Image

LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Franz Kafka

Brief an den Vater
Das Urteil

Von Theodor Pelster

Reclam

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgaben: Franz Kafka: Brief an den Vater. Hrsg. und komm. von Michael Müller. Stuttgart: Reclam, 1995 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 9674.)
Franz Kafka: Das Urteil und andere Prosa. Hrsg. von Michael Müller. Stuttgart: Reclam, 1995 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 9677.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2008, 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2013
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960198-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015395-6

Inhalt

1. Erstinformation

2. Inhalt

3. Personen

4. Die Struktur

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps

Anmerkungen

1. Erstinformation

Die Person und das Werk Franz Kafkas waren und sind eine Herausforderung für Leser, Wissenschaftler und Philosophen des 20. wie des 21. Jahrhunderts. Der Name des Autors steht in der Literaturgeschichte ähnlich repräsentativ für die Epoche der Moderne wie der Name Pablo Picassos in der Kunstgeschichte. Literaten in aller Welt berufen sich auf Franz Kafka »als einen ›Klassiker sui generis‹, als eine Ikone der Moderne«1.

Franz Kafkas literarisches Werk ist schmal, aber folgenschwer. Es besteht aus drei Romanfragmenten, einer »Handvoll Erzählungen und Prosaminiaturen, zumeist befremdliche Tierparabeln«2. Ihnen geht der Ruf voraus, dass in ihnen Überraschendes, zum Teil Ungeheuerliches und Groteskes in eine klare, karge Sprache eingebunden werde.

Die Kafka-Forschung der vergangenen Jahre hat nun überzeugend nachgewiesen, dass die Texte des Autors in besonderem Maße mit seiner Person und seiner Lebensgeschichte verwoben sind. Ein Biograph macht auf die »aufreizende Manier dieses Autors« aufmerksam, »Momente des eigenen Lebens in kaum verschlüsselter Form zu literarisieren«3. Er weist nach, dass es »reale Ereignisse, niemals bloße Einfälle« sind, »welche die Schleusen öffnen und Kafka für einige Zeit auf den Gipfel seiner sprachlichen Möglichkeiten führen«4. Wer aber einzig und allein versucht, diese realen Ereignisse und die konkreten Momente im Leben des Autors auszumachen, wird mit seinen Verständnisbemühungen ebenso zu kurz greifen wie der, den nur die literarische Form interessiert. Der eine wird am Ende einige biographische Details vorzeigen können, der andere eine Struktur- oder Textanalyse. Zum Verständnis gehört mehr.

Kafkas Brief an den Vater und seine Geschichte Das Urteil sind Schlüsseltexte, die besonders geeignet sind, einen Zugang zum Gesamtwerk und zur Person des Autors zu finden. Der Brief an den Vater ist offensichtlich viel näher an der Lebenswirklichkeit des Dichters als die meisten seiner anderen literarischen Texte. Auch ist dieser Brief entschieden mehr als die Mitteilung eines Senders an einen Empfänger und auch mehr als das Dokument einer Lebens- oder Seelenlage. Er ist – mit den Kategorien der Rhetorik klassifiziert – ein literarisch anspruchsvoller »Wiedergebrauchstext«, in dem sich ein Schreiber so ausdrückt, dass sich auch der nicht adressierte Leser angesprochen und zur Teilnahme herausgefordert fühlt. Die Entstehung der Geschichte Das Urteil wird im Rückblick als »eine Eruption, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht«5, beurteilt. Kafka, der diese Erzählung in einer einzigen Nacht niederschrieb, befand sich am Morgen, als sie vollendet war, in einem Zustand der Euphorie. »Nur so kann geschrieben werden«6, notierte er in sein Quartheft. Erstmals stimmte der Autor mit dem, was er geschrieben hatte, vollkommen überein.

Das Urteil wurde in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912 geschrieben und 1913 veröffentlicht; den Brief an den Vater schrieb Kafka erst im November 1919, er wurde nie abgeschickt und zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht. Trotzdem erscheint es sinnvoller, den chronologisch umgekehrten interpretatorischen Weg vom Brief zum Urteil zu verfolgen. In beiden Texten geht es um den Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn, geht es um die Heiratspläne des Sohnes und die Auswirkungen auf das Umfeld, in beiden Fällen stoßen Prozessparteien aufeinander. Da der Brief an den Vater jedoch der Lebenswirklichkeit einer jüdischen Familie näher steht, fällt dem Leser der Zugang zu diesem Text leichter als zu dem fiktionalen Text Das Urteil, der sich bis ins Groteske steigert.

