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Anna Martach

Alpendoktor Daniel Ingold #26: Geschichten, die das Leben schrieb

Bergroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Geschichten, die das Leben schreibt

Alpendoktor Daniel Ingold – Band 26

von Anna Martach

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 103 Taschenbuchseiten.

 

Hindelfingen: da, wo die Welt noch in Ordnung ist. Zwar kennt man hier Licht und Schatten wie überall sonst und dennoch scheint das Bergdorf mit seinem ebenso sympathischen wie fähigen Arzt Daniel Ingold und seinen netten Bewohnern wahre Heilkräfte zu besitzen. Auch für den Schriftsteller Gerhard und den Buben Sven? Dann geschieht ein folgenschwerer Unfall, und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt …

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

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1

„Guten Morgen, ich bin Daniel Ingold, und Sie sind bestimmt Gerhard Hoffmann, der Schriftsteller. Herzlich willkommen in Hindelfingen.“

Der Alpendoktor streckte freundlich die Hand aus und begrüßte seinen neuen Patienten. Jedermann am Ort wusste von dem neuen prominenten Mitbürger.

Gerhard Hoffmann war ein bekannter und erfolgreicher Schriftsteller, der sich vor kurzem entschlossen hatte, hier in Hindelfingen ein Haus zu kaufen. Nach einer Operation, in der ihm ein neues Kniegelenk eingesetzt worden war, benötigte er viel Ruhe, gute Luft und einen hervorragenden Arzt für die Nachsorge.

Die Sache mit dem Arzt leuchtete einem jeden ein, schließlich war Daniel Ingold der beste, den man weit und breit finden konnte. Ruhe und gute Luft gab es in Hindelfingen ebenfalls reichlich, das konnte ein jeder bestätigen, der einmal hier gewesen war. Doch wie Vreni Kollmannberger, das lebende Tageblatt, bei ihrer täglichen Gerüchtetour etwas bissig bemerkte, konnte sie nicht verstehen, dass jemand, der Probleme mit dem Laufen hatte, ausgerechnet in diesen Ort zog.

Hindelfingen lag idyllisch und malerisch in einem langgestreckten Tal am Fuß des Grimsteigs, und auf Anhieb konnte man nur wenige Meter Weg oder Straße finden, die nicht auf oder ab führten. Nun ja, vielleicht wurde das alles ja aufgewogen durch die Schönheit der Landschaft, die überaus freundlichen Einwohner und natürlich den hervorragenden Arzt. Vreni hätte sich nicht wenig gewundert, wäre ihr der tatsächliche Grund bekannt gewesen, warum sich Gerhard Hoffmann hierher zurückgezogen hatte.

Er hatte eine gewisse Scheu vor Menschen und wollte sich so weit wie möglich von der Gesellschaft zurückziehen. Dieses Verhalten lag nicht nur in seiner Arbeit als Schriftsteller begründet. Er hatte zudem vor zwei Jahren seine Frau durch einen Unfall verloren, ebenso das damals noch ungeborene Kind. Seither hatte er sich von Familie und Freunden immer weiter entfernt. Er wollte nicht auf seine Vergangenheit angesprochen werden, und er wollte einfach seine Ruhe haben. Ob ihm das allerdings gelingen würde, wenn Vreni erst einmal die Spur aufgenommen hatte, war wohl eher fraglich. Früher oder später würde diese Frau alles in Erfahrung bringen, was es zu wissen gab – doch davon konnte Hoffmann zu diesem Zeitpunkt nichts wissen.

Im Augenblick war es ihm ganz einfach wichtig einen guten Mediziner zur Hand zu haben, und nach allem, was er über Daniel Ingold in Erfahrung hatte bringen können, lag dieser Fall hier vor.

Das zeigte sich auch gleich bei der Untersuchung.

Vorsichtig, aber fachgerecht, betastete der Arzt das Bein, stellte eine Unmenge an Fragen und studierte dann aufmerksam die mitgebrachten Unterlagen aus dem Krankenhaus und vom bisherigen Hausarzt. Die Operation war jetzt vier Monate her, doch es gab noch immer Beschwerden, was in gewisser Weise jedoch nur natürlich war, denn das Einsetzen eines neuen Kniegelenks war ein schwerwiegender Eingriff. Regelmäßige Behandlungen beim Physiotherapeuten waren wichtig, um mit Massagen und Krankengymnastik möglichst rasch wieder Beweglichkeit und Beschwerdefreiheit zu erlangen.

