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Impressum

Verlag:

Chefredakteurin: Marie-Luise Lewicki (v.i.S.d.P.)

ISBN 978-3-652-00267-7

INHALT

Lust auf Verantwortung: Was Eltern wissen wollen

1. Welche Erziehung passt zu mir?

2. Mama raucht. Oder: Wie vollkommen muss man sein?

3. Respekt!

4. Bei uns nicht! Andere Familien, andere Sitten

5. Nimm’s leicht! Wie Mütter entspannter werden

Auf dem Weg ins Leben: Was Kinder brauchen

1. Freiland-Küken: loslassen und Halt geben

2. Nicht alles ist möglich!

3. Disziplin, aber wie?

4. Trost für traurige Kinder

5. Falsche Freunde und der richtige Umgang

6. Trennungen helfen zu wachsen

Lieben und streiten: Was im Familienalltag hilft

1. Wider das schlechte Benehmen

2. Raus mit der Sprache

3. Geschmacksfragen

4. Du verstehst mich nicht!

5. Bitte recht freundlich

6. Schluss mit der Bedienung!

7. Mamas gutes Recht

Kinder gehen alle an: Wo die Gesellschaft gefragt ist

1. Vom Kinderrecht auf Lärm und Schmutz

2. Mehr Gerechtigkeit für Jungen

3. Bin ich schön?

4. Erziehen ohne Verbote

LUST AUF VERANTWORTUNG: WAS ELTERN WISSEN WOLLEN

1. Welche Erziehung passt zu mir?

Es gibt nicht nur eine richtige Erziehungsmethode, sondern für jedes Kind eine, die zu ihm und seinen Eltern passt. Ein Plädoyer für Vielfalt, Individualität – und Liebe

Da ist er, „El Nino“, wie ihn die Eltern liebevoll nennen, kaum zwei Tage alt, schlummert er im Arm seiner Mutter, Familie und Freunde gratulieren. Ein neues Leben, wunderbar und geheimnisvoll, alle sind ganz andächtig. Nur nicht „El Ninos“ Tante Stella. Die ist vor sechs Monaten zum dritten Mal Mutter geworden und hat sofort gesehen, dass hier was nicht stimmt. El Nino liegt auf der falschen Seite. „Neugeborene müssen den Herzschlag der Mutter spüren“, sagt sie. „Nimm den Kleinen in den linken Arm.“ El Ninos Mutter ist es nicht gewohnt, Befehle entgegenzunehmen, aber jetzt gehorcht sie. Das mit der Herzseite hätte sie wissen müssen, meint Tante Stella später noch, es stehe schließlich in jedem Ratgeber. Autsch. Die Psychotherapeutin Harriet Lerner hat einmal gesagt, dass man eines sofort lernt, wenn man Mutter wird: Schuldgefühle zu haben. Dafür sorgen Leute wie Tante Stella, die immer genau wissen, was richtig und was falsch ist. Es ist ja auch kinderleicht, Kinder zu erziehen. Sofern es sich um die Kinder anderer Leute handelt. Beim eigenen Kind sieht das anders aus. Das liegt daran, dass es ganz anders ist als die Kinder anderer Leute.

