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VINCENZO LATRONICO

Die Verschwörung der Tauben
Roman

VINCENZO LATRONICO

DIE VERSCHWÖRUNG DER TAUBEN ROMAN

Aus dem Italienischen
von Klaudia Ruschkowski

I

DIE REPUBLIKANISCHEN
INSTITUTIONEN
(2004–2005)

II

DIE SPIRITUELLEN
EXERZITIEN
(2009–2011)

III

FRAGMENTE ZU DEN
REPUBLIKANISCHEN INSTITUTIONEN
(2005–2006)

IV

DER LANGE SCHATTEN
DER ZUKUNFT
(2013–2015)

Ein Hinweis

Danksagung

I

DIE REPUBLIKANISCHEN INSTITUTIONEN (2004–2005)

VON ZEIT ZU ZEIT wird jemand geboren, der eines schönen Tages den Entschluss fasst, die Welt zu erobern, und kurz darauf zieht er los auf der Suche nach einem Ort, wo er die Messer wetzen kann. Es gab die Offiziersschule, es gab den königlichen Hof, es gab den Weg, der vom Priesterseminar zum Bischofshut führte. Doch die Zeit vergeht, die Moden ändern sich. In Ermangelung eines Besseren besteht in einem Jahrhundert, das die Heere ignoriert, über den Papst spottet und die Könige nur aus Illustrierten kennt, der erste Schritt zur Eroberung der Welt in der Aufnahme an bestimmten Universitäten der Vereinigten Staaten.

Harvard zum Beispiel: Unter deren Absolventen befinden sich acht Präsidenten der Vereinigten Staaten und zweiundzwanzig anderer Nationen, vierzig Nobelpreisträger und der Zeitschrift Forbes zufolge einige Dutzend der reichsten Menschen dieser Welt. Der Intelligenzquotient der Harvard-Studenten liegt weltweit im obersten Drittel, ihr Vermögen im obersten Zehntel. Im Jahr 2003 betrug die Studiengebühr inklusive Versicherung, Verpflegung und Unterkunft etwa 70.000 Dollar, wie der siebzehnjährige Alfredo Cannella über die Homepage der Universität erfuhr, wobei er rasch überschlug, dass dies rund 200 Dollar pro Tag entsprach. Sonntage inbegriffen.

Für ihn als gut situierten Venezianer, als Käufer von Ruhm und Ehre, war die Studiengebühr kein Hindernis. Als hindernd erwiesen sich vielmehr die Vorstellungen seiner Eltern. Als er mit ihnen über Harvard sprach, wichen sie aus und baten ihn, nochmals darüber nachzudenken. Kein Cannella war je losgezogen, um sich von den Amerikanern, die in der Schule nicht einmal Latein lernen, etwas beibringen zu lassen.

Die Eltern beratschlagten später unter vier Augen darüber, als sie von ihrer Yacht im Golf von Positano aus den Sonnenuntergang betrachteten, gelangten aber zu keiner Entscheidung, da an einem bestimmten Punkt ihr Gespräch in das Schweigen mündete, in das ihre Gespräche meistens mündeten.

»Selbst wenn wir ihn ließen, sie werden ihn nicht nehmen«, dachte Alfredo Cannellas Vater.

»Die Wellen sehen aus wie eisgekühlter Martini«, dachte seine Mutter.

Am Morgen des 21. April 2004, im überwältigenden Frühling des kampanischen Küstenstreifens, bestellten die Cannellas ihren Sohn auf die Brücke und teilten ihm mit, dass er ihretwegen nach Harvard gehen könne – so er denn angenommen würde, woran ja sicher kein Zweifel bestehe. Im Sommer solle er in Harvard einen Englischkurs besuchen, um den Ort schon einmal kennenzulernen.

»Und jetzt schwimmst du eine Runde«, beendeten sie die Bekanntgabe, »das Meer ist heute so sanft wie Bouillon.«

Als Alfredo Cannella Ende Juni in Cambridge eintraf, überfiel ihn der Geruch des Ozons, das nach einem Gewitter in der Luft hängen geblieben war, und der des Geldes. Er verbrachte einen herrlichen Monat in dem Apartment, das die Sekretärin seines Vaters für ihn gemietet hatte, lernte endlich den richtigen Gebrauch von should und could und zwei oder drei andere Dinge über das Leben. Er verbrachte viele seiner Nachmittage damit, Bier zu trinken, was ihm kraft Gesetzes verboten war, und malte sich aus, wie er in den nächsten Jahren über die karmesinroten Wege des Harvard Square schlendern würde. Er sah sich schon als Teil der Studenten, der angenommenen: reich, attraktiv und smart, bereit, die beste Ausbildung und Zukunft in Empfang zu nehmen, die ein niedergehendes Abendland zu bieten hat, bereit, das bourgeoise Recht der Zeitverschwendung in die Tat umzusetzen, bereit für Sex. Er verbrachte viele Abende mit einer achtzehnjährigen Kroatin, die ihre eigenen Gründe hatte, sich in Harvard umzusehen. Sie trafen sich nach der Englischstunde auf der Brücke, die von der Cowperthwaite Street zum Institut für Politikwissenschaft führt. Sie wollte Psychologie studieren, setzte sich auf der Bank nie zu dicht neben Alfredo und erzählte ihm, wie Amerika auf jemanden wirkt, in dessen Haus noch das Echo des Krieges widerhallt. Alfredo sprach von Musik und Geld und davon, was es heißt, in Venedig zu leben, von dem ihr einige Reisen ihres Vaters eine Vorstellung vermittelt hatten, wo sie selbst jedoch noch nie gewesen war.

»Ich war noch nie in Venedig, kannst du dir das vorstellen? Dabei ist es ganz nah«, sagte sie, »auf jeden Fall scheint es so, von Kroatien aus. Als ich ein Kind war, erzählte mir mein Vater, dass man es bei gutem Wetter von der Küste aus beinahe sehen kann«, und bei makellosem Himmel war er sicher, den Umriss der ein oder anderen Festungsinsel ausmachen zu können oder den einer Gondel weit in der Ferne, auf der anderen Seite der Adria, »aber was ich sah, als ich auf die Mole ging, hatte nichts mit Venedig zu tun. Verstehst du?«

Alfredo verstand nichts, da er mit der Formulierung von Metaphern beschäftigt war, um ihre Brüste zu beschreiben, Metaphern, die mit Früchten zu tun hatten. Es waren Bilder, von denen er hoffte, sie später, nachts, in einem intimen Moment einsetzen zu können. Sie blieben ungenutzt.

Am Ende des Sommers hatte Alfredo nicht die sexuellen Erfahrungen gemacht, die er sich erhofft hatte, aber dazu, tröstete er sich, bliebe ihm noch ein Jahr im Gymnasium, in dem ihm die Sicherheit auf eine Zukunft in Harvard alles erleichtern würde. Er irrte sich.