Da haperte es allerdings schon bei Gerhard. Obwohl er Schwierigkeiten hatte, fand er es ausgesprochen lästig das Haus zu verlassen, um jemanden aufzusuchen und sich dort zu quälen. Daniel stellte bei der Untersuchung fest, dass der Heilungsprozess längst nicht so gut voranschritt, wie es eigentlich zu erwarten war.

„Halten S’ Ihre täglichen Übungen ein?“, forschte er, wohl wissend, dass es nicht so sein konnte.

„Ich hab für diesen Unsinn nun wirklich keine Zeit“, grantelte der Schriftsteller. „Diese ganze Geschichte hat schon längst viel mehr Zeit und Nerven gekostet, als ich übrig hab.“

„Das kann aber net besser werden mit Ihrem Knie, wenn S’ sich net auch weiter darum kümmern. Ist ungefähr so, als wenn S’ ein Buch beginnen und einfach drauflosschreiben, ohne darauf zu achten, dass sich der rote Faden hindurchzieht, die ganze Geschichte einen logischen Aufbau und ein anständiges Ende hat.“

„Ach, was verstehen denn Sie vom Schreiben?“, fragte Gerhard missmutig, und Daniel lächelte.

„Sicher genug, um ein bisserl mitreden zu können. Ich schreib auch ganz gern Geschichten, schließlich gibt’s hier in Hindelfingen genug Sachen, die es wert sind, festgehalten zu werden. Deswegen würd’ ich mich allerdings net als Schriftsteller bezeichnen, und ich hab auch net vor, irgendwas zu veröffentlichen. Mir macht’s einfach nur Spaß, aber ich bin mit Leib und Seele Arzt, was anderes will ich net.“

„Das hört man eher selten“, bemerkte der andere Mann. „Die meisten Leut’, die in der Lage sind, mehr als drei Sätze unfallfrei aufs Papier zu bringen – oder manchmal noch weniger – fühlen sich gleich berufen ein Buch herauszugeben und verlangen oft von mir, dass ich eine Empfehlung gebe.“

Daniel lachte auf. „Das ist das gleiche Syndrom, was aus normalen Menschen Ärzte macht, sobald sie ein medizinisches Lexikon in den Händen halten.“

Beide Männer lachten sich an, sie fühlten ähnlich, und zwischen ihnen baute sich erstes Vertrauen auf.

„Wirklich, Herr Hoffmann, da müssen S’ mehr tun an Ihrem Knie, sonst war die ganze Operation umsonst. Machen S’ mal täglich einen Spaziergang, wenigstens eine halbe Stunde. Und wenn das zu lästig ist, zum Physiotherapeuten zu gehen, dann kommt der sicher auch ins Haus. Man muss halt nur mit ihm reden und ihm ein gutes Wort geben“, schlug der Arzt praktisch vor.

„Und vermutlich muss man eine Menge Geld bieten“, setzte Hoffmann hinzu und erntete einen verwunderten Blick.

„Es mag ja sein, dass dort, wo S’ bisher gewohnt haben, diese Art von Geschäft üblich ist. Aber hier am Ort wissen wir durchaus, dass Geld nicht alles ist. Schon oft wurde hier auf einen Profit verzichtet, wenn dafür zwischenmenschliche Beziehungen und Freundschaften gepflegt werden konnten. Das sollten S’ auch mal versuchen, ist was ganz besonderes und mit Geld und Gold net aufzuwiegen. Außerdem, ein Lächeln kostet nix, tut auch net weh, erleichtert das Leben aber ungemein. Fragen S’ also einfach mit einem Lächeln, net auf die Art, als wollten S’ den Laden im nächsten Moment kaufen und den Besitzer beißen.“ Auch Daniel lächelte, herzlich, offen und voller Lebensfreude.

Etwas verwirrt fragte sich der Schriftsteller, wo er denn hier gelandet war. Wenn die Menschen alle von dieser Art waren, dann entsprachen sie ja wohl der Wunschvorstellung des Idealen. Noch konnte und wollte er aber nicht so recht glauben, dass es das wirklich gab. Etwas zaghaft versuchte er ebenfalls das Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen, offensichtlich hatte er das lange nicht getan. Es gelang auch nicht so recht, aber ein Anfang war gemacht. Der Arzt nickte, er sah die Bemühungen und deutete das als Willen zur Besserung.

