventskalendern. Für einen Augenblick wurde die Nacht so hell, war das Licht so nah, dass Lioba und Gregori die Hitze der Flammen auf ihren Gesichtern zu spüren meinten.

»Komm«, sagte er geblendet. »Komm ins Haus. Wir können nichts tun.«

»Ja«, sagte Lioba und rieb über das raue Unterhemd an seinem Rücken. »Du erkältest dich noch.«

Sie gingen zurück zum Haus, begleitet vom fernen Jaulen der Sirenen, dem pfeifenden Winseln des Hundes, dem ratlosen, aufgeregten Gegacker aus dem Hühnerstall; ein altes Ehepaar, seit zweiundsechzig Jahren verheiratet, in all der Zeit nur getrennt die paar Wochen, als der junge Gregori sich in den Wäldern von Zamuschnija verborgen hatte, um nicht in einen Krieg ziehen zu müssen, der ihn nichts anging. Was er oft genug in seinem Leben bereut hatte – war nicht der Verlust seiner beiden Söhne in dem Krieg danach der Preis dafür gewesen, ein bei Gott viel zu hoher Preis?

»Gut, dass der Junge in Sicherheit ist«, sagte Gregori.

»Ja«, sagte seine Frau. »Und der kleine Mischa. Vielleicht sollten sie besser doch nicht zur Maifeier herkommen?«

»Ach«, sagte er. »Bis dahin …«

Als Gregori Balakow hinter seiner Frau die Tür der Kate schloss, sie noch einmal mit der Hüfte kräftig ins Schloss drückte, wusste er nicht, dass sie beide soeben schon gestorben waren.

Sie würden ihren Sohn nie wieder sehen, auch ihren Enkel nicht, und ihren Urenkel überhaupt nie.

Sie konnten auch nicht wissen, zum Glück würden sie es nie erfahren, dass Simyon einer der ersten von insgesamt achthunderttausend so genannten Liquidatoren sein würde, die ohne Schutzkleidung und Gasmasken, ohne auch nur einen Schimmer einer Ahnung, wozu sie da verdammt waren, mit Schaufeln und Spitzhacken tonnenweise radioaktiven Schutt zusammenräumen würden. Dass ihr dritter Sohn sie um gerade mal drei Monate überleben würde. Und dass er es aber in diesen drei Monaten geschafft haben würde, ihnen eine Enkeltochter zu schenken – Lioba Anna, die, gerade einmal vier Jahre alt, an Leukämie sterben würde.

1 - Martina

 

Bonn, Dienstag, 15. Juli 1986

 

»Wir sind drin, Kinners! Wir sind dri-hin!«, quietschte Martina Esser-Steinecke und wirbelte mit wippenden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen durch die Tür des verqualmten Büros. Zum ersten Mal seit vier Wochen betrat sie den Raum, ohne gleich wild mit den Händen durch die Luft zu wedeln und mindestens ein weiteres Fenster zu öffnen. »Der Alte hat’s geschafft!«

»Welcher Alte?«, brummte Rainer Kolbe und zündete sich an einem elf Millimeter langen Zigarettenstummel eine neue an. Wahrscheinlich die achtzigste heute. Um sechs Uhr nachmittags. »Und wo drin?«

»›Welcher Alte!‹«, grunzte Sabine Illenberger. »Kann doch nur der olle Kriegel sein. Oder?«, wandte sie sich an Martina.

»Na klar«, jauchzte die.

»Und wo drin?«, wiederholte Sabine.

»Na, in der Taaaagesschau!«

»In der Tagesschau?«, echoten ihre beiden grünen Parteigenossen. Ähem, GenossInnen.

»Ja, Kinners!«

»Scheiße!«, hustete Kolbe und pustete Zigarettenasche von seinem Faxgerät. »Da reißen wir uns wochenlang den Arsch auf und kommen keinen Millimeter weiter …! Und dann kommt der alte Sack …«

»He, he«, senkte Esser-Steinecke ihre Stimme und schloss rasch die Tür. »Du redest von unserem Außenminister!«

»Kommt der alte Sack«, fuhr Kolbe ungerührt fort, »und reißt die ganze Chose an sich …«

»Und plötzlich geht alles«, ergänzte Illenberger. »Landrat kusch, Festival genehmigt, und Kriegel als Retter von Demokratie, Kultur und Demonstrationsfreiheit in der Tagesschau.«

»Und kein Sekt mehr im Haus«, tönte Esser-Steinecke dumpf, den Kopf halb in dem Kühlschrank in der Ecke, den man aber dank ihres ausladenden Hinterteils in dem gelb-braun gefleckten Wickelrock nicht sehen konnte.

»Ja-huuu!«, schrillte Illenberger plötzlich, als es ihr gedämmert hatte, sprang auf und küsste Kolbe auf die rötlichen Afro-Locken. Dann wirbelte sie herum, fasste Esser-Steinecke an beiden Händen und tanzte mit ihr einen Rock’n’Roll durch das Büro. Was für Ärsche! dachte Kolbe wieder einmal und grinste in sich hinein. Die eine versucht ihre Kiste mit mehreren Quadratmetern Zuwickeln zu verstecken, und die andere presst ihre kess in eine reichlich unförmige lila Latzhose. Aber dann gestattete auch er dem Grinsen, sich in seinem Gesicht breit zu machen, öffnete seine unterste Schreibtischschublade und knallte eine dunkelgrüne Flasche ohne Etikett auf den Tisch.

»Wennscht koi Sekt im Haus net hoscht, na hilf d’r mit’m Traubemoscht«, dichtete er, kippte einen Kaffeerest in einen Papierkorb und füllte die Tasse bis zum Rand mit der klaren Flüssigkeit aus der Flasche.