2. Inhalt

Brief an den Vater

Anlass und Intention (7,1–10,35)

Unmittelbarer Anlass des Briefes ist eine vom Vater gestellte Frage an den Sohn, warum dieser behaupte, er hätte »Furcht« vor seinem Vater (7). Dazu schreibt der Sohn, tatsächlich sei seine Furcht so groß, dass er mündlich nicht hätte antworten können und deshalb schreibe, aber auch im Brief sei er kaum in der Lage, »die Größe des Stoffes« (7) zu verarbeiten. Ziel des Briefes sei, »eine Art Friede« (8) herzustellen. Dazu sei es notwendig, ihre gegenseitige Beziehung zu klären.

Aus seiner eigenen Sicht sei der Vater derjenige, der ein »ganzes Leben lang schwer gearbeitet« und alles für seine Kinder »geopfert« habe, während die Kinder in Distanz blieben – ohne »irgendein Entgegenkommen«, ohne »Zeichen eines Mitgefühls« (7). Vor allem dem Sohn werfe er »Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit« vor, gebe ihm die »Schuld« an der »Entfremdung«, halte sich selbst dagegen für »gänzlich schuldlos« (8).

Der Sohn als Schreiber des Briefs lässt die Einschätzung des Vaters, gänzlich schuldlos zu sein, gelten, möchte aber anerkannt wissen, dass auch er »gänzlich schuldlos« (8) sei. Für ihn sieht die Sache so aus, dass die Beziehung zwischen Vater und Sohn »nicht in Ordnung ist«, dass dies vom Vater »mitverursacht« ist, »aber ohne Schuld« (8).

Eine Ursache für die eingetretene Entfremdung sieht der Sohn darin, dass Vater und Sohn in der äußeren Erscheinung und der inneren Haltung – vielleicht schon durch die Erbanlagen bedingt – zu verschieden sind. Der Vater ist ein Ausbund »an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis« und deshalb als Vater »zu stark« für einen Sohn, der »ein schwächlicher, ängstlicher, zögernder, unruhiger Mensch geworden« ist (9). Dieser Übermacht des Vaters ist »das langsam sich entwickelnde Kind« »erlegen« (10). Die väterliche Absicht, »einen kräftigen mutigen Jungen [...] aufzuziehen« und ihn »mit Kraft, Lärm und Jähzorn« (10) zu behandeln, ist jedenfalls gründlich fehlgeschlagen.

Die Erziehung des Sohnes (10,36–17,26)

Aus der Kindheit sind dem Sohn solche Begebenheiten in Erinnerung geblieben, in denen der Vater als »der riesige Mann« und als »die letzte Instanz« uneingeschränkt handeln konnte und in denen das kleine Kind ein »Nichts für ihn« (11) war. Damals entwickelte sich das Gefühl der »Nichtigkeit« (11), das den Sohn später beherrschte. Rückblickend vermisst er in seiner Erziehung »ein wenig Aufmunterung, ein wenig Freundlichkeit, ein wenig Offenhalten meines Wegs« (12): Stattdessen fühlte er sich schon durch die »bloße Körperlichkeit« (12) niedergedrückt. Im Schwimmbad beispielsweise kam er sich – »ein kleines Gerippe« – jämmerlich vor, unfähig, des Vaters »Schwimmbewegungen nachzumachen« (12).

Der körperlichen Überlegenheit entsprach die »geistige Oberherrschaft« (13). Der Vater war von einem grenzenlosen »Selbstvertrauen«, beharrte darauf, dass seine »Meinung [...] richtig«, dass er unbedingt im »Recht« sei und gab deshalb das Erscheinungsbild eines »Tyrannen« ab (13). Für das Kind und für den Heranwachsenden war es unmöglich, dem »absprechenden Urteil« (14) entgegenzutreten. Dabei schien die Gegnerschaft nicht sachlich begründet, sondern grundsätzlich zu sein. Nichts und niemand konnte vor dem Vater bestehen. Gegen ihn war man macht- und »wehrlos« (15).

