Cover

Ricarda Martin

Das Lied der Lüge

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Ricarda Martin

Ricarda Martin wurde 1963 in Süddeutschland geboren und lebt als freie Autorin im Schwäbischen Raum. Bereits in früher Jugend wurde ihre Leidenschaft für England und britische Geschichte geweckt. Seit sie die Insel 1984 zum ersten Mal bereist hat, zieht es sie jedes Jahr mehrmals nach Großbritannien. Nachdem sie in verschiedenen Berufen gearbeitet hat, widmet sich Ricarda Martin seit einigen Jahren nur noch dem Schreiben und einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Tierschutzverein im Bereich der Katzenhilfe, denn Tiere sind neben Büchern ihre zweite Leidenschaft.

Über dieses Buch

London, 1906: Lady Lavinia Callington verzweifelt an ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Doch als sie sich das Leben nehmen will, wird sie von Susan, die in ärmlichen Verhältnissen lebt und ungewollt schwanger ist, gerettet. In den beiden Frauen reift ein Plan heran, der ungeheuerlich ist – und der ihrer beider Leben für immer verändern wird …

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2011 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ilse Wagner

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: plainpicture/Onimage; Gettyimages/Kate & Joel Photography

ISBN 978-3-426-41549-8

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A child is born where the wild wind blows,
In a country torn from the south to the north,
And a family runs from day to day,
When will we see our home again?

When will we see the simple truth,
That the only thing that’s worth a damn,

The life of a child is more than a forest,
The life of a child is more than a border,
Could ever be …

 

Auszug aus dem Lied
The Simple Truth (A Child Is Born) von Chris de Burgh
Veröffentlicht auf der CD Flying Colours (1987)

Prolog

London, November 1906

Der über Nacht aufgezogene Nebel hatte sich im Laufe des Tages verdichtet. Gemischt mit dem Rauch aus Tausenden Kaminen, der die Stadt wie eine Saugglocke bedeckte, schien er den Tag zur Nacht zu machen. Es war erst drei Uhr am Nachmittag, als die Droschke vor dem schmalen, hohen Haus in dem eleganten Stadtteil Kensington hielt, aber die Dame hatte das Gefühl, der Abend wäre bereits angebrochen. Mit fahrigen Fingern holte sie die Münzen aus ihrer Geldbörse und bezahlte den Kutscher.

»Soll ich auf Sie warten, Mylady?«

Mit kundigem Blick hatte der Kutscher an der eleganten Kleidung der Dame erkannt, dass sein Fahrgast eine hochgestellte Persönlichkeit war, und er witterte ein gutes Geschäft, denn eine Wartezeit wurde gut bezahlt. Die Frau verneinte jedoch.

»Das ist nicht nötig. Danke.«

Langsam schritt sie die Stufen zu der hellen Eingangstür hinauf. An der Wand wies ein blankpoliertes Messingschild auf den Bewohner des herrschaftlichen Hauses hin.

Dr. Harold Martin

Arzt für Frauenleiden

Sie musste den Türklopfer nur ein Mal betätigen, sogleich wurde ihr geöffnet. Eine ältere Frau in der Tracht einer Krankenschwester lächelte sie freundlich an.

»Kommen Sie herein, Mrs. Green. Der Herr Doktor lässt sich entschuldigen. Er wurde zu einem Notfall gerufen. Ein Kindchen kann es nicht abwarten, ins Leben zu treten, und meldete sich vier Wochen zu früh an. Aber Doktor Martin wird in einer Stunde zurück sein.«

Die Dame folgte der Schwester in ein mit Samtsesseln und schweren, roten Vorhängen üppig eingerichtetes Zimmer. Dankend nahm sie das Angebot einer Tasse Tee an, um die Wartezeit zu verkürzen. Erst, als sie allein war, schlug sie den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, zurück und fuhr sich seufzend über die Stirn. Noch eine Stunde warten! Nun, das bescherte ihr vielleicht eine Galgenfrist, denn sie hatte schon drei Wochen gewartet. Bei der Erinnerung an die vergangenen Untersuchungen lief der Dame ein kalter Schauer über den Rücken, obwohl das Kaminfeuer den Raum gut beheizte. Am liebsten würde sie ihren ersten Besuch im Haus des Arztes vergessen. Die Erinnerung an diese äußerst beschämende Untersuchung hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingegraben. Manchmal träumte sie sogar von dem Augenblick, als sie sich mit entblößtem Unterleib einem Mann nicht nur zeigen, sondern sich von ihm sogar an Stellen betasten lassen musste, die sonst nur ihr Ehemann berühren durfte. Dieser tat es ausschließlich im Schutz der Dunkelheit unter der Bettdecke, während Doktor Martin sie bei hellem Tageslicht untersucht hatte. Aber ihre zweite Konsultation war beinahe noch schrecklicher gewesen, denn Doktor Martin hatte von ihr verlangt, wiederzukommen, wenn sie ihre unpässlichen Tage hatte. Noch jetzt schoss der Dame bei der Erinnerung an diese Demütigung das Blut in den Kopf. Ihr Mann ahnte nicht, was sie erleiden musste, um ihm endlich den gewünschten Sohn und Erben zu schenken. Rasch nahm sie einen Schluck Tee, der inzwischen in der Tasse erkaltet war. Da hörte sie Schritte auf dem Flur, und die Tür wurde geöffnet.