Seit grob geschätzt 6000 Jahren sind Menschen damit beschäftigt, für diese komplizierte und rätselhafte Sache „Erziehung“ Grundsätze aufzustellen. Mittlerweile gibt es zu jeder Frage und zu jedem Problem eine Vielzahl nicht selten sich widersprechender Ansichten, und jede wird von einem Experten im Brustton der Überzeugung vorgetragen. Und anders als beim Thema Gentechnik ist in Erziehungsfragen jeder Experte. Auch Menschen, die diese kleinen Wesen nur aus dem Werbefernsehen kennen. War denn nicht jeder mal Kind? „Außerdem muss man auch niemanden umgebracht haben, um einen Krimi zu schreiben“, meint meine kinderlose Freundin Sandra. Angesichts dieser Situation möchte man Eltern zurufen: „Macht doch, was ihr wollt!“ Aber das geht nun gar nicht. In Erziehungsfragen gibt es strenge Moden. Derzeit ist ein „autoritativer, ressourcenorientierter“ Stil angesagt. Der bedeutet: Eltern orientieren sich an den Grundbedürfnissen ihres Kindes, setzen auf Förderung seiner Fähigkeiten und lenken unerwünschte Verhaltensweisen in die richtigen Bahnen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Vorausgesetzt, man hat nicht die Erwartung, dass diese Methode besser oder erfolgreicher ist als, sagen wir mal, der etwas hippiemäßige Erziehungsstil, den die Eltern der heutigen Eltern praktiziert haben. Konsequenzen hießen damals noch Strafen und waren als autoritär verpönt, Kinder hatten alle Rechte und durften sich ziemlich frei entfalten. Vermutlich war das nicht gemeint, aber manche machten einfach, was sie wollten. Meine älteste Tochter Maximiliane, Mutter von vier Kindern, schüttelt regelmäßig den Kopf darüber, dass sie im Engelskostüm in die Schule gehen durfte. Sie durfte auch ihre Schularbeiten in der Hängematte machen und, Lehrer bitte weghören, manchmal sogar Schule schwänzen, weil sie so schön mit ihren kleinen Geschwistern spielte. „So was gibt es bei uns nicht, Mama“, sagt Maxi streng.

Selbstverständlich nicht. Sie ist nicht nur eine wunderbare, sondern auch eine kluge Mutter. Trotz meiner Hippie-Erziehung. Auch die mittlerweile fünf erwachsenen Kinder meiner Freundin Angelina machen sich als Eltern ganz gut. Die wurden selbst streng katholisch erzogen, was vor 15 Jahren äußerst misstrauisch beäugt wurde. So wie vor 80 Jahren mein Großvater, als er sich weigerte, seinen Sohn zu verdreschen.

Ein Sportreporter, dessen Namen ich leider vergessen habe, hat einmal gesagt: „Das ganze Leben ist ein Glückspiel, und die Chancen stehen acht zu fünf.“ Das gilt erst recht für die Kindererziehung. Es gibt kein Rezept, das hundertprozentig funktioniert. Das ist den meisten Eltern klar, trotzdem setzen sie sich oft gegenseitig unter Druck. Man braucht nur, wie unlängst eine Freundin, zu erwähnen, dass der zwölfjährige Sohn trotz passabler Noten nicht aufs Gymnasium, sondern auf die Realschule geht. „Hast du mal an seine Zukunft gedacht?“ war noch das harmloseste, was sie zu hören bekam. Eine Stunde wurde sie von drei besorgten Müttern in die Zange genommen, bis sie kurz davor war, zu kapitulieren, obwohl Milan auf der Realschule gut aufhoben ist. Strenge Vorgaben gibt es auch bei der Freizeitgestaltung. Wehe, man findet es in Ordnung, dass ein Kind nicht den geringsten Wunsch verspürt, ein Instrument zu lernen und Sport zu machen. Wo doch jeder weiß, wie wichtig das für die Entwicklung ist. Das ist es. Wenn ein Kind Freude daran hat und wie Ruben Saxofon und Fußball als Bereicherung erlebt. Maxi waren Sportvereine ein Gräuel, und Leonie machte Musik, indem sie die Play-Taste ihres Kassettenrekorders drückte. Ich hätte eine Menge Geld und Nerven sparen können, wenn ich nicht der Idee angehangen wäre, wonach Instrumentalerziehung und Sport zu den „Musts“ einer guten Erziehung gehören. Mehr Mut zum eigenen Weg, sie gehören es nicht. Es muss auch nicht jedes Kind Bionade trinken und in einen zweisprachigen Kindergarten gehen. Was mich an dem eben beschriebenen Mainstream am meisten stört, ist der Umstand, dass eine Reihe von Kindern ausgeschlossen wird, nämlich die, deren Eltern weder die nötige Zeit noch die Energie und das Geld für derartige Fördermaßnahmen haben.