Ohne Widerrede übernahm der Sohn die Hinweise und Anweisungen des Vaters als »Himmelsgebot« (15). Eine tiefe Enttäuschung erlebte er indessen, als er merkte, dass der Vater selbst den Grundsätzen entgegen handelte, die er für andere aufstellte. Das Verhalten des Vaters bei Tisch stand in direktem Gegensatz zu dem »Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch« (15), den er seinem Sohn erteilte. Dadurch empfand sich der Sohn als »Sklave«, der unter Gesetzen lebte, die nur für ihn »erfunden waren und denen [er] niemals völlig entsprechen konnte« (16). Den Geboten nicht folgen, ihnen aber auch nicht entgegentreten zu können, empfand das Kind – als »Schande« (16), ein »Gefühl« (17) das sich festsetzte.

Kommunikatives Verhalten (17,27–27,8)

Dem Vater geht nach Ansicht des Sohnes die Fähigkeit ab, »ruhig über eine Sache zu sprechen « (17), zu der es kontroverse Ansichten gibt. Sein »herrisches Temperament« (17) duldet keine »Widerrede« (17, 18, 19); seine Entscheidungen fallen »ohne Anhören der Person« (18); Argumenten ist er nicht zugänglich; nie lässt er sich »überzeugen« (18). Das führte dazu, dass der Sohn vor dem Vater »weder denken noch reden konnte« (18). Er schwieg und verlernte »das Reden« (18). Die vom Vater bevorzugten »rednerischen Mittel« waren: »Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und [...] Selbstbeklagung« (19). In diesen Formen der Kommunikation ist der Redende immer der Dominante, der Angeredete der Angegriffene und der Unterlegene. Das Bewusstsein, der »Macht« und der »Gnade« des Vaters ausgeliefert zu sein, ließ mit der Zeit im Sohn das Gefühl der »Wertlosigkeit« entstehen (20).

Es gab »allerdings auch Ausnahmen« von dieser Situation: Als glückliche Momente hat der Schreiber in Erinnerung, wenn der Vater »schweigend« litt, wenn er »müde« einen Mittagsschlaf hielt, wenn er »abgehetzt« sonntags in die Sommerfrische kam, wenn er machtlos die »Krankheit der Mutter« oder die »Krankheit« des Sohnes hinnehmen musste (22). In solchen Augenblicken der Schwäche kamen »Liebe und Güte« (22) zum Vorschein, die sonst meist im Verborgenen blieben.

Mit zunehmendem Alter beobachtete der Sohn den Vater genauer, durchschaute Situationen und fing an, sie zu »sammeln« (23) und zu bespötteln. Im Rückblick sieht der Schreiber in diesen Scherzen »ein übrigens untaugliches Mittel zur Selbsterhaltung« (23). Es kam nämlich nicht zur vielleicht notwendigen Auseinandersetzung, weil die Mutter immer wieder den Sohn – entweder »durch vernünftige Rede« oder durch »Fürbitte« – in den Kreis des Vaters und damit in die Abhängigkeit zurückholte (24). Der Sohn blieb der »Schuldbewußte«, der an der möglichen Bestrafung durch den Vater in gleicher Weise litt wie an der möglichen »Begnadigung« (24). Nie hatte er eine Möglichkeit der Rechtfertigung, des gleichberechtigten Diskurses, des offenen Gesprächs. Zu einer »eigentlichen Versöhnung« (24) kam es nie.

Umgekehrt häuften sich im Laufe der Zeit die Vorwürfe, die der Vater seinem Sohn machte. Er hielt ihm vor, dass er dank seiner, des Vaters, »Arbeit ohne alle Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle lebte« (25). Tatsächlich sind die Leistungen des Vaters beeindruckend. Seine Erzählungen zielen jedoch nicht darauf, seine Kinder zu vergleichbaren Leistungen »auf[zu]muntern« und zu »kräftigen« (25), sondern ihnen ihr Versagen vorzuhalten, sie zu demütigen, da sie nicht anders konnten, als »bettlerhaft dankbar« und nur »in Beschämung, Müdigkeit, Schwäche, Schuldbewußtsein« anzunehmen (27), was der Vater ihnen gab.