Alfredo Cannella sollte sich in noch etwas anderem irren: Trotz der Unterstützung der Lehrer, trotz überdurchschnittlicher schulischer Leistungen, trotz des väterlichen Vermögens und der außerschulischen Aktivitäten – Schwimmen, Sprachen, Lions-Jugend – wurde seine Bewerbung zur Aufnahmeprüfung für Harvard abgelehnt. Man teilte es ihm in einem knappen Schreiben mit, das am 28. März 2005 in Venedig eintraf, in einem plastikumhüllten und mit Stempeln versehenen Umschlag, der kaum länger als zehn Minuten im Briefkasten geruht hatte, bevor ihn ungeduldige Hände herauszogen. Das Schreiben wurde von Alfredos Vater im Esszimmer verlesen, in Anwesenheit von Mutter, Haushälterin und Hund.

»Sie haben dich nicht genommen«, kommentierte der Vater.

»Wie?«

»Du bist abgelehnt.«

»Ah«, staunte Alfredo, betrachtete seinen Fuß auf dem Wohnzimmerteppich und sagte eine ganze Weile lang nichts.

Alfredo Cannella nahm die Ablehnung weitaus schwerer, als er zu erkennen gab, und niemand bemerkte, wie sehr es ihn schmerzte, in aller Frühe aufzustehen, den Zug nach Mailand zu nehmen und dort problemlos die Aufnahmeprüfung für die Wirtschaftsuniversität Luigi Bocconi zu bestehen.

An der Bocconi lernte er Donka Berati kennen. Sie begegneten sich im dritten Semester, kurz nachdem Donka aus Cambridge gekommen war. Anders als Alfredo Cannella war Donka Berati zwei Jahre zuvor in die Harvard Corporation of America aufgenommen worden, noch dazu mit einem Begabtenstipendium. Er hatte mit exzellenten Ergebnissen studiert, zumindest eine Zeit lang, eine Zeit, die mit seinem spektakulären Ausschluss ein Ende fand.

II

DIE SPIRITUELLEN EXERZITIEN (2009–2011)

AM 12. SEPTEMBER 2009 erfuhr Donka Berati von Professor Eugenio Corradini, dass sein »Freund und Zimmergenosse« Alfredo Cannella kein Forschungsstipendium für die Dissertation an der Universität Mailand erhalten würde. Er hingegen schon. Als Donka das Resultat vernahm, war der Wettbewerb noch nicht einmal ausgelobt, der Professor, der sich in der Wahl seiner Lakaien im Gegensatz zu Napoleon für äußerst befähigt hielt, hatte bereits über den Ausgang der Bewerbung entschieden und Donka an jenem Nachmittag in die Fakultät bestellt, um über Künftiges zu reden. Bevor er das Haus verließ, hatte Donka überlegt, ob er Alfredo sagen sollte, wohin er ging, wollte jedoch nicht, dass der Freund sich fragte, warum beider Professor nur Donka zum Gespräch geladen hatte. Also sagte er ihm nichts, vielleicht weil er sich den Inhalt des Gesprächs schon vorstellen konnte, vielleicht aber auch nicht.

Als Donka Berati das Zimmer betrat, missbilligte Eugenio Corradini instinktiv dessen schwere, zum Schwitzen neigende Statur. Er stellte fest, dass sie ihn an seine eigene erinnerte, durch dreißig Jahre Wasserball ertüchtigt und erschlafft durch vierzigjährigen Alkoholkonsum – gut, aber der Albaner war ein halbes Jahrhundert jünger als er. In diesem halben Jahrhundert war Professor Corradini an zwei Mailänder Universitäten zu einem Posten als Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte gelangt – die eine privat, die andere nicht – und hatte einige Machtpositionen in Vorständen von Bankstiftungen und philanthropischen Gesellschaften erobert. Auf ebendiese Positionen hatten es Jahr für Jahr die weitsichtigsten seiner Studenten, die sich ihm als Assistenten empfahlen, abgesehen: ein dreijähriger Dienst im Tausch gegen die Aussicht auf eine glänzende Zukunft. Donka Berati setzte sich dem Professor gegenüber, ohne dass ihm der Stuhl angeboten worden wäre, und registrierte, dass der Tauschhandel in diesem Jahr auf ihn fallen sollte. Professor Corradini fragte sich, ob Berati bereits den nötigen Weitblick hätte, um zu begreifen, warum er und kein anderer hier vor ihm saß. Zerstreut tat er so, als kontrollierte er sein Postfach, und prüfte wie nebenbei, ob Berati Cannella von dieser Unterredung erzählt hatte.

»Es ergab sich keine Gelegenheit«, sagte Donka. »Hätte ich sollen?«

Eugenio Corradini antwortete nicht und zündete sich eine Zigarette an, wobei er davon ausging, dass sein Absolvent nichts auf diese kleine Illegalität geben würde, bot ihm einen Espresso an und sagte, dass auch er, einmal Assistent, im Zimmer rauchen könne. Donka erwiderte, dass er seinen Espresso bereits getrunken habe.

Während er eine Frühlingszwiebel in hauchdünne Streifchen schnitt, hielt Alfredo Cannella an jenem Abend einen langen, an sich selbst gerichteten Vortrag, der dazu dienen sollte, die durch die väterlichen Vorhaltungen heraufbeschworenen Gespenster zu verscheuchen. Bei seiner Entscheidung, sich für die Zulassung zum Doktorat zu bewerben, ging es nicht darum, das Studentendasein zu strecken und die Kindheit bis ins dreißigste Lebensjahr zu verlängern. Ebenso wenig ging es darum, sich im öffentlichen Dienst zu parken, der Konkurrenz in der Arbeitswelt auszuweichen, sich der natürlichen Selektion zu entziehen. Es ging hier um den Beginn einer aufstrebenden Karriere, um eine Auszeichnung für brillante Hirne. Alfredo hatte die Frühlingszwiebel zerkleinert und schob das Grün in eine Aluminiumschale, um den Sellerie, den es als nächstes traf, geschmacklich nicht zu kontaminieren. Sollte sein Vater wirklich die monatliche Zuwendung streichen, um ihm zu zeigen, »wie es ist, sich mit einem staatlichen Hungerlohn durchzuschlagen«, dann könnte er immer noch Donkas Miete erhöhen – das aber nur als Möglichkeit, auf die er lieber nicht zurückgreifen wollte, er würde schon irgendwie klarkommen. Besser als mit einem Abschluss bei Corradini konnte man die Bocconi nicht verlassen – und der Posten als dessen Assistent an der Universität Mailand, an der Statale, war weit mehr als der erste Schritt zu einer gesellschaftlich gut vernetzten akademischen Karriere. Der Vater verstand das nicht. Alfredo sah sich schon in ein paar Jahren neben Corradini an den richtigen Tischen der öffentlichen Verwaltung sitzen. Zugegeben, er sah sich vor allem auf Festen und Empfängen, wo diverse hohe Manager in seinem Kleidungsstil, seinem Benehmen einen weiteren Sohn der besten Gesellschaft erkannten, und das Erkennen dieser Tatsache würde für ihn Gold wert sein.