Sehr bedenklich finde ich auch, dass durch starre Vorstellungen von „guter“ Erziehung Kontakte und Freundschaften zwischen Kindern aus unterschiedlichen Milieus, Religionen und Kulturen immer schwieriger werden. Selbstverständlich hat niemand etwas gegen Migrantenkinder, nur sollen sie, bitte, in einen anderen Kindergarten und eine andere Schule gehen. Dabei ist der Austausch mit Familien, die einen anderen Background haben, eine Bereicherung. Als ich einmal ziemlich ratlos war, wie ich mit den sich steigernden Trotz- und Wutanfällen meiner damals zwei Jahre alten Tochter Paulina umgehen sollte, riet mir unsere vietnamesische Blumenverkäuferin, Mutter von zwei Kindern: „Sagen, Sie verjagen kleinen Dämon, der quält.“ Paulina hat große Augen gemacht, als ich ihr erklärte, dass ich den wilden Wutz jetzt fangen und einsperren würde. Als sie kurz darauf wieder ausflippen wollte, habe ich sie beruhigt: „Der bellt nur ein bisschen, der hört gleich wieder auf.“ Es hat funktioniert. Meine italienische Freundin Teresa, Mutter von einer Tochter und zwei Söhnen, hat mich von meiner Fernseh-elektronisches-Kinderspielzeug-Phobie geheilt. Bei ihr lief die Glotze sogar in der Küche, und ihre Kinder hatten jedes Elektro-Computer-Spielzeug, das der Markt anbot. Ich habe daraufhin unsere Fernsehregel nicht außer Kraft gesetzt, aber gelockert. Aus den drei kleinen Italienern sind übrigens warmherzige, kontaktfreudige und blitzgescheite Menschen geworden. Wie man sieht, gedeihen Kinder in der Regel „trotzdem“. Das sollte Mut machen, jenseits des Mainstreams selbstbewusst eigene Wege zu gehen und die Erziehung zu praktizieren, die zu einem selbst und zu seinem Kind passt. Frau Grün-Grämlich backt für ihre Kinder Dinkelbouletten? Super, schicken Sie Ihr Kind rüber und lassen Sie sich später eine mitbringen. Dafür nehmen Sie den Sohn von Grün-Grämlichs mit dem Auto zur Schule mit, wenn es schneit. Es gibt auch keinen Grund, sich über Familie Sorglos zu mokieren, weil Frau Sorglos knappe Röcke trägt und ihren Kindern erlaubt, den Sonntag im Bett zu verbringen und alle Folgen von Zack & Cody anzuschauen, statt wie Familie Schlau-Meier ins Naturkundemuseum zu gehen. Schließlich waren die Sorglos-Kinder die einzigen, die mit den Kindern von Familie Merk-Würdig gespielt haben.

Es gibt viele Wege nach Rom und weder einen Grund, andere zu kritisieren, noch einen, sich zu verbiegen. Wenn man so gutmütig, nachgiebig und verschusselt ist wie mein Freund Curt, Vater von drei Söhnen, wird man ohnehin nie so konsequent, klar und strukturiert sein, wie es die autoritative, ressourcenorientierte Erziehung vorsieht. Wozu auch? Curts Söhne tanzen ihrem Vater auch nicht mehr auf der Nase herum als andere Kinder. Außerdem haben Kinder ein Gespür für „falsche“ Töne. Wenn der sanfte Curt doch mal etwas lauter wird, weil seine Frau meint, er müsste endlich mal durchgreifen, kichern seine Söhne hinter vorgehaltener Hand. Sie wissen, dass das Gepolter nichts bedeutet, denn sie kennen ihren Vater genauso gut wie der sie.

