Mami 1814 – Nie mehr allein …

Mami –1814–

Nie mehr allein …

Roman von Susanne Svanberg

  Erstaunt zog Beate Heinicke die schmalen Augenbrauen hoch.

  »Hallo«, sagte sie mit einer Stimme, die ihre Überraschung verriet.

  »Grüß dich, Bea. Ich hoffe, wir stören nicht«, keuchte Anika, die sich eben mit zwei Kleinkindern und zwei schweren Reisetaschen drei Etagen hochgequält hatte. Sie war reichlich außer Atem und wirkte auch sonst ziemlich abgekämpft.

  »Ihr stört überhaupt nicht. Ich habe Überstunden im Büro gemacht, danach meine Wohnung geputzt und wollte mir eben etwas Ruhe gönnen«, antwortete Beate mit zynischem Lächeln. »Gerade habe ich Kaffee aufgebrüht. Du kannst auch eine Tasse…«

  »Bea, du bist ein Schatz«, unterbrach Anika die Freundin und tat, als bemerke sie den etwas kühlen Empfang nicht. Sie stellte den achtzehn Monate alten Marco, den sie neben dem Gepäck die Stufen hochgeschleppt hatte, auf die Beine. Sofort trippelte der Kleine an Beate vorbei in die Wohnung, gefolgt von seiner dreijährigen Schwester Marlene. Anika wuchtete die beiden Reisetaschen in den Flur. »Bea, wenn ich dich nicht hätte, wüßte ich nicht wohin«, schnupfte sie dabei.

  »Was ist los?« erkundigte sich die Freundin mit mütterlichem Instinkt. Sie waren zwar im gleichen Alter, doch war Beate schon immer die Vernünftigere gewesen.

  »Es ist aus. Aus!« jammerte Anika, während sich ihr kleiner Sohn mit einem Aufschrei des Entzückens auf Beates Sammlung bunter Drachen stürzte. Sie pendelten in verschiedenen Höhen des Flurs, und ihre herabhängenden Bänder waren auch für den kleinen Marco zu erreichen. Einige der bunten Prachtstücke hatte Beate aus China mitgebracht. Auf diese Exemplare war sie besonders stolz. Marco konnte das nicht ahnen. Er riß kräftig an den Schnüren und freute sich darüber, daß die ganze Sammlung ins Vibrieren geriet.

  »Aus mit Theo?« vergewisserte sich Beate mitleidig. Tröstend legte sie den Arm um die Schultern der Freundin.

  »Mit wem sonst. Er ist ein Schuft. Ein gottverdammter Schuft! Ich möchte ihn nie mehr sehen. Nie mehr!« brach es leidenschaftlich aus Anika hervor. Dabei rollten einige Tränen über ihre erhitzten Wangen.

  Die kleine Marlene war stehengeblieben und sah unschlüssig bald auf ihre Mami, die sie noch nie so traurig gesehen hatte, bald auf den jüngeren Bruder, der voll Begeisterung einen roten Drachen mit grasgrünem Schwanz an sich drückte. Sie entschied sich dann dafür, dem freudig krähenden Marco Gesellschaft zu leisten, denn die Mami wurde ja von der Tante getröstet.

  »Was ist denn vorgefallen?« fragte Beate mit tiefem Mitgefühl.

  »Er betrügt mich mit seiner Sekretärin. Kannst du dir das vorstellen?«

  »O ja, das kann ich«, zischte

Beate voll Empörung. Seit ihr Freund sie verlassen hatte, war sie auf die Männer äußerst schlecht zu sprechen. Sie hatte sich zu einer richtigen »Emanze« entwickelt und war stolz darauf. »Ich sag nur ein Wort: ›Männer‹!« Es schwang soviel Verachtung in Beates Stimme mit, daß sich sogar der kleine Marco, der gerade dabei war, sich den grünen Schwanz in den Mund zu stopfen, erschrocken umsah.

  »Ich könnte ihn umbringen«, heulte Anika unglücklich.