»Mrs. Green, ich bin untröstlich, ich habe Sie warten lassen.« Ein großer, untersetzter Mann mit einer Stirnglatze kam auf sie zu. »Wenn Sie mir bitte in das Untersuchungszimmer folgen würden?«

Ihre Beine zitterten, als sie dem Arzt in den Nebenraum folgte. Bitte, nicht wieder eine Untersuchung, betete sie im Stillen, und das Schicksal hatte ein Einsehen. Doktor Martin bat sie, Platz zu nehmen, dann setzte er sich ihr gegenüber an seinen Schreibtisch.

»Haben Sie die Ergebnisse vorliegen, Doktor Martin?« Ihre Stimme klang selbstbewusster, als ihr zumute war.

Der Arzt nickte und betrachtete seine Patientin. Er wusste, dass ihr Name nicht Dora Green lautete, aber dies spielte keine Rolle. Die Dame bezahlte nach der Konsultation sein hohes Honorar, ohne mit der Wimper zu zucken, immer bar. Doktor Martin besaß genügend Erfahrung, um zu erkennen, dass Mrs. Green die Ehefrau eines einflussreichen, vermögenden Mannes war, der nicht erfahren sollte, dass sie seine Hilfe in Anspruch nahm. In ganz London hatte er sich den Ruf aufgebaut, sogar in ausweglosen Situationen eine Möglichkeit zu finden, den Frauen den sehnlichsten Wunsch nach einer Schwangerschaft zu erfüllen. Als einer der ersten Ärzte in Europa hatte Doktor Martin eine Methode entwickelt, die es ermöglichte, verklebte Eierstöcke – die häufigste Ursache ungewollter Sterilität – wieder durchlässig zu machen. Dies ließ er sich gut bezahlen, aber nicht jede Dame wollte, dass ihr Mann davon erfuhr, und daher konsultierten ihn viele unter einer falschen Identität, denn eine ärztliche Schweigepflicht gegenüber Ehemännern sah das Gesetz nicht vor.

Doktor Martin legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander und lehnte sich in dem bequemen Stuhl zurück. Es waren leider keine guten Nachrichten, die er der Dame mitteilen musste.

»Mrs. Green, Sie haben mich für meine Arbeit gut bezahlt«, begann er und sah der Dame ernst in die Augen. »Darum ist es Ihr gutes Recht, die Wahrheit zu erfahren.«

»Ich bitte darum, Herr Doktor.« Äußerlich schien sie ganz ruhig, während in ihrem Inneren ein Sturm der Gefühle tobte.

»Nun, Mrs. Green, es tut mir aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Ihnen leider nicht helfen kann.« Jetzt war es heraus, und Doktor Martin entging nicht das nervöse Zucken ihres linken Augenlides. Rasch fuhr er fort und bemühte sich um eine sachliche Ausdrucksweise. »In Ihrem Fall liegt die Sache so, dass Ihre Eileiter nicht funktionsfähig sind. Es kommt zwar zum Eisprung und somit zu Ihrem monatlichen Zyklus –«, er bemerkte, wie die Dame tiefrot wurde, als er die Sache derart direkt ansprach –, »nach meinen Erkenntnissen jedoch sind die Eier nicht ausgereift, so dass eine Befruchtung unmöglich ist.«

Mehrere Minuten herrschte Schweigen. Die Dame hielt den Kopf gesenkt, als sie endlich leise fragte: »Und daran kann man nichts ändern? Es gibt keine Medizin oder sogar Operation, um dies zu … verbessern?«

»Leider nicht.« Doktor Martin seufzte. Er liebte seinen Beruf, aber es war ihm lieber, seinen Patientinnen erfreuliche Nachrichten mitzuteilen. Das Strahlen in den Gesichtern der Frauen, denen er hatte helfen können, war ihm fast mehr wert als Münzen. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Sie müssen sich damit abfinden, niemals ein Kind zu empfangen.«

Die Dame erhob sich. Sie schwankte leicht, hatte sich aber gleich wieder im Griff.