Damit Kinder gedeihen, braucht es weniger ausgefeilte Erziehungsmethoden, es braucht Liebe. Und die hat verschiedene Gesichter. Wer ein eher kühler Typ ist, wird nicht so oft mit seinem Kind kuscheln, sondern seine Liebe zeigen, indem er seinem Kind geduldig zuhört, wenn es 129 Fußballsammelbilder erklärt. Es gibt auch Kinder, die viel lieber mit ihrer Mama Wii spielen als zu kuscheln, und Kinder, die ohne Konsequenzen und Erklärungen verstehen, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Vor ein paar Monaten schrieb ein Journalist im „New Yorker“, wie er als Neunjähriger gemeinsam mit Freunden mutwillig das Gartenhaus der Nachbarn demoliert hatte. Als abends die Väter nach Hause kamen, folgte, was folgen musste. Die Jungs wurden übers Knie gelegt, zusammengestaucht oder mit Hausarrest und Fernsehverbot bestraft. Nur er nicht. Sein nach einem langen Arbeitstag müder und verschwitzter Vater fuhr zum Baumarkt, besorgte die Ersatzteile und reparierte bis spät in die Nacht das Gartenhaus. Danach ging er zu seinem Sohn, streichelte ihm über den Kopf und sagte: „Lass uns schlafen gehen, Schatz.“

Liebe trägt weiter als jede Methode Solche Reaktionen sind im autoritativen, ressourcenorientierten Erziehungsstil vermutlich nicht vorgesehen. Da hätte es erst eine Ansage gegeben („So nicht, mein Lieber. Ist dir eigentlich klar …“) Dann hätte der Sohn mit einem Vorschlag rüberkommen müssen, was jetzt zu tun ist, und schließlich hätte er, eventuell mit Unterstützung des Vaters und der anderen beteiligten Kinder, das Gartenhaus repariert. Im ersten Fall heißt die Lektion Liebe, im zweiten: „Die Suppe hast du dir eingebrockt. Die löffelst du jetzt auch aus. Du bist verantwortlich.“

Vielleicht hänge ich mich jetzt zu weit aus dem Fenster, aber ich glaube, dass die Lektion Liebe weiter trägt. Und dass man, wenn man nach der Lösung für ein schwieriges Erziehungsproblem sucht, zuerst darüber nachdenken sollte, was man am liebsten tun würde. Sie würden Ihr Kind jetzt am liebsten übers Knie legen? Das kann ich nur zu gut verstehen. Aber das ist verboten, aus guten Gründen. Dafür sind die Gedanken frei. Also habe ich an das Bild „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“ gedacht und in meiner Fantasie dem Knirps, der gerade versucht hat, mich zu beklauen, den Hintern versohlt. Danach fühlte ich mich viel besser und wusste wieder, was ich – eigentlich – am liebsten tun wollte: meinem Kind sagen, dass ich es liebe. Dass es mich verwirrt und bedrückt, wenn es „so was“ macht. Dass ich will, dass es ihm gut geht, dass aber Diebe kein gutes Leben haben, weil man ihnen nicht traut. Damit diese Botschaft ankommt, braucht es nicht unbedingt Worte. Erziehung funktioniert überhaupt viel weniger mit Erklärungen und Belehrungen als vielmehr durch Beispiele. Durch das, was Kinder sehen, hören, fühlen, wenn wir mit der besten Freundin telefonieren, wenn wir Pasta kochen und nach einem verlorenen Kinderhandschuh suchen. Diese gelebte Gegenwart aus Gesten, Blicken, Stimmungen, Herzensgewohnheiten hat eine unauslöschliche Überzeugungskraft. Und mit ein bisschen Glück hält sie allen Stürmen eines Kinderlebens stand.