»Puh!«, machte Esser-Steinecke, als ihr der strenge Geruch des Tresters in die Nase stieg. »Von dem Zeug werd’ ich doch gleich wieder betrunken!« Aber ihre Augen glänzten gierig, und auf ihren Wangen breiteten sich rote Flecken der Vorfreude aus.

»Auf Paaf!«, sagte Kolbe und nahm den ersten Schluck.

»Auf Paaf!«, echote Sabine Illenberger, nahm die Tasse entgegen und einen kräftigen zweiten Schluck.

»Auf Kriegel!«, sülzte Esser-Steinecke und kippte den Rest in sich hinein, dabei den Kopf in den Nacken werfend wie ein alter Thekensteher.

»Was wird denn hier gefeiert?«, fragte Alexander Zoller, von allen nur Sascha genannt, von der Tür her. Er lehnte bloß am Türrahmen, aber die drei im Zimmer hatten sofort das Gefühl, als fülle er die Mitte des Raumes. Dabei war er nicht einmal besonders groß oder gar dick – ein untersetzt stämmiger Typ in ausgefransten Jeans und hohen schwarzen Boxerstiefeln mit roten Schnürsenkeln, braune Haarwellen wirr über der Stirn und dem hochgeschlagenen Kragen seiner obligaten abgewetzten, schwarzen Lederjacke, die er schon in seiner Zeit als Gießener Taxifahrer Tag und Nacht getragen hatte. Aber auch ohne die hatte seine Ausstrahlung etwas Bestimmendes, fast Bedrohliches – Illenberger hätte, wäre sie ihm nachts begegnet, die Straßenseite gewechselt.

Sie erzählten ihm, was gefeiert wurde, eifrig, abwechselnd und gleichzeitig, zwischendurch immer wieder die Tasse auffüllend, bis die Flasche leer war und Kolbe sich noch einmal bücken musste, um die zweite aus seinem Geheimfach zu buddeln.

 

Na ja, hatten sie sich verdient, eigentlich. Fand sogar Zoller, der ansonsten beim Thema Alkohol im Dienst gerne seine protestantisch-cholerische Ader raushängen ließ. Auch wenn er sich selbst im Pallament, dem Bonner Treffpunkt linker Politik, zweimal die Woche bis zur Besinnungslosigkeit die Kante zu geben pflegte. Gerade deswegen, wahrscheinlich.

Sie hatten es also geschafft, wenn auch nur dank der Einmischung des alten Walter Kriegel – Außenminister, Doyen und Aushängeschild der Liberalen. Fast zwei Monate lang hatte der CSU-Landrat von Scherdorf ihnen einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine geworfen und ihnen die Genehmigung für das geplante Anti-Atom-Festival in Pöckensdorf verweigert. Selbst die große Feuerwehrdelegation, mit Helfried Broth, Ming Tant, Frieda Berlin, Rollo Becker und Doppeldoktor Dietmar Dörmann, ein paar Anwälten und ihrem designierten Parteivorsitzenden Sascha Zoller hatte bei einem Treffen in Regensburg auf Granit gebissen.

Der Reaktorunfall von Tschernobyl war drei Monate her. Martina Esser-Steinecke, Sabine Illenberger und Rainer Kolbe hatten sich in den letzten Wochen im Souterrain des Grünen-Büros am Telex-Ticker die Nächte um die Ohren geschlagen, einen Verteiler über die Grünen-Kreisverbände aufgebaut und, nicht zuletzt dank der fleißigen konspirativen Mithilfe eines Sympathisanten im Forschungszentrum Jülich, quasi stündlich die neuen Becquerel-Werte an aufgeschreckte Basis und empörte Bevölkerung durchgegeben. Und hatten dadurch die Grünen in den Wählerumfragen weit nach vorne katapultiert – während Bayerns Innenminister Zimmermann immer noch beharrlich tönte, das alles sei doch völlig harmlos und ungefährlich und reine Panikmache der neuen Außenseiter-Partei.

 

Und jetzt Kriegel, der alte Taktierer. Hatte das ganze Projekt an sich gerissen und Order von ganz oben gegeben. Die Zimmermänner schäumten, waren aber machtlos – im Grunde hatten sie die ganze Republik gegen sich, nicht mehr nur ein paar langhaarige Latzhosenträger, Friedensdemonstranten und Chaoten oder die in ihren Augen linksradikale Presse wie taz, Spiegel und Stern. Das Gelände wurde freigegeben, das Festival genehmigt; zwar mit schärfsten Auflagen, aber: Grünes Licht. Quasi. Mindestens fünfzig-, sechzigtausend Besucher wurden erwartet, und alles, was in der deutschen Rock- und Popszene Rang und Namen hatte (oder sich welchen erwerben wollte) riss sich darum, dort auftreten zu dürfen. Hinter den Kulissen wurde gerangelt und gemauschelt, was das Zeug hielt; das berufslinke Stehaufmännchen Dörmann hatte sich mal wieder geschickt eingeklinkt und bemühte sich heftig, möglichst viele Strippen an sich zu reißen. PA-Firmen boten Material, Manpower und sogar Geld, um die Beschallungs- und Beleuchtungsjobs zu bekommen, ein berüchtigter Münchner Feinkostkrämer tönte in der Abendpost, er werde die biblische Speisung der Vierzigtausend in den Schatten stellen – »zum Selbstkostenpreis, selbstverständlich!«, der Stapel mit Anfragen für Pressekarten wuchs jeden Tag um mehrere Zentimeter, der WDR geriet in Woodstock-Fieber, tat sich mit einem privaten Produzenten zusammen und plante einen Kinofilm zum Ereignis, die Universum kündigte ein Doppel- oder gar Dreifach-Album an, und in etlichen Tonstudios wurde fieberhaft an neuen Platten gearbeitet, die pünktlich zum Festival erscheinen sollten. Sogar der alte Franjo Homburg, Europas größter Konzertveranstalter, hatte seine Abneigung gegen deutsche Rockbands zumindest ruhen lassen und bot Know-how und Logistik an.