Die Feste fanden auf Terrassen statt oder in alten Sälen mit hohen Decken, an Corradinis Seite er und ihm zur Seite Donka als eine Art Schutzengel, der ihm sein Können zur Verfügung stellte und Freundschaft gelobte, da er verstand, dass er nur gemeinsam mit Alfredo in jenen Kreisen akzeptiert war. Alfredo sah sich, wie er vor dem Büro seines Vaters einen Porsche abstellte, in der zweiten Reihe, einen Firmenwagen der Consultingagentur, die er mit Donka Berati eröffnet hatte. Während er lächelnd dasaß und der Vater einen Schwall schlimmster Mutmaßungen hinsichtlich seiner Zukunft als Hungerleider über ihn ergoss, öffnete eine Sekretärin ohne anzuklopfen die Tür: »Herr Doktor, ist das Ihr Porsche, der die Einfahrt blockiert?« Und schlagartig würde sein Vater begreifen. Er würde begreifen, dass es ein Irrtum gewesen war, Alfredos Entscheidung abzulehnen und zu glauben, die Fortsetzung des Studiums sei eine intellektuelle Marotte oder ein zum Scheitern verurteiltes Begehren oder schlicht etwas, das der Sohnespflicht, zum Anwachsen des Vermögens beizutragen, zuwiderliefe. Er würde ihn um Verzeihung bitten und darum, zum Abendessen zu bleiben, »denn deine Mutter hat die Köchin gebeten, die Leber so zuzubereiten, wie du sie am liebsten magst.«

Als das Öl heiß genug war, ließ Alfredo die Karottenscheiben hineingleiten und spülte das Messer ab, ehe die Gemüsereste auf der Keramikschneide verkrusten konnten. Donka betrat die Küche, goss ein Glas Wein für sich ein und eins für Alfredo, der ihm vorschlug, auf ihren bevorstehenden Erfolg anzustoßen. »Chaos unseren Feinden«, prostete Alfredo, und Donka pflichtete bei: »Chaos.« Er trank hastig und stahl sich ein rohes Fleischstück aus dem Häuflein, das darauf wartete, sich in ragù zu verwandeln. Alfredo bemerkte, dass die Termine der schriftlichen Prüfungen nun feststünden, zwei Wochen hatten sie noch Zeit. »Sollen wir uns vorbereiten, was meinst du?« Donka zögerte, zündete sich eine Zigarette an, und Alfredo gab sich die Antwort selbst. Wie sollte man sich vorbereiten? Das Feld war viel zu weit, es würde genügen, sich auf das Thema der Diplomarbeit zu beziehen, Corradini hatte sie beide mit einem cum laude versehen, warum sollte es jetzt anders sein? Er füllte die Gläser nach und drängte Donka, auf all die Prüfungen anzustoßen, auf deren Ergebnisse sie in den Säulengängen und Korridoren der Universität gewartet hatten, betend für die Höchstpunktzahl oder für eine Nacht mit ordentlichem Sex.

Donka betrachtete die stattliche Figur seines Freundes, seine schwarze Locken, das Gewinnerlächeln, und unterschwellig schmerzte ihn der Anblick. Während der vier Jahre, die er nun in Mailand und fast ausschließlich mit Alfredo verbracht hatte, war ein gewisser Neid auf Alfredos Gelassenheit, die er Frauen gegenüber an den Tag legte, zum festen Bestandteil ihrer Freundschaft geworden, ebenso wie die nächtlichen Gelage, die ironischen Bemerkungen über Harvard, die Bestnoten und Auszeichnungen, die mal der eine erhielt, mal der andere. Donka leerte das Glas in einem Zug, hob seinen Mantel auf, der vom Kleiderhaken gefallen war, und ging, in der Tasche, was Professor Corradini ihm mitgegeben hatte: den Ausdruck des Konzeptes der schriftlichen Prüfung zum Doktorat. »Wann bist du zurück?«, fragte Alfredo, und Donka erwiderte: »Spät.« Vom Fenster, das zum Innenhof ging, der auf die Via Borsieri führte, rief Alfredo ihm einen Dank zu, der dem Albaner guttat in Anbetracht der Tatsache, dass er sich den Abend irgendwo anders um die Ohren schlagen würde, um Alfredo freie Bahn mit seiner Erasmus-Studentin zu lassen, die in Kürze eine echte pasta al ragù all’italiana probieren sollte, die Glückliche.

Nach der schriftlichen Prüfung nahmen Donka und Alfredo die Metro zur Viale Zara, um das Ereignis bei einem Kebab und zwei Bier im nicht weit von der Metrostation entfernten Imbiss zu feiern. Laut diskutierend betraten sie den Raum, in dem der Dunst von Bratfett schwer in der Luft hing, mussten jedoch warten, bis sich Eltjon Thika, der Inhaber, aus dem Hinterzimmer blicken ließ – seine Mutter hinter der Theke weigerte sich, ihnen Alkohol zu verkaufen, da sie die Entscheidung des Sohnes missbilligte, die Religion dem freien Markt zu opfern. Außerdem stand das Bier im obersten Regal des Getränkekühlschranks. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre sie nicht herangekommen. Dieser Standort war ihre Idee, denn wie sie Eltjon erklärt hatte: »Besser, jeder Verführung gleich aus dem Weg gehen.«

Als sie bestellen wollten, boykottierte die Frau sie durch Schweigen. Sie rief nicht einmal ihren Sohn, dessen schmale, bärtige Gestalt sich aber nach kurzer Zeit zeigte. »Zwei Fladen, wie immer?«, fragte er, und Alfredo bestellte noch zwei Bier. »Bier am Mittag!«, rief Eltjon.

»Was gibtʼs zu feiern?« Alfredo teilte ihm mit, dass er und Donka dabei seien, die Welt zu erobern. Thika, der mit Donka die albanische Nationalität und mit Alfredo den Wunsch nach Eroberung der Welt teilte, nickte beifällig. Seine Mutter zog sich hinter die Kasse zurück, ihr behagten diese ansteckenden Ideen gar nicht, und Eltjon machte sich daran, das auf den Grill gespießte Fleisch zu schneiden, wobei er ausdrücklich darauf hinwies, wie reichlich die Portionen für seine Stammkunden ausfielen.

Alfredo öffnete eine Flasche und fragte, wie die Geschäfte liefen, worauf Eltjon verkündete: »Großartig! Wie immer!«, und sich dann auf sie stürzte, um ihre Meinung einzuholen.

Er hatte beschlossen, trug er vor, eins seiner Phone Center zu schließen, nicht das in der Via Porro Lambertenghi, sondern das weiter draußen, in der Via Padova, und fragte sich, wie er das Geld am besten investieren solle.