2. Mama raucht

Das geht gar nicht. Oder doch? Schließlich sind Eltern auch nur Menschen. Trotzdem stellt sich die Frage: Wie viel elterliche Unvollkommenheit verkraften Kinder?

Ich gestehe es. Ich habe geraucht. Nicht viel, aber doch. Ich würde gern behaupten, dass ich es wenigstens nie in Gegenwart meiner Kinder getan habe, aber gerade neulich fiel mir wieder ein Foto in die Hände, das das Gegenteil beweist. Ich sitze in einem Liegestuhl und blase Kringel in den Sommerhimmel. Maxi und Paulina schaukeln in der Hängematte und scheinen in den Anblick ihrer qualmenden Mutter vertieft.

Dass ich diesem Laster vor Jahren abgeschworen habe, ist weniger meiner Charakterstärke zu verdanken als vielmehr der strengen Erziehung meiner vier Kinder, die sich lautstark über den Gestank beschwerten und meine Zigarettenschachteln im Müll versteckten. Seien wir ehrlich: Es ist verflixt anstrengend, Vorbild zu sein. Man darf keine Ausdrücke benutzen, kein Papier auf die Straße werfen, nicht bei Gelb über die Straße gehen oder aus der Flasche trinken, man muss sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten – kurz, man muss mehr oder weniger allen schädlichen Neigungen abschwören, die einem zur lieben Gewohnheit geworden sind. Oder ihnen heimlich nachgehen und notfalls fadenscheinige Erklärungen abgeben. Wenn mich meine Kinder vertieft in ein Klatschmagazin ertappten, murmelte ich beispielsweise etwas von „ist Recherche, brauche ich für einen Artikel“. Natürlich ist das unmöglich!

Ich möchte ganz entschieden von solchen Ausreden und „Erklärungen“ abraten. Kinder lassen sich keinen Bären aufbinden. Jedenfalls nicht, wenn sie älter als fünf, sechs Jahre sind. In diesem Alter beginnt der „Prozess der Entzauberung“, wie der Familientherapeut Ron Taffel sagt. Egal, wie man es anstellt, irgendwann findet jedes Kind heraus, was es bereits geahnt hat: dass die lieben Eltern keineswegs über jeden Zweifel erhaben sind und nicht nur öfter Schokolade essen und fernschauen, als sie zugeben, sondern auch nicht immer so ehrlich, hilfsbereit, einfühlsam oder großzügig sind, wie sie es von anderen und ganz besonders von ihren Kindern erwarten. Bei einer Auseinandersetzung zum Thema „Was ziehe ich an, wenn ich mit meinen Eltern Verwandtenbesuche mache?“ wedelte mir Maximiliane, damals 13 und modisch auf dem Chaostrip, mit einem Artikel vor der Nase herum: „Lies mal, was du geschrieben hast. ‚Eltern sollten bei Teenagern über modische Fehlgriffe großzügig hinwegschauen und ihre Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, was ihr Kind ist, nicht, was es anzieht.‘“

Ich konnte es kaum glauben, aber das war tatsächlich von mir. Kinder haben eine ausgezeichnete Antenne dafür, ob das, was Eltern sagen, mit dem übereinstimmt, was sie tun. Sie scheuen sich auch keineswegs, die Schwächen und Unzulänglichkeiten beim Namen zu nennen. Falls nötig, posaunen sie in aller Öffentlichkeit heraus: „Mama tut immer so höflich, aber eben war sie noch total wütend und hat gesagt, ich sei ein Riesenferkel. Dabei wollte ich nur einen Kuchen für alle machen.“ Oder: „Papa trinkt dauernd Bier aus der Flasche, und wenn ich das mit der Milch mache, meckert er mich an. Außerdem pupst er und sagt dann, wir seien es gewesen.“ Das Bedürfnis, die Eltern vorzuführen und zu beweisen, dass sie nicht nur fehlbar, sondern auch angreifbar sind, kann zeitweise recht ausgeprägt sein. Auch wenn Kinder und besonders Teenager für sich selbst alle möglichen Freiheiten beanspruchen, sind sie ihren Eltern gegenüber oft doch sehr streng. Generell liegt für Eltern die Messlatte sehr viel höher als für den Rest der Menschheit.