»Ich danke Ihnen trotzdem, Doktor Martin.« Endlich hob sie den Kopf, und Doktor Martin sah nicht nur Traurigkeit, sondern tiefste Verzweiflung in ihren Augen.

»Es gibt die Möglichkeit einer Adoption. Allein in London warten Tausende von Waisen auf ein neues Zuhause …«

»Das kommt nicht in Frage.« Heftig unterbrach sie ihn. »Diese Möglichkeit scheidet völlig aus.«

Doktor Martin seufzte innerlich. Die heftige Reaktion der Dame bestärkte ihn in seiner Vermutung, dass ihr Ehemann eine hochgestellte Persönlichkeit sein musste. Leute aus der mittleren Gesellschaftsschicht, wie zum Beispiel Händler oder Kaufleute, waren eher bereit, einem Waisenkind ein neues Zuhause zu geben, als die Adligen. Bei denen musste es immer ihr eigen Fleisch und Blut sein, das den Familiennamen fortführte – dies hatte Doktor Martin im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit häufig erlebt.

Sie wusste nicht, wie sie zur Tür gekommen war. Als die Krankenschwester sie fragte, ob sie ihr eine Mietdroschke rufen sollte, kam sie wieder zu sich.

»Nein danke, ich möchte ein paar Schritte zu Fuß gehen.«

Obwohl erst Nachmittag, waren die Gaslampen bereits entzündet worden. Ohne auf die Richtung zu achten, ging sie die Straße entlang. Doktor Martin war ihre letzte Möglichkeit gewesen. All ihre Hoffnung hatte sie in diesen Mann gesetzt, von dem ganz London sprach, doch es war alles umsonst gewesen. Die demütigenden Untersuchungen – für nichts und wieder nichts. Sie würde ihrem Mann kein Kind schenken können. Was das bedeutete, wusste sie leider nur zu gut – er würde sich von ihr trennen. Seit vier Jahren sagte er es ihr immer wieder, dass er sich eine Frau suchen würde, die in der Lage war, ihm einen Erben zu schenken. Das Recht war auf seiner Seite, sie würde eine Scheidung nicht verhindern können. Nicht, dass sie ihren Mann besonders liebte und ihn vermissen würde. Nein, aber er besaß Macht und Geld. Einst hatte er sie aufgelesen, als sie ganz unten gewesen war und nicht gewusst hatte, wovon sie die nächste Mahlzeit bezahlen sollte. In den fünf Jahren ihrer Ehe hatte sie sich an ein Leben frei von jeglichen finanziellen Sorgen gewöhnt. Ein Leben, wie es ihr der Geburt nach zustand, das ihr gewissenloser Vater jedoch beinahe ruiniert und sie und ihre Mutter in bittere Armut gestürzt hatte. Nach einer Scheidung würde sie erneut mittellos sein, denn ihr Mann verfügte über Mittel und Wege, sie – die unfruchtbare Ehefrau – zurück in die Gosse zu stoßen.

Die Dunkelheit schloss sich dicht um sie, als sie das Ufer der Themse erreichte. Sie wusste, zu Hause würde man mit dem Abendessen auf sie warten, aber wie konnte sie jetzt noch in das Haus in Belgravia zurückkehren, in der Gewissheit, es bald bettelarm verlassen zu müssen. Zum ersten Mal, seit sie die vernichtende Diagnose erfahren hatte, weinte sie. Die Tränen liefen über ihre Wangen, als sie näher an die Uferböschung trat. Dunkel, schmutzig und träge lag das Wasser der Themse vor ihr. Sie wollte nicht wieder arm und von der Gesellschaft ausgeschlossen sein. Niemals wieder! Da war es besser, sie schied aus dem Leben. Sie sah sich um, soweit es der dichte Nebel zuließ. Niemand war zu sehen, das Wetter lockte die Menschen nicht auf die Straße.