»Deutschlands größtes Rockfestival nimmt Formen an!«, tönte die Bildzeitung und ignorierte mal wieder geflissentlich, dass seit acht Jahren jeden Sommer an die hunderttausend Freaks zu Umsonst & Draußen nach Vlotho pilgerten. Aber selbst Kolbe fühlte sich geschmeichelt, dass seine Wortschöpfung in knallroter 36-Punkt-Schrift darüber prangte – Paaf! – für Pöckensdorfer Anti-Atom-Festival.

 

Und im ganzen Land fluchten junge Polizisten, weil ihr Urlaub gestrichen wurde, sich Anti-Demonstrations-Übungen häuften und sich das Gerücht verbreitete, die Zimmermänner planten, auf jeden Festivalbesucher einen Bullen kommen zu lassen.

2 – Büb

 

Hunsrückhöhe, Samstag, 19. Juli 1986

 

Wubwrubwawrawub, wubwrubrawrawub machte unsere neue Bussin brav und unerschütterlich, während wir mit Tempo fünfundsechzig in einer Endlosschlange von Lkws stoisch irgendeinen Hunsrücken hoch krabbelten. Vor zwei Jahren war unser alter Opel Blitz endgültig auf dem Autofriedhof gelandet, und wir hatten nach langem Hin- und Herrechnen und ausgiebigen Diskussionen eine neue Penner’s Radio-Ära eingeläutet. Unsere gesamte PA wurde verkauft, ein Geldgrab ohne Ende, ein Fass ohne Boden – in guten Zeiten war der ganze Klumpatsch zu klein für die Stadthallen, in denen wir auftreten durften, und dazwischen, also die meiste Zeit, war er zu groß für die Clubs, in denen wir spielen mussten (natürlich machte es von der ganzen Atmosphäre her mehr Spaß, in den Clubs zu spielen, aber für Ruhm und Reichtum waren die meisten der größeren Hallen dann eben doch nützlicher). Außerdem hatte es sich gezeigt, dass wir bei unseren Etats aber auch immer einem wünschenswerten state of the art der Technik hinterher hechelten – kaum hatten wir wieder irgendwo günstig irgendein Gerät ergattert, das unseren Sound angeblich verbesserte, war etwas Neues auf dem Markt, das wir nach Ansicht unseres mittlerweile vierten Manns am Mischpult unbedingt brauchten, um unser Klangbild richtig nach vorne zu bringen. Und das natürlich doppelt so teuer war.

»Alles Quatsch!«, hatte Little Joe, unser allererster Mixer, schließlich bei einem soundsovielten Bier anlässlich eines der unregelmäßigen Altherrentreffen gesagt. »Ihr seid Penner’s Radio – was wollt ihr mit dem Scheiß? Ihr spielt wie gesengte Säue, und ihr werdet ewig klingen wie gesengte Säue, selbst wenn euch mal jemand die Pink Floyd-PA zu Weihnachten schenken sollte. Ihr schmeißt einen Haufen Geld für nix und wieder nix aus dem Fenster, um live so zu klingen wie all die anderen Arschgeigen (was ihr eh nie hinkriegen werdet), und wenn ihr dann ins Studio geht, um ’ne neue Platte zu machen, ist euer Budget wieder so knapp, dass ihr die ganze Produktion, wie gehabt, in zwei Wochen über die Bühne bringen müsst! Und dass irgendwelche Dumpfbacken dann dauernd behaupten, Penner’s klänge live besser als auf Platte, fasst ihr Trötennasen dann auch noch als Kompliment auf! Dabei muss man das andersrum sehen: Eure Platten klingen so beschissen, dass ihr auf der Bühne gar nicht schlechter klingen könnt

»He, he!«, klang es um die Theke herum, und »Starker Tobak, Joe!« Aber in Wahrheit konnte man ihm da wirklich schlecht widersprechen, nicht nur, weil er zur Bekräftigung seiner Predigt eine neue Runde bestellte. »Hast du denn ’nen besseren Vorschlag, Klugscheißer?« Hatte er.

»Ich hab’ das aus Quatsch mal durchgerechnet«, sagte er. »In den letzten drei Jahren habt ihr für Neukäufe in Sachen PA übern Daumen achtundvierzig Mille ausgegeben.«

»Na, na! Jetzt übertreibst du aber!«

»Ja, etwa nich’?« Na ja, wahrscheinlich schon. War so allerdings auch keinem direkt bewusst gewesen. »Aha. In diesen drei Jahren hattet ihr gerade mal hundertdreißig Auftritte – die Benefiz-Konzerte nich’ mitgerechnet. Macht an Kosten für die PA pro Gig dreihundertsiebzig Ocken. Ohne die Reparaturen zwischendurch. Mittlerweile ist die ganze Anlage aber so groß geworden, dass sie gar nicht mehr in den Blitz reinpasst, also habt ihr euch für sieben Mille noch einen Kombi zugelegt, fahrt also mit zwei Autos durch die Gegend. Macht mit ungefähren Sprit-, etcetera-Kosten noch mal zwanzig Mille – und erhöht die Kosten pro Gig auf sage und schreibe fünfhundertzwanzig Ocken. Min-des-tens.«

»Wow«, machte es um die Theke herum, und einer von uns fühlte sich bemüßigt, die nächste Runde zu übernehmen. Auf die paar Mark kam es dann wohl auch nicht mehr an. Aber Little Joe war natürlich noch nicht fertig.