Die Mutter unterbrach ihn und wandte sich auf Albanisch direkt an Donka. »Sag ihm, er soll keinen Blödsinn machen. Geld ist ein Segen, darauf muss man achten. Er achtet nicht darauf.«

Eltjon hieß sie schweigen und redete wieder von seinem Phone Center. Die Sache an sich war nicht verkehrt, das eine lief sehr gut. Er wollte das andere schließen, weil er den Fehler gemacht hatte, sich auf die albanische Kundschaft einzulassen. »Das sind Brüder«, sagte er und lachte, »die zahlen nicht.«

Alfredo und Donka setzten sich auf eine der blauen Bänke und bilanzierten die Prüfung, während sie ihre Kebabs aßen. Alfredo war erstaunt über die Fragen, sie erschienen ihm sehr spezifisch, vielleicht zu spezifisch. Er hatte vom Thema abweichen müssen, um auf seine Diplomarbeit zu sprechen zu kommen, worin er letztendlich aber die einzige Möglichkeit gesehen hatte sicherzugehen, dass Corradini sein Papier in der Anonymität der Arbeiten ausmachen würde.

Donka verspürte einen kleinen Stich und versuchte, Alfredo zu spöttischen Bemerkungen über einen ihrer Konkurrenten zu verleiten. Sie hatten ihn im Warteraum vor dem Hörsaal kennengelernt, in dem die Prüfung angesetzt war. Während sie sich die Hände an einem mittelmäßigen Espresso aus dem Automaten wärmten, ging er in dem schmalen Raum zwischen den Kandidaten auf und ab, spielte mit seinem roten Schal und erläuterte einer Freundin lautstark seine Ansicht über diese Prüfung. Ihm zufolge handelte es sich um einen abermaligen Beweis dafür, wie schlecht es in Italien um die Dinge steht, wie viel Schlendrian herrscht, wie sehr Machtspielchen selbst die kleinsten Dinge durchsetzen. Er würde den Ausgang des Wettbewerbs bereits kennen, sagte er, weil die Sekretärin des Regionalassessors für Bildung eine Freundin seiner Mutter sei und sie morgens angerufen hätte, um ihrem Sohn von der Teilnahme abzuraten, da die Sache schon entschieden und er sowieso draußen sei. Donka und Alfredo nippten an ihren Espressi, schlugen die Beine übereinander und zwangen sich, in eine andere Richtung zu schauen, doch der Redner wandte sich um und fixierte sie. Er kam auf sie zu und fragte Donka, den er warum auch immer kannte, ob ihn als ehemaligen Harvardianer diese Spielchen nicht anekelten. Donka lächelte betrübt und sagte: »Ja, ein wenig schon.« Alfredo befreite sich mit einer bissigen Bemerkung von dem Unbekannten und suchte einen einvernehmlichen Blick mit dem Freund. Der aber sah aus dem Fenster. Auch sie kannten das Resultat dieser Prüfung bereits – oder besser gesagt: Sie kannten zwei.

In den vierzehn Tagen zwischen der mündlichen Prüfung und der Bekanntgabe der Resultate hatte Donka viel in der Bibliothek zu tun, sodass es für Alfredo kaum Gelegenheit gab, sich mit ihm über die Erwartungen an das Kolloquium zu verständigen. Als Cannella sich im neuen Anzug von Canali, einem Geschenk seiner Mutter, die stolz darauf achtete, ihren Sohn auch bei Misserfolgen elegant zu sehen, vor dem Prüfungsausschuss präsentierte, war Eugenio Corradini, wie ihm schien, über sein gutes Ergebnis freudig überrascht. Alfredo hatte es sich bequem gemacht – den Blick auf die beiden anderen Prüfer gerichtet, in der Gewissheit, dass eine geheime Aktion seines Protektors ihn vor deren Versuchen, irgendeinem zweitrangigen Protegé den Vorzug zu geben, schützen würde. Donka hatte keine Regung gezeigt, als Corradini Alfredo ausdrücklich begrüßte. »Cannella«, sagte er, »welch eine Überraschung, Sie hier zu sehen.« Alfredo war sich sicher, Corradinis Ironie richtig interpretiert zu haben.

In der Gewissheit, dass die Bürokratie seinen Sieg stillschweigend amtlich bestätigte, traf sich Alfredo in den folgenden Tagen ein paarmal mit der Erasmus-Studentin, die sein ragù sehr zu schätzen wusste. Sie hieß Jane Entrekin, studierte Politikwissenschaft in Glasgow und war der Überzeugung, Alfredo hätte einen Assistentenposten an der Universität Mailand, was in dessen Augen durchaus der Wahrheit entsprach. Sie hatte unter der linken Brust ein bräunliches Muttermal, das er sehr aufregend fand und das sich verdunkelte, je erregter sie wurde, bis es fast schwarz hervorstach, wie ein kleiner nächtlicher Teich, dessen Ränder sich röteten, je intensiver es sich an Cannellas behaarter Brust rieb. An einem Nachmittag genossen sie die letzte Oktobersonne und spazierten Eis essend durch Isola im Norden Mailands, einer Gegend, in der zu leben, Alfredo aufrichtig stolz war. Er unterhielt sie mit Anekdoten und Details, die ihm erzählenswert oder pittoresk vorkamen und die in seiner Fantasie durch Tiefgang, Witz und Scharfsinn brillierten. Fast alle waren sie erfunden.

Jane tat entzückt, interessierte sich jedoch in Wirklichkeit weitaus mehr für die geschmeidige Ebenmäßigkeit von Alfredos Schultern als für eine Peripherie, die sich mit jeder anderen Peripherie vergleichen ließ. Sie war in Mailand gelandet, da das Erasmus-Büro ihre Anfrage für Paris abgelehnt hatte, und in dem knappen Monat, den sie bislang zum Kennenlernen gehabt hatte, war ihr Mailand als unwirtliche Stadt erschienen, zu grell erleuchtet und viel zu teuer. Als er aus dem Kino kam, sah Donka die beiden an einem Tisch im Frida sitzen und aus langstieligen Gläsern trinken, tat aber so, als hätte er sie nicht bemerkt, setzte seinen Weg fort und verkroch sich in seinem Zimmer. Er schaute im Internet, ob die Ergebnisse der Prüfung schon zu finden waren – das war nicht der Fall –, und ging mit dem ersten Akt von Rossinis Diebischer Elster in den voll aufgedrehten Kopfhörern zu Bett.