Sie schwang ein Bein über die Absperrung. Dabei verhakte sich der Rock an dem Gitter und riss bis übers Knie ein. Es war ihr gleichgültig. Dann stand sie mit beiden Füßen auf der Böschung. Jetzt brauchte sie nur noch einen Schritt vorwärts zu machen. Sie schloss die Augen und sprang …

Erster Teil
Susan

November 1906 bis Dezember 1907

 

1. Kapitel

London, November 1906

Ein naher Kirchturm schlug die fünfte Stunde, und Susan beschleunigte ihre Schritte. Obwohl sie bereits zwei Meilen kräftig ausgeschritten war, fröstelte sie, denn der Nebel durchfeuchtete ihren dünnen, fadenscheinigen Umhang und drang ihr in alle Glieder. Sie hasste dieses Wetter! Sie hasste London im November, wenn sich der Rauch aus Tausenden von Kaminen mit dem Nebel vermischte und die Luft zum Schneiden dick war. Noch mehr hasste sie ihre Arbeit. Es blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als tagein, tagaus in der Fleischerei in Smithfield blutige Stücke zu zerteilen, wenn sie und ihr Sohn nicht verhungern wollten. Obwohl sie ihre Hände und Arme mit Seife und einer harten Bürste schrubbte, bis sie rot und rissig waren, schien sich der Geruch nach rohem Fleisch in jede ihrer Poren eingegraben zu haben und wich nie von ihr. Heute war es wieder einmal später als vereinbart geworden, bis der alte Carter sie endlich gehen ließ, denn er hatte darauf bestanden, dass Susan alle Holzbänke, auf denen das Fleisch zerteilt wurde, penibel reinigte, bevor sie Schluss machen durfte. Dabei wusste Carter, dass sie einen Sohn hatte, der auf Susan wartete. Die Nachbarin, die sich um den Jungen kümmerte, während Susan tagsüber bei der Arbeit war, liebte das Kind zwar wie ihr eigenes, arbeitete jedoch in einer Bar und konnte nicht länger als bis sechs Uhr am Abend auf den Jungen aufpassen. Öfter schon war es vorgekommen, dass der kleine Jimmy allein in dem Loch, das Susans Vermieter als Zimmer bezeichnete, hockte und weinend auf seine Mutter warten musste. In den letzten Monaten hatte Susan alles versucht, eine andere Arbeitsstelle zu bekommen – allerdings erfolglos. In London gab es zu viele Arbeitslose und zu wenige freie Stellen. Sie musste froh sein, überhaupt Arbeit zu haben und nicht mit ihrem Sohn in ein Armenhaus ziehen zu müssen. Zudem war jetzt etwas eingetreten, das es ihr unmöglich machte, eine andere Anstellung zu bekommen. Susan seufzte und begann zu rennen, obwohl heftiges Seitenstechen ihr das Atmen erschwerte. Sie roch den Fluss und ahnte, dass sie bald die Westminster Bridge erreicht haben würde, denn sehen konnte sie keine drei Fuß weit, so dicht war der Nebel, der sich besonders in der Nähe der Themse wie ein graues Leintuch über alles legte. Wenn sie den Fluss überquert hatte, war es nur noch eine knappe halbe Stunde bis zur Wadding Street. Natürlich hätte Susan den Bus oder die U-Bahn nehmen und damit schneller zu Hause sein können, aber öffentliche Verkehrsmittel kosteten Geld. Geld, das Susan nicht hatte, denn der Fleischer Carter zahlte seinen Angestellten einen Hungerlohn. Obwohl Susan die gleiche anstrengende Arbeit wie die beiden Männer, die ebenfalls bei Carter beschäftigt waren, verrichtete, erhielt sie nur knapp die Hälfte des Lohns wie die Männer. Sie war eben nur eine Frau, und der Fleischer wusste genau, dass sie auf die Arbeit angewiesen war. Susan schüttelte sich wie ein junger Hund, als könne sie damit all die Sorgen, die schwer auf ihren schmalen Schultern lasteten, abwerfen. Es war sinnlos, mit dem Schicksal zu hadern. Das war etwas, was Susan im Laufe ihres zweiundzwanzigjährigen Lebens gelernt hatte. Sie musste sich mit Dingen und Situationen, die nun mal nicht zu ändern waren, abfinden. Hätte sie diese Fähigkeit nicht, wäre sie schon längst vor die Hunde gegangen. Susan seufzte, straffte die Schultern und bog auf den schmalen Fußweg an der Uferpromenade ein, der zur Brücke hinaufführte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch direkt vor sich. Es klang wie das Einreißen von Stoff, begleitet von einem Laut, der sich wie das Stöhnen eines Menschen anhörte. Während der letzten Meile war Susan niemandem begegnet, jedenfalls hatte sie niemanden gesehen, was bei dem dichten Nebel nicht verwunderlich war. Wer das Haus nicht verlassen musste, blieb in der warmen Stube am Kamin sitzen. Susan zögerte nicht, sie kannte keine Angst, denn Furcht war etwas, das sie sich nicht erlauben konnte, wollte sie in dem Sumpf, in dem sie steckte, überleben. Als Susan jedoch ganz deutlich hörte, wie etwas auf das Wasser der Themse aufschlug, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Geh einfach weiter, rief eine Stimme in ihr, aber eine andere sagte, sie müsse nachsehen, was hier los war. Die zweite Stimme siegte, und so beugte sich Susan über den niedrigen Zaun, der den Uferweg von der Böschung trennte. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Es schien, als würde unten im Fluss ein großes Bündel treiben. Dies war nichts Ungewöhnliches, denn die Menschen warfen regelmäßig ihren Abfall in die Themse, dennoch war Susan plötzlich voller Sorge. Sie war sicher, einen menschlichen Laut gehört zu haben. Was, wenn jemand ausgeglitten und in den Fluss gestürzt war?