»Und dabei hab ich die Preise eurer Supermixer, die ihr angeblich braucht, um das ganze Gesumse zu bedienen, noch gar nicht mit eingerechnet. Was die kosten, wisst ihr ja wohl selber.« Und ob wir das wussten – wenn wir nach der Abrechnung jedem von uns Musikern an einem guten Abend einen Hunderter auszahlen konnten (und wohlgemerkt nur an einem guten Abend), bekam unser Profi am Mischpult zweihundertfünfzig. Die bekam der aber auch an den schlechten Abenden. Und natürlich auch für seinen Job bei einem der mindestens zwanzig Benefizkonzerte, die wir im Jahr absolvierten, und bei denen unsere Gage aus Applaus, Schulterklopfen und ein paar Kästen lauwarmem Bier bestand. Und bis hierher war der Mann, der seit zwei Jahren dafür bezahlt wurde, dass er am separaten Monitormischpult saß und für einen Bühnensound wie bei den Großen sorgen sollte, noch gar nicht aufgetaucht.

So hatte das allerdings noch keiner von uns gerechnet. Na ja, wir waren ja auch Musiker und keine Kaufmannsseelen.

Aber eine beeindruckende Rechnung. Was also tun?

Vor der erlösenden Problemlösung gab es jedoch noch den Rest der Predigt zu überstehen.

»Ich hab noch bei keinem, keinem einzigen Penner’s-Gig erlebt, dass es einen von euch Rampensäuen interessiert hätte, wie die Monitoranlage klingt«, fuhr Little Joe fort, »geschweige denn, von welcher Marke die Monitorboxen sind, oder ob der Equalizer, der da zwischengeschaltet war, nun zweihundert Mäuse oder zweieinhalb Mille gekostet hat. Oder ob’s da überhaupt so was wie ’nen Equalizer gab – Hauptsache, das hat alles ordentlich Krach gemacht, oder?« Wohl wahr. Nächste Runde wieder auf uns. Und die Fragen, was denn nun angesichts dieser kaufmännischen Fehlleistungen zu tun sei, wurden lauter.

»Für mich ist die Antwort klar, Jungens – den Blitz verschrotten, den Kombi verkaufen, die ganze Scheiß-PA verscherbeln.«

»Und die ganze Scheiß-Band auflösen«, schlug Veedelnoh vor.

»Jau – ab an die Côte d’Azur!«, lästerte Emerson, auf Veedelnohs und mein Sommerpausenfiasko vor fünf Jahren anspielend.*

»Nö. Im Gegenteil«, ließ Little Joe sich nicht erschüttern. »Passt auf …«

Und wir passten auf.

Ein paar Bier später war der Fall gelöst. Unsere beiden Profi-Mixer durften sich einen neuen Job suchen, und Little Joe war wieder unser einziger Roadie (nächste Runde auf ihn). Ansonsten wurde alles so gemacht, wie er es vorgeschlagen hatte, und seitdem hatten wir lockere Verträge mit drei strategisch über Deutschland verteilten PA-Verleihfirmen und zahlten nie mehr mehr als vierhundertfünfzig D-Mark für Anlagen, die immer auf dem neuesten Stand der Technik und immer gut in Schuss waren und im Normalfall schon fertig verkabelt da standen, wo wir unseren Auftritt hatten. Was nebenbei auch so manches unserer gewohnten Probleme mit so genannten Aufbauhelfern und Hausmeistern aus der Welt schaffte.

 

Und deswegen konnten wir heute auch in einem schnuckeligen Setra-Neunsitzer, Baujahr ‘69, unsere kompakte Bühnenanlage hinter der letzten Sitzreihe verstaut, meinen Stabilbaukasten im Gepäckraum, mit beeindruckenden 95 km/h an den beiden Tankwagen vor uns vorbei ziehen. Und trotzdem noch hören, dass das da auf der Kassette, die im Rekorder leierte, die neue Platte der Richard Bargel Blues Band war – Don’t you mind people grinnin’ in your face* …

Das Leben in einem Bandbus hat etwas ganz Besonderes. Fast immer gibt es jemanden, der vorne mit dem Fahrer ein Schwätzchen hält, schon damit der nicht am Steuer einschläft; es gibt immer mindestens einen, der pennt, einer liest ein Buch, einer den Spiegel oder die Bravo, ein anderer kritzelt in ein Notizbuch (Wie viel Geld hab’ ich noch? Wie viel kommt auf dieser Tour noch rein? Wie hieß das Mädel gestern Abend noch gleich? He, Jungs, das wird ein toller Text!); irgendwo hocken zwei und spielen Mau-Mau oder Schach. Die Momente, wo es keine Musik gibt, sind selten – entweder läuft die Anlage vom Bus oder es zischelt und quäkt aus irgendeinem Walkman-Kopfhörer oder irgendeiner klimpert auf einer Gitarre herum, oft begleitet vom Getrommel, Geschnipse, Gesumme oder Gesang einiger Kollegen …

Es ist eigentlich nie still (dafür sorgt schon der Motor der Bussin) aber die Stimmung ist meistens ruhig, gedämpft, träge – der Tag, die Reisestunden plätschern vor sich hin, weil der Biorhythmus aller längst verinnerlicht hat, dass es erst am Abend drauf an kommt. Die Zellen und Synapsen, die für Adrenalin zuständig sind, werden erst geweckt, wenn’s auf den Auftritt zugeht, auf Showtime. Bis dahin – dafür – wird bloß aufgetankt; mit Schlaf, Entspannung, Tabak, Haschisch, Bier, Obst und Knabberzeug … Und wenn gelegentlich jemand aus heiterem Himmel ein verschmitztes »Entschuldigung!« in den Bus wirft, werden sofort alle Fenster geöffnet, weil die Düfte, die eine Minute später von seinem Sitz aufsteigen, ziemlich nachdrücklich und nachhaltig erkennen lassen, dass er sich die letzten zwei, drei Tage von nicht viel anderem ernährt hat.

Ich liebe Bandbus-Reisen.