Auch Lehrer und Politiker haben große Erwartungen an uns. „Das muss doch zu machen sein, dass Ihr Kind im Unterricht weniger schwätzt“, meint Lehrer Lämpel in der Elternsprechstunde. „Wenn das so einfach ist, warum unternehmen Sie dann nichts?“, würde man gern erwidern. „Schließlich ist das Ihr Job, nicht meiner. Außerdem sitze ich nicht in Ihrer Klasse, sondern im Büro.“ Aber das traut man sich nicht. Stattdessen grübelt man darüber nach, ob die Schwatzhaftigkeit vielleicht daran liegen könnte, dass man Journalistin ist und für sein Leben gern mit Leuten quatscht. Auch wenn niemand so genau weiß, wie das mit dem Vorbild funktioniert, welchen Anteil an der Entwicklung eines Kindes die Eltern haben und was der Veranlagung und dem Einfluss Dritter zuzuschreiben ist, steht fest, dass das elterliche Verhalten eine Vorbildwirkung hat, insbesondere auf die Bereiche Gesundheit und Ernährung und Moral. Insofern kann man sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen und sich darauf verlegen, seine Unzulänglichkeiten mit dem ebenso zutreffenden wie banalen Hinweis „Ich bin schließlich auch nur ein Mensch“ zu entschuldigen. Eltern müssen sich schon ein paar Gedanken machen, welche ihrer Verhaltensweisen sich günstig auf die Entwicklung zu einer einfühlsamen, verantwortungsbewussten und entscheidungsfreudigen Persönlichkeit auswirken und welche nicht. Dabei wirkt das, was man mit Worten sagt, längst nicht so nachhaltig und eindrucksvoll wie das, was man vorlebt. Im Grunde liegt das auf der Hand, ich erwähne es nur, weil man Erziehung sehr leicht mit Reden verwechselt.

Kinder wünschen sich auch keine Helden, die auf einem Sockel stehen und in deren Gegenwart sie sich minderwertig, unbegabt und klein fühlen. „When too perfect, lieber Gott böse“, hat der amerikanische Künstler Nam June Paik einmal gesagt. Perfektionismus ist eine Entwicklungsbremse und führt nur zu übersteigerten Erwartungen, die zwangsläufig enttäuscht werden. Es reicht völlig aus, wenn Eltern es so gut wie möglich machen. Trotzdem wünschen sich Kinder Eltern, die Ideale haben, die eine Haltung annehmen und vertreten, ohne sich bei Widerstand beleidigt zurückzuziehen, faule Kompromisse einzugehen oder autoritär auf die Pauke zu hauen. Moralische, charakterliche Stärke liegt nicht nur in der Fähigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen, sondern vor allem darin, zuzuhören, selbstkritisch zu sein und eigene Schwächen und Fehler einzugestehen und zu verbessern. Kinder rechnen es einem sehr hoch an, wenn man sich einen Ruck gibt und sagt: „Was ich gemacht habe, war falsch. Ich entschuldige mich und verspreche dir, dass ich versuche, mich zu ändern.“ Kinder können an den Fehlern der Eltern wachsen und erkennen, dass jeder das Potenzial hat, sich zu verbessern – sie selbst auch. Ungünstig ist dagegen, über Fehlgriffe einfach hinwegzugehen, nach dem Motto „Das hat mein Kind sowieso gleich wieder vergessen“.

Es gibt noch eine andere Reaktion auf Kritik, die, wie ich finde, genauso ungünstig ist. Man schlägt sich an die Brust und sagt: „Du hast absolut recht. Ich bin als Mutter/Vater total unfähig.