Alfredo Cannella überflog die Ergebnisse des Wettbewerbs zum XXIV. Promotionszyklus in Wirtschaftsgeschichte und Politikwissenschaft bei einem übersüßten Kaffee am Morgen des 18. November 2009, während Jane Entrekin langsam erwachte und Donka noch hörbar in seinem Zimmer schlief. Er schloss das Dokument, spülte die Tasse aus, stellte fest, dass er einen weiteren Kaffee brauchte, und goss ihn in ein sauberes Glas. Erneut öffnete er die Liste auf dem Bildschirm, fixierte den Namen Cannella an vierter Stelle und den von Berati an erster und ging in sein Zimmer, um Jane zu wecken. Er fand sie noch schlaftrunken mit dem Verschluss ihres Büstenhalters kämpfend, gab vor, ihr helfen zu wollen, zog sie aus und schlief geräuschvoll mit ihr, um sicherzugehen, dass das ganze Haus es mitbekam. Als sie von Neuem erwachten, roch es im Innenhof bereits nach Mittagessen, und Jane flüsterte ihm ins Ohr: »Heute Morgen warst du ein ganz anderer.« Alfredo erwiderte, er sei immer derselbe, und Jane fragte: »Stört es deinen Freund nicht, wenn wir so laut sind?« Nichts könne die Harvardianer stören, gab Alfredo zurück.

Jane kannte auch jemanden, der in Harvard studiert hatte, eine Cousine zweiten Grades, wie sie sagte, die das Studium allerdings schon früh aufgegeben hatte, im zweiten Semester, nach dem ersten Nervenzusammenbruch. Alfredo erzählte ihr, dass Donka wegen einer hässlichen Geschichte aus Harvard verwiesen worden sei, und dass ihm diese Geschichte immer noch nachhänge. »Weißt du«, sagte er, »der Wettbewerb kann dich wirklich ruinieren.« Dann bat er sie, zu Hause zu duschen, da er sofort aufbrechen müsse, er würde sie ein Stück begleiten. Alfredo eilte Jane voraus zur Metrostation, doch anstatt mit ihr in die Bahn einzusteigen, ging er zu Fuß weiter, unter einem tief hängenden und dumpfen Himmel, wie es ihn nur in Mailand gibt, einem Himmel, dessen Licht einer opaken Neonröhre in einem leeren Raum gleichkommt.

Donka Berati und Alfredo Cannella hatten sich vor drei Jahren kennengelernt, im zweiten Jahr des Studiums der Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Luigi Bocconi in Mailand, als Cannella, der verspätet zum Seminar erschien, gezwungen war, sich in die erste Reihe neben einen übergewichtigen Kommilitonen zu setzen, dem er normalerweise keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Inmitten der reichlich umständlichen Erklärungen hatte sein Nachbar den Professor unterbrochen und um eine Präzisierung zum Zitronenmarktproblem gebeten. Der Professor war für einen Augenblick wie versteinert, erhob sich dann und fragte nach dem Namen dessen, der gesprochen hatte.

»Donka Berati.« Im Hörsaal wie auf den gelangweilten Gesichtern der Hörer verbreitete sich Schweigen.

»Berati«, wiederholte der Professor. »Sind Sie Italiener?«

»Albaner.«

»Sie werden seit der ersten Stunde des letzten Jahres wissen, Berati, dass der Zeitpunkt für Fragen oder Erläuterungen am Ende einer Sitzung liegt.«

Donka hatte den Oberkörper nach vorn gebeugt und ihm gesagt, dass er im letzten Jahr nicht an der Bocconi gewesen war und dass »meiner Meinung nach die Möglichkeit, sofort Klärungen zu erfragen, zur Vereinfachung ...«

»Ich weiß nicht, wie die Universitäten bei Ihnen in Albanien funktionieren, Berati, aber hier bei uns stellt man die Fragen dann, wenn sie erbeten werden.«

»Ich habe nicht in Albanien studiert«, hatte Donka langsam erwidert und ein Lachen unterdrückt. »Ich war in Harvard.«

Alfredo hatte sich Donka am Ende jener Sitzung vorgestellt. Beim Examen schloss Donka Berati trotz einer langwierigen und mit Hinterhalten gespickten Prüfung mit Höchstnote ab, wie übrigens auch Alfredo Cannella, da sich beide von Anfang an gemeinsam vorbereitet hatten. Im Laufe der Zeit und dank ihrer Wohngemeinschaft – auf Vorschlag von Alfredo, dessen Vater ihm ein etwas zu großes Apartment in einem aufstrebenden Stadtviertel geschenkt hatte – war es Donka gelungen, mit den Anfällen von schlechter Laune und der Impulsivität des Venezianers fertigzuwerden, und Letzterer hatte sich bemüht, ihm das Verbrechen zu verzeihen, dort gewesen zu sein, wo er selbst gescheitert war: in Harvard. Donka hatte Alfredo nie genau erklärt, warum er von Harvard verwiesen worden war, und Alfredo hatte nie ausdrücklich danach gefragt, sondern sich hin und wieder an dem Gedanken erwärmt, dass man vermutlich durchschaut hatte, dass auch Donka nichts an jenem Ort verloren hatte. Donka lernte, das Thema zu vermeiden, selbst wenn die Umstände ihn von Zeit zu Zeit daran denken ließen, und darüber hinaus, ein paar Cocktails zuzubereiten, die dem Freund zufolge seinen Erfolg bei den Frauen steigern würden. Leider zeigte nicht ein Einziger die erwünschte Wirkung.

Als Donka abends nach Hause kam, war er nicht überrascht, dass Cannella ihn in der Küche erwartete. Bis zuletzt hatte er sich gefragt, ob er ihm vorab von den Ergebnissen erzählen sollte, aber ihm schien, dass ihn dies in eine schwer zu rechtfertigende Lage gebracht hätte. Es gab eine ganz einfache Erklärung für Corradinis Begünstigung, aber er wusste, dass es sich hierbei um etwas handelte, das nicht ausgesprochen werden konnte. Er hatte sich dafür entschieden, Kummer und Überraschung zur Schau zu stellen, zu lügen und Alfredo zu versprechen, den Professor nach den Gründen für dessen Kehrtwende oder, was wahrscheinlicher war, für dessen Zugeständnis an etwas zu fragen, das offensichtlich auf höheren Befehl hin geschehen war. Aber er war bei dem Gedanken zu lügen nicht glücklich, denn immerhin handelte es sich um seinen besten Freund, und außerdem war ihm klar, dass er schneller durchschaut werden könnte, als man private equity sagen kann, daher hatte er den ganzen Tag unschlüssig im Viertel verbracht und überlegt, wie er darum herumkäme, Cannella zu begegnen, bevor der sich abregt hatte – also vielleicht in fünf oder zehn Jahren.

Gleich nachdem er morgens aus dem Haus gegangen war, hatte er mit Eltjons Mutter gesprochen, die gerade die Füllung für die Yufka zubereitete. »Ist er reich?«, hatte sie ihn gefragt, ohne die Augen vom Hackbrett zu heben.

»Ja«, hatte Donka geantwortet.