Genüsslich räkelten wir uns heute auf dem Weg nach Erbelheim also in den gemütlichen Sitzen, am Steuer schnippte Emerson Bargels Takt mit, Veedelnoh klimperte auf seiner Akustischen dazu, Bruni malte an ihren übergroßen Postkarten mit den farbenfroh leuchtenden afrikanischen Motiven, Oblong drehte eine Zigarette aus drei Blättchen, und Little Joe schnarchte auf der letzten Bank. Wir alle vermissten Eiermann ein bisschen, unseren Ex-Bassisten und mittlerweile Rhythmusgitarristen, der letzten Monat auf einer Atelierfete der Jungen Wilden ein wenig zu gründlich demonstriert hatte, wie jung und wild er sein könne, und jetzt stolz sein durfte auf einen echten Kippenberger – gemalt auf einen Gipsverband um einen dreifach gebrochenen Arm. Und ich amüsierte mich mit dem Kölner Express von vorgestern.

Ganz Kölle war am Wochenende auf den Beinen gewesen – 55.000 spielten Luftgitarre zu Gary Moore, Marillion und Queen im Müngersdorfer Stadion, 25.000 blickten in Bocklemünd, neuerdings auch Hollymünd genannt, hinter die Kulissen des WDR, vor allem hinter die der Lindenstraße. »Stimmung kam auf, als De Höhner das neue FC-Lied aufnahmen oder die Bläck Fööss aus dem Publikum befragt werden durften«, schrieb unser Lokalblatt begeistert. Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. »Tommy, wie fallen euch bloß immer so tolle Lieder ein?« – »Eh …, ja, eh … – nächste Frooch.«*

Erstaunliche 15.000 »ließen sich von Tito Puentes Salsa-Rhythmen am Tanzbrunnen mitreißen«, und immerhin noch 10.000 kamen zu »FC hautnah« am Geißbockheim – Trainer Georg Keßler (»ein Mann, der ohnehin immer und überall Optimismus zu verbreiten versteht«) machte Schönwetter vor dem Lokalderby gegen die Kölner Fortuna. »Wir schlagen den FC!«, tönte hingegen deren Präsident Jean Löring.

Und wo wir schon beim Sport waren: In Wembley brach Schwergewichtler Tim Witherspoon in der elften Runde Frank Bruno mit drei schweren rechten Haken den Kiefer und verteidigte so seinen Titel als »Meister aller Klassen«.

Mit Kieferbrüchen war es in Köln-Porz nicht getan. »Unter mysteriösen Umständen sind der Porzer Karnevalsprinz von 1984/85, Jan Tonger (47) und seine Frau Gisela zu Tode gekommen. Ergebnis der Ermittlungen: Alkohol. Streit. Er erstickte sie nach einem, den Spuren nach zu urteilen, heftigen Kampf mit einem Kissen und schoss sich dann mit seinem Jagdgewehr in den Kopf«. Das Karnevalsmotto der Session 84/85, »Met jroße un met kleine Diere« (mit großen und mit kleinen Tieren also) ließ der Verfasser pietätvoll unerwähnt. Ebenso, ob die zweite Zeile lautete »Dunn mer kräftig – oder fröhlich? – Fastelovend fiere«.*

Der Kölner Rat beschloss angesichts solcher Zustände in der Peripherie indes endgültig, im Stadtzentrum für 4,5 Millionen Märker den Alter Markt und angrenzende Straßen auszubauen. Hörte sich an, als könne man da demnächst auch nicht mehr hingehen.

Und vierzig Kilometer vor Den Helder lag bereits seit zwei Wochen der leckgeschlagene britische Frachter Olaf – Ladung: 355 Tonnen Blei, Arsen und Cadmium, eine Giftmenge, die ausreichte, große Teile der Nordsee und bei anhaltendem Westwind selbst die holländische und deutsche Küste nachhaltig zu verseuchen und den Fischbestand zu gefährden. Fieberhafte Bergungsversuche in dreißig Metern Tiefe sollten das Schlimmste verhindern.

»Na toll«, warf ich in die stumme Runde. »Von Osten schicken uns die Russen radioaktive Wolken rüber, und von Westen her vergiften uns die Engländer mit verbleiten Rollmöpsen.«

»Und unser Bier wird auch langsam gesundheitsgefährdend warm«, stöhnte Little Joe und betrachtete angeekelt den Schaum, der aus einer frisch geöffneten Dose quoll und von seinem Schnurrbart tropfte.

»Gutes Stichwort, Alter«, rief Emerson von vorne. »Kannst übernehmen, wenn du wach bist. Wir sollten uns sowieso mal zusammensetzen und ’n paar Takte über den Gig reden. Können ja an der nächsten Raste raus fahren und frische Plörre bunkern.« Das mit dem Rausfahren und dem Frischbier fand allgemeine Zustimmung, der Applaus für eine Bandbesprechung hielt sich in Grenzen. Aber wir waren ja nicht nur zum Vergnügen unterwegs.

 

An der Raststätte erlebten wir drei angenehme Überraschungen: Die am Eingang aushängende Bild-Zeitung sagte ausnahmsweise mal die Wahrheit – die Spritpreise waren tatsächlich weiter gesunken, und ein Liter Normalbenzin kostete 86,9 Pfennig (»Volltanken, bis zum Rand!«, knurrte Little Joe); es gab, dreihundert Kilometer von zu Hause, Früh-Kölsch in Dosen, wieso auch immer (wir verkniffen uns einen Blick aufs Verfallsdatum); und an einem Tisch am Fenster saßen die Jungs und Mädels vom Bielefelder Kurorchester, nette Kollegen, mit denen wir in den letzten Jahren schon öfter die eine Garderobe, Bühne oder die andere nächtliche Theke geteilt hatten. Meist mit viel Spaß, obwohl sie eine sehr merkwürdige Musik machten – Kunstmusik, Jazzrock mit klassischen Elementen und klassizistisch gedichteten Texten über die Einsamkeit von Schmetterlingen, die Launen von Pfeifenrauch oder die Träume von Lockenwicklern. Damit nicht genug, konnten sie ihre Auftritte mit akrobatischen Einlagen von mehr oder weniger freiwilliger Komik krönen – Chef Kurti brachte einen Handstand auf seinem Cello zustande, Kerstin, die Trommlerin, konnte im Spagat auf dem Harmonium Feuer spucken, und Saxophonist Oleg glänzte mit Big-Band-Bläsersätzen, synchron auf drei Gießkannen gespielt. Weshalb sie auf Festivals gern gesehene Spätnachmittagsanheizer waren.