  »Die Hübschen unter ihnen kannst du ohnehin vergessen«, belehrte Beate ihre Freundin. Sie führte Anika in den geschmackvoll eingerichteten Wohnraum, in dem vom Sessel bis zur Obstschale alles so angeordnet war, wie es Beates Geschmack entsprach. Noch ahnte sie nicht, daß sich das sehr bald ändern würde. Auf dem Glastisch vor der Couch stand die Kaffeetasse mit dem noch dampfenden Getränk. »Komm, setz dich, und trink erst mal einen Schluck.« Für eine Leidensgenossin war Beate zu jedem Opfer bereit. »Die Gutaussehenden, und zu denen zählt dein Theo, sind eitel, hirnlos und sadistisch. Diese Machos dürfte man eigentlich nicht frei herumlaufen lassen.«

  »Die Augen werde ich ihm auskratzen«, fauchte Anika wütend wie eine gereizte Katze. Sie spreizte die Finger als stünde der Angriff unmittelbar bevor. Ihre sonst so sanften blauen Augen funkelten gefährlich.

  »Wie hast du’s denn herausgefunden?« wollte Beate wissen. Das Schicksal der Freundin beschäftigte sie so sehr, daß sie gar nicht bemerkte, daß im Flur die kunstvoll segelnden Drachen nach und nach kläglich zu Boden sackten.

  Auch Anika achtete nicht darauf. »Ich hab im Computer eine Adresse gesucht, da bin ich draufgestoßen. Der Idiot hat alles fein säuberlich gespeichert. Er hat seine Sekretärin mitgenommen!«

  »Was?« Beate, die sich neben Anika auf der Couch niedergelassen hatte, beugte sich neugierig etwas vor.

  »Er war vor zwei Wochen auf der Messe in Hannover. Allein habe ich angenommen. Doch nun hab’ ich es schwarz auf weiß, daß er zwei Hotelzimmer gebucht hatte.«

  »Ist das ein Beweis?« zweifelte Beate und legte den Kopf mit

den blond gefärbten Engelslocken schief.

  »Er hat mir nichts davon gesagt. Absichtlich, ist doch klar.«

Anika zog schnupfend die Nase hoch. Sie wirkte in diesem Moment wie ein Kind, das großen Kummer hatte. Ihre Augen waren rot vom Weinen, die Nase war verschwollen, die Mundwinkel nach unten gezogen und das dichte blonde Haar war zerzaust wie nach einer Rauferei.

  »Hast du ihn darauf angesprochen?«

  »Wozu? Er hat ja ohnehin nie Zeit. Weder für mich noch für die Kinder. Und jetzt weiß ich auch weshalb. Mir erzählt er, daß er arbeitet, wenn er erst nach Hause kommt, wenn andere schon schlafen gehen. Und dann ist er natürlich müde, ist ja auch verständlich. Weißt du, was bei uns noch läuft? Nichts!«

  Beate räusperte sich vielsagend. »Das ist eindeutig«, bestätigte sie und nickte dabei. »Laß es dir nicht gefallen!«

  Anika riß die verweinten Augen auf. »Was soll ich denn tun?« überlegte sie kleinlaut.

  »Da gibt es nur eines: Scheidung!«

  »Scheidung?« wiederholte Anika erschrocken. Sie war zwar unheimlich wütend auf Theo, aber sich endgültig und für immer von ihm zu trennen, daran hatte sie noch nicht gedacht. Denn sie liebte ihn trotzdem noch, wenn sie das im Moment auch nicht zugeben würde.

  »Das ist überhaupt keine Frage. Mein Boß kann dich vertreten. Der macht das jeden Tag. Routinesache. Ich werde gleich morgen einen Termin für dich einplanen.«

  Das ging Anika nun wieder etwas zu schnell, aber sie wagte nicht zu widersprechen, denn irgendwie mußte sie Beate ja dankbar sein. »Und du meinst…«, murmelte sie ernüchtert.

  »Glaub mir, das ist der einzig richtige Weg. Die Katze läßt das Mausen nicht, weißt du doch. Nur keine falsche Sentimentalität.«

Beate zog die Freundin tröstend an sich.