»Dann ist es besser so, die Reichen sollen dem Staat Geld geben, nicht nehmen.«

»Aber was sage ich ihm?«

»Sag’s ihm genau so

Früh am Nachmittag war er zur Universität gegangen, um Corradini zu treffen, in der Hoffnung, ihm eine Idee für eine Rechtfertigung zu entlocken, die er Cannella vielleicht verkaufen könnte – und um ihm zu danken, versteht sich. Corradini war nicht da, wie ein Stapel Briefe vor dessen Tür zeigte. Eine in gelbes Leder gebundene Examensarbeit war vom Stapel gerutscht und vor Donkas Füßen gelandet, der sie wieder obenauf legte, ohne ihr weitere Beachtung zu schenken. Bevor er ging, studierte er das Schwarze Brett mit den Zulassungsergebnissen zum Doktorat. Eine Gruppe von Studenten, deren Kopfbedeckungen und gewollt gelangweilte Gelassenheit sie als Philosophen zu erkennen gaben, stand vor einem Aushang versammelt. Zwei von ihnen beschimpften lautstark einen Dritten, der, wie es schien, bis zum Schluss um sein Stipendium gezittert hatte, nur um das Mitleid und den Zuspruch seiner Kommilitonen zu erschleichen. Jetzt, da er das Stipendium erhalten hatte und offiziell zum Staatsdiener geworden war, forderten sie ihn auf, eine Feier auszurichten und all diejenigen zum Trinken einzuladen, denen er mit seinen erfundenen Bedenken auf die Nerven gegangen war. Donka hatte überlegt, ob auch er eine Feier organisieren sollte, da ihm aber eingefallen war, dass der einzig sichere Gast vermutlich Alfredo sein würde, hatte er beschlossen, darauf zu verzichten. Der Philosophiestudent, nun also Doktorand, sollte keine Siegesfeier ausrichten. Er sollte jedoch eine Party geben, als er die Doktorarbeit etwa ein Jahr später hinwarf, und sie Adieu, trister Montag nennen, denn von nun an würde er alle Freiheiten haben, den Sonntagabend ausgiebig zu genießen. Auch Donka sollte zu dieser Party eingeladen werden, bei der Alfredo dem Gefeierten aus verschiedenen Gründen einen Fausthieb versetzte.

Donka hatte sich für den Rest des Nachmittags in eine Bar an der Piazzale Archinto zurückgezogen, zwei Wohnblocks von zu Hause entfernt, die gratis ausliegenden Zeitungen gelesen und mit sich selbst auf einen leicht errungenen Sieg angestoßen. Gelegentlich ging einer der Dealer von der Piazza an seinem Tisch vorbei zur Toilette, wo er länger brauchte, als normal war. Als der Weißwein ihm genügend Bewusstlosigkeit oder vielmehr ausreichend Vertrauen in seine Improvisationsfähigkeit verliehen hatte, erhob sich Donka Berati, bat den Wirt, alles anzuschreiben, und machte sich endlich mit dem konzentrierten Schritt dessen, der einen Aperitif zu viel genommen hat, auf den Heimweg.

Alfredo Cannella empfing ihn mit einer Flasche offensichtlich teuren Weins und schien fest entschlossen, Donkas Sieg zu feiern. »Ich habe es bei den Brasilianerinnen versucht«, sagte er, »aber sie waren alle ausgebucht.« Als sie – wie immer – mit »Chaos unseren Feinden« anstießen, setzte Alfredo hinzu, dass er in Anbetracht des Ergebnisses irgendeinen versteckten Feind haben müsse. Donka wechselte das Thema und lobte Janes Aussehen, von dem noch nicht die Rede gewesen war. Alfredo erwiderte, er habe Jane abserviert, sie sei nur eine von denen, die abends mit Sonnenbrille durch die Gegend laufen, und für einen Augenblick genoss er alles, was Donkas Miene an Verwunderung zum Ausdruck brachte. Er kündigte an, dass er für einige Tage zu Freunden nach Rom fahren würde und dann, um ein paar Dinge zu regeln, zu seiner Familie, und als die Flasche leer war, schlug er vor, nach nebenan zu gehen und einen Kebab zu essen. Sie blieben bis spätnachts und sprachen nicht mehr über die Prüfung, weder an jenem Abend noch in den folgenden Monaten, und so geriet auch dieses Thema zwischen ihnen zu einem flügelschlagenden Gespenst, das nachts den Schlaf raubte und mit den Ketten rasselte.

Eine Woche später beobachtete Alfredo Cannella vom hell erleuchteten Büro seines Vaters im obersten Stock der venezianischen EdilCannella S.p.A. aus die Motorboote, die den Kanal vor der Piazzale Roma passierten. Kein Porsche parkte unten. Er war dem Drängen seiner Mutter gefolgt, dem Vater vom Scheitern des Doktorats zu berichten, bevor er sich mithilfe der Arbeitsvermittlung der Bocconi eine Beschäftigung suchen würde. Bei seiner Ankunft bat ihn die Sekretärin zu warten, der Vater müsse ein Telefonat führen.

Hinter einer etwas entfernt liegenden Tür, mit Blick auf ein Fenster, parallel zu jenem, von dem aus der Sohn über Venedig schaute, saß Giulio Cannella und rauchte schweigend. Er war sich nicht recht sicher, warum er beschlossen hatte, den Sohn warten zu lassen. Zu seiner Verteidigung sagte er sich, Alfredo müsse mehr Respekt lernen, er müsse lernen, der Macht zu begegnen und nach ihr zu verlangen – danach, sich auf der anderen Seite der Tür zu befinden, danach, wie der Vater zu sein. Allzu lange konnte er sich indes nichts vormachen: Giulio Cannella wusste, dass es den Sohn bereits danach verlangte, wie er zu sein. Es verlangte ihn nach den vermeintlich kleinen Dingen, nach dem Mantel seines Erfolgs: dem jovialen Lächeln, dem Dunst von Geheimnis, der den Gewinner umgibt. Es verlangte ihn danach, weil es alle danach verlangte, und weil er unter den ehrgeizigen Blicken der Eltern, die ihm solch eine Zukunft als seine eigene ankündigten, groß geworden war. Warum aber, fragte sich Giulio Cannella, während er die Rauchwolken auf den Kanal hinausschickte, verlangt es ihn nicht so sehr nach dieser Macht, dass es ihm auch gelingt, sie sich zu verschaffen?

Er wählte die Sekretärin im Nebenzimmer an. Als diese die Nummer des Präsidenten sah, bedeutete sie Alfredo hineinzugehen, da sie vermutete, dies wäre der Grund für Cannellas Anruf, hielt ihn jedoch gleich darauf zurück, wobei sie ihm fast am Arm riss. Sein Vater, entschuldigte sie sich, habe nur einen Kaffee verlangt, das Telefonat zöge sich länger hin als erwartet. Wenn er wolle, könne er auch einen bekommen.

Letztlich brachte der Kaffee Giulio Cannella aber auch keine Lösung. Vielleicht hatten sie sich geirrt, er und seine Frau, während Alfredos ganzer Kindheit und Jugend darauf zu bestehen, dass er den Stammbaum mit der Aussicht auf eine glänzende Zukunft in der Industrie wässerte. Das Wasser war vergeudet. Der Stammbaum verlangte womöglich nach Beschneidung.