Sie rochen kräftig nach Frühling in Tüten, was Emerson für ein willkommenes Weilchen die Bandbesprechung vergessen ließ, und tranken Kaffee mit eingeschmuggeltem Osborne.

Da ich keinen Kaffee trinke, probierte ich höflichkeitshalber bloß mal an der Osborne-Flasche, hielt mich an das gut gekühlte Heimische und fachsimpelte mit Kerstin über Sinn und Nutzen elektronischer Schlagzeuge – sie hatte sich dank einer vom Goethe-Institut gesponserten Südamerikatour nicht nur ordentlich mit exotischen Perkussionsinstrumenten eingedeckt, sondern sich auch ein brandneues Set Simmons-Drums für über vier Mille geleistet. Ergebnis waren ein sehr, ähem, eigenwilliger neuer Kurorchester-Sound und ständig schmerzende Handgelenke – Sehnenscheidenentzündungen, weil die Keramikschlagflächen dieser Trommeln längst nicht das nachgiebige Schwingungsverhalten der guten alten Kalbfelle hatten; auf den Simmons zu spielen war, als würde man auf Badezimmerkacheln trommeln.

Ein knappes Stündchen später erinnerte uns ein lautstark die Raststätte enternder Trupp Bundeswehrsoldaten daran, dass auch wir noch Marschpläne hatten – das Kurorchester hatte abends einen Gig in Würzburg, und wir waren ja immer noch auf dem Weg nach Erbelheim. Da wir uns am Wochenende in Pöckensdorf schon wiedersehen würden, fielen die Abschiedsumarmungen relativ undramatisch aus, leider sogar die zwischen Drummer und Drummerin – sie war neuerdings mit Piddy zusammen, der auf dem Festival einer der Lichtleute sein würde. Zum Trost schenkte sie mir auf dem Parkplatz einen wie immer nach Spiritus schmeckenden Kuss und ein Paar brasilianischer Maracas, mit echter Maiskornfüllung, und ich revanchierte mich mit einem halben Tiegel Beinwellsalbe, für ihre geschundenen Handgelenke. Had my head stuffed in / But I’m still on my feet /And I’m still / Willin’ * …

 

Little Joe übernahm das Steuer, Bruni rollte sich auf der Rückbank in eine Decke ein, die Penner’s rückten auf den Sitzen hinterm Fahrer zusammen. Motor an, Bier auf, Radio an: Sie hören Nachrichten.

Außenminister Kriegel war auf dem Weg von Washington nach Moskau, um sich mit Gorbatschow zu treffen. Gorbi rückte die BRD auf Platz eins in Europa, was immer er damit meinen mochte – der Nachrichtensprecher erläuterte das nicht näher.

Graf Koks, eh, pardon, Lambsdorff hatte nach wochenlangen Gerichtsverhandlungen wohl einen Freispruch vom Vorwurf der Bestechlichkeit zu erwarten. Surprise, surprise.

Als letztes europäisches Land hatte Großbritannien die Prügelstrafe abgeschafft. Denkbar knappe Entscheidung des Unterhauses – mit 231 zu 230 Stimmen. Wir hielten das für einen verspäteten Aprilscherz, aber Oblong, der mal ein Jahr als Austauschschüler in England verbracht hatte, konnte das bestätigen.

»Hat also auch keinen Sinn, den Lambsdorff rüber zu schicken«, schlussfolgerte Veedelnoh.

»Na, genau so hätten doch die Prügel verdient, die ihn jetzt ungestraft laufen lassen«, sagte ich.

»In dubio pro reo«, dozierte Emerson.

»Kiffer …«, knurrte ich.

»Alle in einen Sack und Knüppel drauf!«, schrie Little Joe nach hinten und verlangte nach einer weiteren Büchse Bier.

»Alkohol am Steuer?«, fragte Noh. Little Joe wies nur stumm auf das Schild über dem Rückspiegel: Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!

 

Thema Musik – in der Mozartstadt kam vor den Salzburger Festspielen keine rechte Freude auf. Terrorangst und Tschernobyl vertrieben US-Touristen, Streit um Pöckensdorf die Bayern. Man fragte sich ängstlich, ob Franz-Josef Strauß seinen Besuch absagen würde. Bei den Festspielen, nicht in Pöckensdorf (von Tschernobyl natürlich ganz zu schweigen).

In Köln nahm der Konflikt zwischen Türken und Kurden neue Formen an. Vier bewaffnete und maskierte Männer mit kurdischem Akzent hatten letzte Nacht die Unterkunft des türkischen Kulturvereins in der Burgunder Straße überfallen. Fünf späte Gäste und das Bedienungspersonal mussten sich auf den Boden legen, dann wurden ihnen Geld, Uhren und Schmuck abgenommen. Daraufhin wurden sie in einen Keller gesperrt. Zum Schluss leerten die Eindringlinge alle Automaten und ließen einen Videorekorder mitgehen.