Fluchtversuche und Suche nach anderen Beziehungen (27,9–57,6)

Eine Folge der so erfahrenen Erziehung war, dass der Schreiber »alles floh, was nur von Ferne an Dich erinnerte« (27). Er blieb dem Geschäft fern, in dem der Vater nach Einschätzung des Sohnes eine »Tyrannei« (28) betrieb. Dann glaubte der Sohn, vor der ganzen Familie »fliehn« zu müssen, wenn er von dem Vater »fliehn wollte« (29). Er ging auf Distanz zur »Mutter« (29), »zum Teil« auch auf Distanz zu den »Schwestern« (31) und zu anderen näheren Verwandten. Sein »Familiensinn« (35) kehrte sich dahingehend um, dass er von den Personen umso größeren Abstand suchte, je näher sie dem Vater standen.

Für den Sohn, der sein »Selbstvertrauen verloren« und dafür »ein grenzenloses Schuldbewußtsein eingetauscht« hatte, war es durchaus schwierig, »mit anderen Menschen« zusammenzukommen (36). Auch die Rückbesinnung auf das »Judentum« (37) bedeutete keine Rettung. Die Festigung im Judentum war weder für den Vater noch für den Sohn so groß, dass sie darin etwas Gemeinsames oder etwas Trennendes hätten finden können. Zu keinem Zeitpunkt bot das Judentum »die Möglichkeit der Anknüpfung neuer Beziehungen« (40) zwischen Vater und Sohn.

Einzig durch das »Schreiben« war der Sohn »tatsächlich ein Stück selbständig [vom Vater] weggekommen« (41). Die Missachtung des Vaters für die ausgelieferten Bücher des Sohnes bestätigte diesem, zu Unrecht verkannt zu sein, und gab ihm vorübergehend ein Gefühl von »Sicherheit« (41) und Freiheit. Eine Ablösung vom Vater gelang jedoch auf diesem Weg nicht: »Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an deiner Brust nicht klagen konnte« (42). Auch das »Schreiben«, gedeutet als »absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir« (42), war bestimmt durch den Vater, war Konsequenz der nicht erfolgten mündlichen Kommunikation und Ersatz für den verweigerten Dialog.

Obwohl der Vater bezüglich der »Berufswahl« in seiner »großzügigen und in diesem Sinn sogar geduldigen Art [...] völlige Freiheit« (42) gab, war der Sohn nach eigener Einschätzung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr »fähig, eine solche Freiheit eigentlich zu gebrauchen« (44); denn er fühlte sich da, wo er lebte, »verworfen, abgeurteilt, niedergekämpft«, nicht in der Lage »zu flüchten« (44). Deshalb traute er sich erst gar nicht zu, »einen wirklichen Beruf erreichen zu können« (44).

Der »großartigste und hoffnungsreichste Rettungsversuch« war der Versuch zu heiraten, »entsprechend großartig war dann allerdings auch das Mißlingen« (46). Die »negativen Kräfte«, die der Sohn als »Mitergebnis« der väterlichen »Erziehung« beschrieben hat – nämlich: »Schwäche, Mangel an Selbstvertrauen, Schuldbewusstsein« –, waren stärker als die noch vorhandenen »positiven Kräfte« (46), die aus dem Wunsch erwuchsen, »einen Hausstand [zu] gründen« und »selbständig [zu] werden« (52). Hinzu kam, dass er sich für das Heiraten »schlecht vorbereitet« (48) glaubte, dass er sich durch die Einlassungen seines Vaters »gedemütigt« (51) fühlte. »Heirat« als »Bürgschaft für die schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit« (53) blieb ein unerfüllbarer Traum, eine Illusion.

Als Bilanz bleibt, dass dem Schreiber nach eigener Einschätzung nur »im Schreiben [...] kleine Selbständigkeitsversuche, Fluchtversuche mit allerkleinstem Erfolg« (55) gelungen sind, dass er sich insgesamt als unterlegen und gescheitert ansieht: »So endet mein bisheriges Leben mit Dir, und solche Aussichten trägt es in sich für die Zukunft« (57).

Das Angebot zur Entgegnung und Schluss (57,7–59,14)