Die Bocconi rechnete Cannella nicht mit, diese tragische, vielmehr tragikomische Erfahrung in jenem Häuflein der von besseren Positionen Ausgeschlossenen. Obwohl der Sohn das Thema meist umging und die Eltern über den Albaner, mit dem er verkehrte, so weit wie möglich im Unklaren ließ, waren die beiden doch über alles informiert. Sie wussten, dass Alfredo sofort auf Donka gesetzt hatte, als ihm dessen Talent aufgefallen war. Sie wussten, dass er ihm für ein Stück Brot ein Zimmer in dem Apartment vermietete, das sie ihm gekauft hatten – und selbst dies Stück Brot schien der Albaner oft nicht zu haben, wenn man bedachte, wie häufig Alfredo die Mutter um Geld bat, was diese ihm unweigerlich zusteckte. Sie wussten auch, dass Alfredos Durchschnitt seit der Anwesenheit des Albaners auf eine Eins gestiegen und auch dort geblieben war. Wenigstens in dieser Sache hatte Alfredo Weitblick bewiesen und gezeigt, dass er sich seine Mitarbeiter auszusuchen wusste. Seine Mitarbeiter, dachte Giulio Cannella und zündete sich noch eine Zigarette an, oder zumindest seine Nachhilfelehrer.

Beim Frühstück hatte Signora Cannella ihren Mann gebeten, die Szene, zu der es während der letzten Begegnung mit dem Sohn gekommen war, nicht zu wiederholen. Bei jener Gelegenheit hatte Alfredo den Vater sprühend vor akademischem Geist davon unterrichtet, dass ihn die Arbeit an seiner Seite nicht interessiere, dass er seinen Doktor machen und eines Tages auf einem goldenen Schemel neben Corradini sitzen würde. Sein Vater hatte mit Diplomatie geglänzt und versucht, Alfredo davon abzubringen, indem er ihn an den »Hungerlohn«, den die Akademiker »aus dem Staat herausquetschen«, erinnerte und ihm vor Augen führte, welch glänzende Karriere hingegen hier bei ihm zu erwarten sei. Alfredo hatte ihm harsch geantwortet: »Glaubst du, dass ich nur mit dir Karriere machen kann? Warum traust du mir nicht ein einziges Mal etwas zu?«

»Hör mal zu, Alfredo, …«, und die ewig gleiche Tirade, die jedoch heftiger ansetzte als gewöhnlich, ließ schon auf den Rest der Unterredung schließen.

»Und quäl mich nicht mehr mit Harvard. Ich war anders, ich war fast noch ein Kind. Ich habe mittlerweile eine Menge verstanden, wenn du es wissen willst. Was Corradini macht, interessiert mich. Irgendwelche Häuser hochzuziehen interessiert mich nicht. Ich will den Doktor machen.«

»Und wenn du nicht zugelassen wirst? Und wenn du keinen anderen Idioten findest, der die Hausaufgaben für dich macht? Hör an! Den Doktor! Brauchen wir in der Familie vielleicht einen Intellektuellen?« Alfredo hatte nichts darauf erwidert. »Einen Intellektuellen, den sie in Harvard abgelehnt haben? Einen Intellektuellen, der Nachhilfestunden nimmt?«

»Papà, was für ein Unsinn, an der Bocconi bin ich ...«

Der Vater fiel ihm ins Wort. »An der Bocconi hätten sie dich auch nicht genommen.«

Indem er Alfredo allein durch seine physische Präsenz daran hinderte, ihn zu unterbrechen, hatte Giulio Cannella zum ersten Mal von den unzähligen Telefonaten gesprochen, die es ihn gekostet hatte, dem Sohn den Zugang zur Wirtschaftsuniversität Luigi Bocconi zu verschaffen, ganz zu schweigen von all den Gefälligkeiten und den Söhnen anderer, die er im Gegenzug irgendwo hatte unterbringen müssen.

Cannella drückte die Zigarette aus und beschloss, den Sohn zu empfangen. Beim Eintreten wurde Alfredo von Erinnerungen an das letzte Gespräch gepackt, und sein Blick suchte unwillkürlich das Parkett nach Kratzern durch die Splitter der Glastür ab, die er damals beim Verlassen des Raums zerschmettert hatte. Er setzte sich dem Vater gegenüber.

Der wusste schon alles. »Alfredo, es ist gut für dich gelaufen, richtig gut, du hättest auch als Hungerleider enden können, wie der aus Harvard, der dich immer mit der Miete hängen lässt …«

»Ich habe dir gesagt, dass er seine Miete zahlt«, versuchte Alfredo, sich an einem Strohhalm festzuhalten.

»Und wenn schon! Hör mal zu, Alfredo, was willst du denn? Der ist in Harvard reingekommen und kommt jetzt auch hier rein, und wenn er den Leuten weiter den Arsch leckt, dann wird er mal so viel verdienen wie Rina.« Rina war die langjährige Haushälterin der Cannellas. Alfredo – das fiel ihm plötzlich auf – erinnerte sich eher an ihren Geruch als an den seiner Mutter. »Hör mal zu, Alfredo, deine Mutter hat mir gesagt, dass du zur Arbeitsagentur der Uni gehen willst … Willst du das wirklich?«

Als der Vater auch dieses Mal erfahren musste, dass es Alfredo Cannella aufgrund seiner Befähigungen für unangemessen hielt, im familiären Unternehmen zu arbeiten, erhob er sich, umrundete den Tisch und legte eine Hand auf die Schulter des Sohnes. In letzter Zeit wurden seine Augen schwächer, aber er weigerte sich, die Brille aus der Tasche zu ziehen. Die unmerkliche Schwerfälligkeit seines Gangs war in Wirklichkeit auch ein Behelf zur Orientierung. Alfredo bemerkte das, und einen Augenblick lang überkam ihn ein Anflug von Zärtlichkeit, der jedoch schnell wieder verging.

»Alfredo«, sagte Giulio Cannella und drückte ihm kräftig die Schulter. »Alfredo. Ich wollte dir einen Gefallen tun. Jeden Tag bekomme ich eine Menge Bewerbungen, und jedes Curriculum ist besser als deins.«

»Mein Curriculum ist hervorragend, Papà.«

»Mag sein. Aber früher oder später wirst du’s begreifen.«

Giulio Cannella wurde durch den dritten Anruf der Sekretärin an dringende Verpflichtungen erinnert, und innerlich erleichtert entließ er den Sohn mit einem wohlwollenden Schulterklopfen. Die Tür hatte dieses Mal überlebt, und abends, zu Hause, würde er seiner Frau sagen können, er habe alles Menschenmögliche getan. Nach kurzem Nachdenken rief er Alfredo zurück und sagte ihm, er könne ihn anrufen, wann immer er wolle, ihn oder seine Sekretärin. Auch die monatliche Zuwendung würde noch eine Weile weiterfließen. Alfredo ließ ihn wissen, dass ihm bewusst sei, was er alles von ihm erhalten habe, und dass er es ihm noch vor seinem dreißigsten Geburtstag zurückzahlen werde. Insgeheim schätzte sein Vater diese guten Vorsätze, und Alfredo nahm einen Abendzug nach Mailand, ohne bei seiner Mutter vorbeizuschauen.