»Komisch«, kommentierte Emerson sarkastisch, »keine Rede von kiloweise Heroin, Opium, Haschisch, die verschwunden sind …?«

»In einem türkischen Kulturverein?«, fragte Noh scheinheilig. »In Kölle?«

Aber wo wir schon in Köln waren – Fortuna hatte im eigenen Südstadion keine Chance und verlor 1:6 im Lokalderby gegen den FC. Da würde »der Schäng« in seinem Stammlokal wohl etliche Trostrunden schmeißen müssen.

 

»Aber Tschernobyl ist unser Stichwort«, kam Emerson dann doch noch zum ernsteren Teil des Tages. »Pöckensdorf. Zigtausend vor der Bühne, die nicht einfach nur Konzertbesucher sind, sondern auch Demonstranten. Genau, wie das Paaf! nicht einfach nur ein Rockfestival ist, sondern vor allem eine politische Veranstaltung.« Allgemeines Gähnen. Bierdosenzischen. Zigarettenpapierrascheln. »Ja, ja, ich weiß, ihr Banausen. Aber wir werden nicht umhin kommen, uns was zum Thema zu überlegen. Und das nicht erst auf der Bühne. Oder bei irgendeiner Pressekonferenz, Männers.«

»Vergesst die Talkshow nich’«, kam es schläfrig von der Rückbank.

»Ach, du Scheiße«, stöhnte Noh, »die Scheiß-Talkshow in München …!«

»Das soll der kleine dicke Ritter übernehmen«, schlug ich vor und gewann eine Extradose Bier. Unser neuer Bassist redete an schlechten Tagen weniger als Buster Keaton und an guten nicht viel mehr als Marcel Marceau. Manchmal auch umgekehrt.

»Aber telegen isser ja«, meinte Noh.

Konnte man so sehen. Oblong trug, wie meistens unterwegs, seinen bequemen Touranzug – einen knallgrünen, selbst seinen hundertdreißig Kilo drei Nummern zu weiten Tankwart-Overall, ölverschmiert, als habe er sein freies Wochenende unter dem Setra verbracht, den rosa Reißverschluss offen bis zum Nabel. Darunter blendete einen in Neon-Orange der Totenkopf eines schwarzen Grateful Dead-T-Shirts, die Beine des Overalls steckten in knöchelhohen braun-karierten Filzpantoffeln, und gekrönt wurde das Outfit von einem zwei Nummern zu kleinen Pepita-Hütchen, in dessen Hutband ein paar rot-weiße FC-Wimpel steckten. »Wo lässt du eigentlich deine Garderobe, eh …, designen, Mann?«

Oblong klappte stolz grinsend die linke Klappe einer der aufgenähten Brusttaschen um. Chanel, leuchtete uns ein Etikett entgegen.

»Und die andere?«, fragte ich. Weingarten – Vater & Sohn, stand in seriösem Gold auf Schwarz unter der rechten. Ein Extra-Bier für den Bassmann.

Als ich mich mit unserem neuen Bandmitglied im letzten Jahr ein wenig näher angefreundet hatte, bei dem einen oder anderen Bier nach Proben oder Auftritten, bei ausgiebigen gemeinsamen Frühstücken oder Stunden um Stunden, Kilometer um Kilometer im Bus eingesperrt – Schlagzeuger und Bassist, die Rhythmusgruppe, das Fundament jeder Band, müssen schließlich besonders gut zusammenpassen –, hatte er mir mal sein Zitatenbuch gezeigt. Eins einer ganzen Reihe von Zitatenbüchern – Oblong las eine Menge, schon seit seiner Kindheit, womit wir wieder etwas gemeinsam hatten, und hatte bei der Lektüre immer ein schwarzes Ringbuch griffbereit, in das er Dinge eintrug, die ihm besonders gefielen – oder eben nicht; die er auf jeden Fall für würdig hielt, festgehalten zu werden, wert, irgendwann mal, beim erneuten Lesen, beim wahllosen Durchstöbern der Zitatenbücher, noch einmal überdacht zu werden. Von diesen schwarzen, ordentlich durchnummerierten Ringbüchern hatte er einen ganzen Regalmeter voll, in fein säuberlicher, fast mädchenhafter Schrift, mit großen Kringeln auf den i’s und unter den Ausrufezeichen und drei zentrierten Asterisken unter jedem Zitat. Ich hatte einmal nach einem heftigen Besäufnis bei ihm übernachtet, und wir hatten zu zweit in der großen Wohnküche seiner Schwulen-WG gefrühstückt – jeder war mit einem Packen Zeitschriften versorgt, Chick Corea und Gary Burton duettierten im Kassettenrekorder, wir schlürften Gute-Laune-Tee aus dem Reformhaus, kauten an Käsebrötchen und Schokohörnchen und warfen uns gelegentlich bemerkenswerte Auszüge aus irgendwelchen Artikeln über den Tisch.

»Du musst Acht geben, wenn du ausgehst, Süßer«, brummte ich zum Beispiel. »In Sachen Handtaschenraub gibt’s in Köln ’ne Steigerung um dreißig Prozent.«

»Dann pass du gut auf bei deinem nächsten Frühschoppen«, entgegnete er. »Hier: ›Mit schweren Gesichtsverletzungen wurde ein Mann abends Ecke Mauenheimer und Merheimer Straße gefunden‹ – ist das nicht Nippes, dein altes Viertel? ›Der 34-Jährige erinnert sich, dass er gegen siebzehn Uhr eine Gaststätte im Bilderstöckchen verlassen habe, um heimzugehen – und das keineswegs betrunken. Kurz darauf seien ihm vier Personen entgegen gekommen, und er habe einen Schlag auf den Kopf gespürt. Mehr wisse er nicht mehr‹«.