  »Und was… was mach’ ich zwischenzeitlich?« japste Anika unglücklich.

  »Zunächst bleibst du bei mir«, antwortete Beate in kämpferischer Stimmung. Es tat ihr richtig gut, sich an einem »ungetreuen Macho« zu rächen.

  »Aber die Kinder…«, seufzte Anika, der trotz allem Schmerz klar war, daß dies nicht gutgehen konnte. Beates Wohnung hatte nur zwei Räume, und das war viel zu wenig.

  »Wir werden uns schon arrangieren«, versprach Beate, die allen Männern Rache geschworen hatte. Daß diese Zusage etwas voreilig war, stellte sie gleich darauf fest, als Marlene wie ein Wirbelwind ins Zimmer stürmte, einen flatternden Drachen hinter sich herziehend. Der kleine Marco, der noch nicht so schnell und nicht so geschickt war, tapste hinterher mit Beates wertvollstem Sammlerstück. Er verhedderte sich in der Schnur und stürzte auf das zerbrechliche Gebilde aus dünner Seide. Der Stoff riß, die bunten Bänder flatterten um Marco.

  Es war Beate klar, daß sie nicht nur ihre Drachensammlung abschreiben konnte, sondern künftig auch auf die Gemütlichkeit ihrer Wohnung würde verzichten müssen.

  »Ich werde doch meine beste Freundin nicht im Stich lassen«, meinte sie tapfer. »Dreizehn Jahre lang sind wir zusammen zur Schule gegangen, alle Geheimnisse haben wir uns anvertraut und manches Abenteuer gemeinsam bestanden. Da liegt es doch auf der Hand, daß wir auch jetzt zusammenhalten.«

  Marlene stellte die Umrundung des Glastisches ein, blieb vor Beate stehen und fragte mit kindlichem Charme: »Krieg ich den, Tante Bea?«

  Beate wußte, daß ihre Sammlung ohnehin nicht zu retten war. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Jetzt, da es galt, einen Macho zur Strecke zu bringen. »Du kannst ihn behalten«, bestätigte Beate, obwohl diese Zusage einige Überwindung kostete.

  »Ich bin froh, eine Freundin wie dich zu haben«, murmelte Anika voll Dankbarkeit.

  »Wenden wir uns doch mal gleich den praktischen Überlegungen zu«, meinte Beate, darum bemüht, ihre eigenen Bedenken zu zerstreuen. »Ich überlasse euch mein Schlafzimmer mit dem breiten Bett und nächtige hier auf der Couch. Um acht beginnt mein Dienst und gewöhnlich bin ich nicht vor sieben Uhr abends zurück. In der Zwischenzeit gehört die Wohnung euch. Du kannst schalten und walten wie du magst.«

  »Du bist ein Schatz, das hab’ ich gleich gewußt.« Anika drückte Beate erleichtert einen Kuß auf die Wange.

*

  Theo Altenberg kam gutgelaunt nach Hause. Er hatte eben eine komplette Büroausstattung verkauft, was für sein junges Unternehmen ein großer Auftrag war. Die Werbeagentur, die er beliefern würde, brauchte nicht nur moderne Schreibtische und geeignete Schränke, es sollte auch ein modernes Kommunikationssystem geliefert werden. Dazu gehörten Computer ebenso wie Internet-Anschlüsse, Drucker und Kopierer, die Vorlagen verkleinern, vergrößern und farblich verändern konnten. Die ganze Palette moderner Bürotechnik, auf die sich Theo spezialisiert hatte, wurde gebraucht. Dabei würde ein beachtlicher Auftragswert zusammenkommen.

  Daß es in der Wohnung seltsam still war, fiel Theo nicht auf. Es kam häufig vor, daß Anika um diese Zeit schon zu Bett gegangen war, und die Kinder schliefen ohnehin.