Auf dem Heimweg hielt er auf der Piazzale Archinto, wo ihm ein Tunesier, den er dort noch nie gesehen hatte, für fünfzig Euro Kokain verkaufte. Nach einem kurzen Abstecher in sein Apartment machte er sich auf den Weg in eine Diskothek am Corso Como, konnte die Türsteher und die Provinzpolizei in ihrem SUV durch seinen flotten Schritt und die Sicherheit seines Benehmens täuschen, saß vierzig Minuten lang an der Bar und trank einen Cocktail nach dem anderen, bis er eine Blondine aufriss, die, wie sie ihm sagte, im viral marketing tätig war. »Normalerweise gehe ich nicht allein in Discos«, erklärte sie, »aber das Leben in dieser Stadt ist so stressig, dass man ab und zu nicht anders kann, als alles rauszulassen.«

Alfredo ließ durchblicken, er wäre Model, was durch sein Gesicht und Outfit glaubhaft bestätigt wurde, nicht aber durch seinen Bauch, sodass er, als sie es auf der Damentoilette trieben, darauf achtete, sich keinen einzigen Knopf seines weißen Hemdes öffnen zu lassen.

Kaum zwei Monate später war er Co-Direktor des Mailänder Büros der EdilCannella Luxury Real Estate S.r.l.

Vor dem Schlafengehen wässerte Kay Montana die Pflanzen auf dem Balkon, dachte an das Telefongespräch und brach in Tränen aus. Die Scheinwerfer der Autos auf der Viale Zara und der Piazzale Istria spiegelten sich im Gitter, an dem der Jasmin emporrankte, und zogen ein gelbliches Liniennetz über die Balkontür des kleinen Apartments. Dann verschwanden sie in Richtung Umgehungsstraße und mit ihnen das Licht, doch nicht Kays Tränen. Sie versuchte, sich das Gesicht mit der Schürze zu trocknen, was aber nichts half, stellte die Gießkanne auf einem der Töpfe ab und ging hinein, nahm eine Flasche Orangensaft aus dem Kühlschrank und trank einen Schluck. Sie dachte daran, zu Bett zu gehen, beschloss dann aber, auf den Balkon zurückzukehren. Ihr Körper wurde von kleinen Schluchzern geschüttelt, und das Wasser ergoss sich in unregelmäßigem Schwall in Töpfe, Vasen und die zwei, drei Gefäße, die sie zu Blumenkästen umfunktioniert hatte.

Anstatt sie zum dritten Mal zu füllen, ließ sie die Kanne im Spülbecken stehen und rief ihren Ex-Mann an. »Maurizio, verzeih, dass ich dich störe. Ich weiß nicht mal, wie spät es bei dir ist.« Er antwortete, es sei Nachmittag, und fügte nicht hinzu, dass seit ihrem letzten Anruf fast ein Jahr vergangen war. »Sie wollen mich entlassen«, sagte sie. »Sie setzen den Sohn des Chefs an meinen Platz.« Er ließ sich zweimal den Inhalt von Cannellas Anruf erzählen und erklären, was das vermutlich für ihre Zukunft zu bedeuten hatte, fragte dann dies und das, um Zeit zu gewinnen. Unterdessen suchte er nach einer Möglichkeit, ihr behutsam klarzumachen, dass der Sohn eines schwerreichen Immobilienunternehmers sicher keine Lust habe, Häuser zu verkaufen, dass es sich hier sicher um nichts als einen ersten Schritt handele, ihn zu befähigen, dem Vater später an der Unternehmensspitze zur Seite zu stehen, dort, wo sein Platz sei, fand jedoch nicht den rechten Ton. Sie sagte ihm, dass sie den Anruf des Chefs nach ihrem Tangokurs auf dem Anrufbeantworter entdeckt und zuerst angenommen hatte, er wolle womöglich am nächsten Tag ins Büro kommen oder ihr gratulieren, weil die Dinge so gut liefen. Ihr Ex-Mann wusste nicht, dass sie Tangostunden nahm. »Ich höre damit auf«, sagte sie. »Ich werde sie nicht mehr bezahlen können, und außerdem nützen sie nichts.«

Als er spürte, dass Kay sich beruhigt hatte, beendete Maurizio Montana das Gespräch, wobei er von ihrer Beziehung sprach und davon, wie schön es doch sei, sich bei Problemen selbst jetzt noch aufeinander verlassen zu können. Kay blieb noch zehn Minuten auf dem Balkon sitzen, dachte über den Vorfall nach und darüber, wie anders Mailand sein könnte, besäße jedes Haus eine Terrasse oder einen Balkon mit Blumen, die so gepflegt waren wie die ihren.

Giulio Cannella hatte Kay Montana vor drei Jahren kennengelernt. Damals war er nach Mailand gekommen, um einen neuen Direktor für die EdilCannella Luxury Real Estate S.r.l. einzustellen. Dem vorigen, einem alten venezianischen Bekannten, hatte er den Posten aus Gefälligkeit überlassen. Als er an jenem Morgen den Zug bestieg, hatte sich Giulio Cannella zum soundsovielten Mal gesagt, dass mit den Gefälligkeiten nun Schluss sein soll.

Kay ging davon aus, dass das Vorstellungsgespräch miserabel laufen würde. Sie schminkte sich, schminkte sich wieder ab, schminkte sich erneut, aber keines der Gesichter gefiel ihr. Sie beseitigte sie, da sie in ihnen den Vorwurf las, mit neununddreißig Jahren zu spät dran zu sein: zu spät für das erste Vorstellungsgespräch, sagte Gesicht Nummer eins, zu spät für die erste abhängige Beschäftigung, sagte Nummer zwei, nur zu früh für die Scheidung, sagte sich Kay, das ja. Als Doktor Cannellas Sekretärin sie telefonisch zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatte, war sie davon überzeugt gewesen, es müsse sich um eine Verwechselung in den Firmenunterlagen handeln. Ein Teil von ihr war noch immer dieser Meinung.

An jenem Morgen war sie um fünf Uhr aufgestanden, um den Ficus benjamina neben ihrer Eingangstür umzutopfen, was man machen soll, wenn die Erde noch feucht und kühl ist. Inständig erhoffte sich Kay dadurch einen beruhigenden Einfluss auf die Pflanze. Ein Umtopfen, dachte sie, ist bestimmt ebenso schwerwiegend wie ein Umzug durch die Verlegung des Arbeitsplatzes oder eine unvorhergesehene Veränderung dessen, was uns umgibt. Sollte das frühe Aufstehen auch nur einen einzigen Schmerzensseufzer der Pflanze verhindern, es hätte sich bereits gelohnt.