»Warum sollte ich mittags um fünf schon heimgehen? Und noch nicht mal besoffen?«

»Ha!« Fünf Minuten später. »›Queen Elizabeth hat Bob Geldof für seine Verdienste um Live Aid zum Ehrenritter geschlagen. Der Popsänger und Krawattengegner hatte sich zu dem Anlass sogar eigens einen Frack gekauft – samt Schlips!‹«

»Der Schleimer!«

»Apropos«, griente Oblong und räkelte sich in einem wigwamförmigen Kaftan aus einem mit Ornamenten gemusterten Brokatstoff, wie ich ihn bloß von den Sesselbezügen in Oma Klütschs guter Stube kannte. »›Erst jetzt kam raus: Hinter dem Sprengstoffanschlag auf die JVA Celle 1978 steckte tatsächlich der Verfassungsschutz. Dessen Beamte verübten den Anschlag, um, Zitat: ›einen Spitzel in die Terroristen-Szene einzuschleusen‹. Ministerpräsident Albrecht sei, entgegen all seiner Dementis, in den Plan eingeweiht gewesen. Kanzler Schmidt hingegen bestreitet sein Wissen immer noch hartnäckig.‹«

»Du kannst ja richtig lange Sätze«, wunderte ich mich.

»Na ja«, tat er verlegen, »war ja abgelesen. Aber in kleinem Kreise schon.«

»In größeren ist manch einer der Meinung, du seist taubstumm.« Schulterzucken.

»Von mir aus.« Er stand auf, watschelte in sein Zimmer und kam mit einem der Ringbücher zurück. Blätterte kurz und hielt es mir dann vor die Nase.

Schweigsame Menschen sind grundsätzlich im Vorteil gegenüber Plaudertaschen, las ich. Man glaubt, sie wissen was. Je mehr man auf sie einschwätzen tut, desto alberner kommt man sich vor, desto mehr erscheinen sie einem als eine Art Buddha … Die Stillen, die wissen wirklich was. Sie wissen, dass sie den Mund halten müssen. Sie haben kapiert, dass man sich durch Reden längst nicht so interessant machen kann wie durch standhaftes vielsagendes Schweigen.

»Aha«, sagte ich. »Wer war denn so klug?«

»Allan Gurganus. Und seine Rebellenwitwe. Schönes Buch. Noch ’n Tässchen Tee?«

Als Bassist gab er sich ähnlich sparsam, aber immer auf den Punkt. Es hatte mir vierzehn Jahre lang großen Spaß gemacht, mit Eiermann zusammen die Rhythmusgruppe zu bilden – aber mit Oblong Fitz Oblongs schnörkellos präzisem, immer nach vorne marschierendem und trotzdem swingendem Spiel bekam das Bild vom Rückgrat der Band doch noch einmal eine ganz neue Qualität. Sein Humor gefiel mir auch ausnehmend gut, und seine Ringbücher waren eine wahre Fundgrube.

Und man konnte auch prima mit ihm versacken. Den Spätabendspruch »Komm, wir trinken noch ein paar, und dann geh’n wir bald« hatten wir schon astrein unisono drauf.

Well, a true friend is hard to find*, röhrte Richard Bargel. Na ja, ist halt nicht nur traurig, der gute, alte Blues.

 

***

 

»Aber mal ernsthaft«, ließ Emerson nicht locker. Emerson lässt nie locker. Der hatte ja selbst sechs Jahre, nachdem ich angefangen hatte, ein paar Gitarrenakkorde zu lernen, nicht aufgegeben, mich in die Grundlagen der Harmonielehre einführen zu wollen, obwohl das ähnlich viel Sinn zu haben schien, wie mir die binomischen Formeln verständlich zu machen. »Wir sind nicht irgendeine Popkapelle, die von ihrer Firma nach Pöckensdorf geschickt wird, um sich beim alternativen Publikum einzuschleimen – wir sind Penner’s Radio. Ich finde, wir müssen was Passendes zum Thema von uns geben, ein Statement setzen.«

»Wat der für Wörter kennt …«, murmelte Veedelnoh und deutete müden Applaus an.

»Aber recht hat er«, rief Little Joe über die Schulter. »Also, warum tretet ihr ausgerechnet beim Paaf! auf? Wo es doch letztes Jahr noch hieß ›Wir haben keinen Bock mehr auf diese Scheiß-Festivals‹?«

»Seit wann interessiert uns unser Geschwätz vom letzten Jahr?«, wich Noh aus. Er hatte ganz offensichtlich ähnlich wenig Lust darauf wie ich, sich mit Inhalten zu beschäftigen, mit Begründungen für in unseren Augen eigentlich selbstverständliches Engagement., mit Politik und politischen Sprechblasen, Parolen und Appellen. »Auf dieser Bühne wird’s mehr Betroffenheitsgeblubber und Solidaritätsgegreine und ›Wir Guten hier unten und ihr Bösen da oben‹-Verbrüderungsschleimerei geben, als wir nüchtern ertragen können.« Dem folgten zwei Minuten Schweigen, wahrscheinlich weil jeder von uns gerade überlegte, wann unser Gitarrist denn das letzte Mal nüchtern auf einer Bühne gesehen worden war.

»Und – gehören wir zu den Guten oder nicht?«, fragte Emerson schließlich.

»Alles eine Frage des Standpunkts«, sagte ich.

»Ach. Und – haben wir einen?« Noh verdrehte die Augen.

»Joe – was hast du gesagt, wie viele Benefizkonzerte wir in den letzten zehn Jahren abgeliefert haben?«

»Zweihundertneun«, kam es wie aus der Pistole geschossen vom Fahrersitz.

»Also. Muss ich danach noch irgendjemandem meinen Standpunkt verklickern?«

»Warum nicht? Was stört dich so daran? Wieso sperrst du dich so dagegen?«

Ich sagte ja, Emerson ist ein hartnäckiger Knochen.

Und dabei hatte er heute noch nicht mal richtig angefangen zu kiffen.