  Eigentlich sah er die beiden Racker viel zu selten. Nicht einmal am Wochenende hatte er Zeit für sie, denn noch war er mit dem Aufbau seiner Firma beschäftigt, und das kostete seine ganze Kraft. Von früh bis spät arbeitete er daran, sein Angebot zu verbessern und nicht nur an kleine, sondern auch an große Firmen zu verkaufen. Mit dem neuen Auftrag war er seinem Ziel ein Stück nähergekommen. Eine Werbeagentur hatte Publikumsverkehr, und wenn sie gut eingerichtet war, fiel das den Leuten auf.

  Theos Wunschvorstellung war es, die Nummer eins unter den Büroausstattern zu werden. Seine Fachkenntnisse, gepaart mit technischem Verständnis, konnten schon jetzt kaum übertroffen werden. Er war über jede Neuheit am Markt orientiert, und er wußte auch genau, wie sie funktionierte. Nicht umsonst besuchte er alle Fachmessen und ließ sich von den Herstellern über jeden Fortschritt informieren. Nur ein entsprechendes Lager konnte er sich noch nicht leisten. Auch die Ausstellungsräume waren nicht optimal. Doch das würde sich alles noch ändern. Wenn er fleißig und sparsam war, vielleicht schon in den nächsten zwei Jahren. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte allerdings auch die Familie mitziehen. Anika mußte nicht nur auf vieles verzichten, sie war auch sehr oft mit den Kindern allein. Theo bedauerte das ebenso wie sie, denn er liebte seine Frau.

  Wo war sie nur? Besorgt sah er zur Uhr. Die Kinder mußten längst im Bett sein, und es war noch nie vorgekommen, daß Anika sie allein ließ.

  Vorsichtig öffnete Theo die Tür zum Kinderzimmer. Es roch wie immer nach Puder, Creme und frischer Wäsche. Die Kinderbetten allerdings waren unbenutzt. Was hatte das zu bedeuten? Unruhig fuhr sich Theo ums glattrasierte Kinn.

  War Anika mit den Kindern zu ihrer Mutter gefahren? Nein, das konnte nicht sein, da Johanna Weyrauch eine Person mit unumstößlichen Grundsätzen war. Zu diesen Grundsätzen gehörte die Überzeugung, daß Vorschulkinder spätestens um neunzehn Uhr im Bett sein mußten. Deshalb würde sie nie dulden, daß sich Anika mit den Kleinen länger bei ihr aufhielt. Theo mochte seine Schwiegermutter. Sie war auch mit zweiundfünfzig Jahren noch immer eine schöne, charmante Frau, dazu tüchtig und bemerkenswert selbständig. Schon vor dreizehn Jahren verlor sie durch einen Unfall ihren Mann. Sie jammerte nicht lange, sondern fand sich mit der Situation ab und plante ihr Leben neu. Um die schmale Rente aufzubessern, übernahm sie einen kleinen Geschenkladen, den sie inzwischen zu einem beachtlichen Geschenkhaus erweitern wollte. Es war eine Leistung, vor der Theo Respekt hatte.

  Theo ging in die Diele zurück, hängte seine Jacke an die Garderobe und zog die Krawatte aus. Achtlos warf er sie über sein Jackett, öffnete den obersten Knopf und prallte zurück. Auf den Spiegel war mit rotem Lippenstift groß und unübersehbar das Wort »Lügner« geschrieben. Das war Anikas Handschrift, daran gab es keinen Zweifel.

  Theo erforschte sein Gewissen. Ganz rein war es nicht. Es gab so manches, das er seiner Frau verschwieg. Aber nur, um sie nicht zu beunruhigen. Daß ihm die Bank die Kreditzinsen erhöht hatte zum Beispiel, daß es einige Kunden gab, die nicht zahlten und daß er Ärger hatte mit der Versicherung, weil sie einen durch Diebstahl entstandenen Schaden nicht ersetzen wollte. Aber war das Grund genug, ihn als Lügner zu bezeichnen und die Wohnung zu verlassen? Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Jetzt, da er geschäftlich so viel zu tun hatte, konnte er privaten Ärger nicht brauchen.