„Sollt’ was dringendes sein, komm ich auch gern zu einem Hausbesuch. Da wohnen S’ ja direkt neben einem meiner häufigen Patienten, dem kleinen Sven. Das ist ein ganz armer Bub mit seiner Krankheit, soviel kann ich dazu sagen, ohne gleich in Einzelheiten zu gehen. Aber der ist immer fröhlich und macht net die ganze Welt für sein Leiden verantwortlich.“

Gerhard bezog diese Äußerung nicht auf sich, doch er registrierte etwas unwillig, dass Daniel offenbar erwartete, er würde sich unters Volk mischen. Das lag ganz und gar nicht in seiner Absicht, er wollte keine Bekanntschaften knüpfen. Er war schließlich hierhergekommen, um gerade vor Beziehungen jeder Art zu flüchten.

Daniel hatte schon richtig erkannt, dass der Mann sich aus irgendeinem Grund verkriechen wollte. Das hielt er für keinen guten Zustand, aber ein Arzt kann immer nur Ratschläge geben, keine Befehle erteilen. Damit wollte er jedoch nicht sparen. Hoffmann war noch relativ jung, mit Ende dreißig war das Leben noch nicht zuende, und es brachte nicht viel ein, wenn man in diesen frühen Jahren schon zum Zyniker wurde.

„Ich werd’ mich bemühen den Buben net gleich zu erschrecken, wenn ich auf ihn treff’“, brummte der Schriftsteller also.

„Ach, eigentlich hatt’ ich gedacht, es wär’ gescheit, auch mal was von dem Kind zu lernen. Hat noch niemandem geschadet.“

„Ich bin wohl alt genug, um zu wissen, was ich tu. Ich dann Ihnen jedenfalls für Ihre fachliche Hilfe. Als Arzt scheinen S’ ja ganz in Ordnung zu sein. Warum haben S’ eigentlich keine Praxis in der Stadt? Da könnten S’ mit Privatpatienten eine Menge gutes Geld verdienen.“

Daniel schüttelte den Kopf. „Auch ich denk’, dass Geld net alles ist. Mir sind die Menschen hier wichtig.“

Etwas steif stand Gerhard auf, reichte dem Doktor zum Abschied die Hand und nahm seinen Gehstock.

„Bis in vier Tagen dann, ich werd’ versuchen Ihre Ratschläge zu beherzigen.“

„Das ist schon viel Wert. Einen schönen Tag noch.“



2

Es dauerte eine gute Weile, bis Gerhard sein Haus erreichte. Die Schmerzen in seinem Bein verstärkten sich, und er brummte vor sich hin, dass er unter diesen Umständen ganz sicher nicht jeden Tag einen Spaziergang machen würde. Das war ja Quälerei. Er sah das Haus schon eine ganze Weile, aber die Entfernung schien kaum zu schrumpfen. Das mochte natürlich auch daran liegen, dass es sich inmitten eines sehr großen Gartens befand, den man schon fast als Park bezeichnen konnte. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und der Wunsch, sich endlich hinzusetzen und das Bein hochzulegen wurde immer stärker. Er versuchte sich abzulenken, indem er in Gedanken die Handlungen seines aktuellen Romans überlegte, aber die Schmerzen in seinem Knie ließen diese Ablenkung nicht zu.

„Haben S’ arge Schmerzen? Oder ist der Stock nur zur Zierde wie bei meinem Opa?“, fragte plötzlich eine helle Kinderstimme neben Gerhard.

Wie aus dem Nichts war direkt neben ihm ein schlanker schmaler Bub aufgetaucht. Blondes Haar leuchtete wie ein reifes Weizenfeld in der Sonne, strahlende blaue große Augen schauten den Mann aufmerksam, neugierig und vergnügt an.

„Das tut weh, kann man doch sehen, oder net?“, knurrte Gerhard unfreundlich. Wieso sprach ihn dieses Kind hier und jetzt an?

„Dann sollten S’ doch vielleicht ganz einfach eine Pause machen“, schlug der Bub praktisch vor. „Schaun S’, da vorn wohnen meine Mama und ich. Da können S’ ein bisserl ausruhen und einen kalten Tee trinken. Mama sagt immer, bei warmem Wetter ist Tee das Beste. Und sie hat bestimmt nix dagegen, wenn S’ ein bisserl mit ihr plaudern.“

„Ich hab’s nimmer weit bis nach Hause. Da braucht’s keine Pause“, gab Gerhard zurück.

„Nimmer weit?“, forschte das Kind und legte den Kopf etwas schief. „Aber hier an der Straße tät’s nur noch drei Häuser geben, eines gleich neben uns, und die beiden anderen ein gutes Stück weg.“

Der Bub mochte vielleicht sieben oder acht Jahre alt sein und besaß eine bemerkenswerte Logik.

„Ach, ich weiß, dann sind S’ der Mann neben uns, der die Bücher schreibt, von denen Mama gesagt hat ...“

„Sven? Sven, wo bist du?“, rief eine besorgte Frauenstimme, und das Kind seufzte.

„Das ist Mama, sie lässt mich kaum aus den Augen, weil sie Angst hat, ich könnt einen Anfall bekommen. Dabei bin ich doch bestimmt sicher, wenn ein Erwachsener wie Sie in meiner Nähe ist.“

Gerhard wollte gar nicht so genau wissen, an welcher Krankheit mit welchen Anfällen das Kind litt, und es war ihm äußerst lästig, dass Sven nicht von seiner Seite wich. Er wollte keine Unterhaltung, weder mit dem Buben, noch mit der Mutter, er wollte auch keine Pause in dem benachbarten Haus machen, und schon gar nicht wollte er ...

Der Gedanke formte sich in seinem Kopf nicht zuende, als er die schlanke, bildhübsche Gestalt sah, die aus dem Gartentor trat und sich suchend umschaute.

„Sven, da bist du ja. Aber hab ich dir net gesagt, du darfst net mit fremden Leuten reden?“

„Aber Mama, das ist doch kein Fremder. Das ist doch unser Nachbar. Und dem tut ganz arg was weh. Der sollt’ besser eine Pause bei uns machen, meinst net auch? Dann könnt ihr euch auch gleich mal kennenlernen, wo du doch immer sagst ...“

„Ich weiß recht gut, was ich gesagt hab, junger Mann“, rügte sie mit gespielter Strenge, hatte aber einen liebevollen Blick. „Bitte entschuldigen S’ die Aufdringlichkeit meines Sohnes“, meinte sie dann mit weicher Stimme und streckte die Hand aus. „Ich bin Jutta Voigt, und das ist mein Sohn Sven, wie S’ bestimmt schon festgestellt haben. Na, da hat der Bub ja gar net so unrecht, eine Pause tät’ Ihnen bestimmt gut, so wie S’ ausschauen. Kommen S’, ich lad’ S’ auf einem erfrischenden Tee ein, dabei können wir uns kennenlernen, wo wir doch schon Nachbarn sind.“

Gerhard fasste sich jetzt wieder. Er war zuerst völlig verblüfft gewesen, denn diese Frau erinnerte ihn fatal und in schmerzlicher Weise an seine verstorbene Frau. Nur war Ingrid niemals so lebhaft und fröhlich gewesen. Jetzt, beim näheren Hinsehen, zeigten sich auch weitere Unterschiede, und eigentlich war die Ähnlichkeit gar nicht so groß. Doch der Mann wurde wieder an seinen Verlust erinnert, und ein Schatten flog über sein Gesicht.

„Oh, tut mir leid, bestimmt geht’s Ihnen net gut, da will ich mich auch net noch aufdrängen. Wie gedankenlos von mir. Vielleicht kommen S’ ein andermal zum Tee.“ Das Einfühlungsvermögen von Jutta Voigt war bemerkenswert, doch jetzt plötzlich wollte Gerhard nicht mehr so schnell weg.

„Halt, nein, warten S’ bitte“, hörte Gerhard sich selbst sagen. „Ich tät’ gern eine kleine Pause bei Ihnen einlegen, wenn ich net ungelegen komm. Und Nachbarschaft soll man pflegen, hat auch der Doktor gesagt. Ich nehm’ Ihre Einladung gern an.“

„Meinst net, solltest vielleicht noch ein bisserl spielen gehen, damit sich erwachsene Leut’ unterhalten können?“

„Ich will net hoffen, dass Ihnen das alles unangenehm ist, wenn der Sven Sie so einfach überfällt. Aber er ist ein lieber Bub und hat nur wenige Freunde. Wahrscheinlich ist er viel zu erwachsen für sein Alter, was dann meist etwas altklug wirkt.“

„Da gibt’s kein Mannsbild oder einen Vater für Sven“, gab Jutta etwas scheu zurück, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Die leichte Verlegenheit, die sich für kurze Zeit zwischen ihnen beiden entstellte, verflog rasch wieder, und wenig später befanden sie sich in einem angeregten Gespräch, was Gerhard Hoffmann zutiefst verwunderte. Wie kam er dazu mit seinen eigenen Prinzipien zu brechen und sich in Gesellschaft sogar wohlzufühlen? Darüber wollte er später nachdenken.

„Oh, Gott, Sven“, rief sie und rannte davon.