»Ach, zum Teufel«, fluchte Susan, raffte ihren Rock und kletterte über das Geländer. Sie dachte an Jimmy, der jetzt noch ein wenig länger auf seine Mama warten musste, aber sie konnte nicht einfach verschwinden und so tun, als hätte sie nichts bemerkt. Vielleicht war es wirklich nur ein Bündel Lumpen, das sie im eiskalten Wasser erspäht zu haben meinte. Dann würde sie sich eben nasse Füße holen und zusehen, dass sie nach Hause kam. Sollte jedoch wirklich ein Mensch in Not geraten sein, dann würde sie es sich nie verzeihen, einfach weitergegangen zu sein.

Die Böschung war steil und glitschig, und Susan musste achtgeben, um nicht auszurutschen. Als die ersten leichten Wellen ihre Knöchel umspielten und sie vor Kälte nach Luft schnappte, erkannte sie den dunklen Fleck, der auf dem Wasser trieb. Es war tatsächlich ein Kleid, ein Frauenkleid, wie Susan entsetzt feststellte, und sie erkannte auch zwei Füße mit Schuhen, die unter dem Rock hervorragten. Dort trieb eindeutig eine Frau, die in großer Not war. Das Kleid sog sich rasend schnell mit Wasser voll, und die Person drohte binnen weniger Augenblicke zu versinken. Susan zögerte nicht lange, warf ihren Umhang auf den Boden und schlüpfte aus den Schuhen. Als kleines Kind hatte sie in einem der Teiche im Hyde Park schwimmen gelernt, und auch wenn sie seit Jahren in keinem Gewässer mehr gewesen war – so etwas verlernte man nie wieder. Susans Herzschlag drohte auszusetzen, als das eiskalte Wasser über ihr zusammenschlug, aber sie kam schnell wieder an die Oberfläche. Ihre Hände tasteten nach der Frau, die, regungslos auf dem Bauch liegend, nur einen Meter vor ihr im Wasser trieb. Sie musste sich beeilen, denn sonst würden ihre eigenen Kleider sie ebenfalls unweigerlich in die Tiefe ziehen. Zwar war hier in Ufernähe die Themse nicht tief, aber die Strömung zerrte an ihrem Rock, und Susan befürchtete, von ihr erfasst und abgetrieben zu werden. Endlich gelang es ihr, die Person an einem Arm zu packen, doch zu ihrem Entsetzen begann die Frau, ihre Hilfe abzuwehren und nach ihr zu schlagen.

»Lassen Sie mich in Ruhe …«

Susan meinte, sich verhört zu haben, die Abwehrbewegungen der Frau waren jedoch eindeutig.

»Halten Sie still, ich hole Sie hier raus«, rief Susan, so laut sie konnte, und fügte noch ein »Hilfe! Zu Hilfe, ist denn niemand hier?« an.

Plötzlich spürte sie Boden unter ihren Füßen, und sie bohrte diese fest in den schlammigen Untergrund des Flusses. Es gelang ihr, die Fremde an der Taille mit beiden Armen zu umklammern und näher an sich heranzuziehen. Obwohl Susan nur mittelgroß und sehr schlank war, steckte in ihrem zierlichen Körper mehr Kraft, als ein Betrachter vermutet hätte. Das Leben hatte Susan stark gemacht, und das nicht nur in körperlicher Hinsicht. In der Fleischerei schleppte sie sechs bis acht Stunden täglich Schweine- und Rinderhälften, daher waren ihre Oberarme muskulöser als bei manchem Mann.

Die Abwehrbewegungen der Fremden wurden schwächer, und endlich gelang es Susan, sie auf die sichere Böschung zu hieven. In der Dunkelheit konnte sie kaum die Gesichtszüge erkennen, bemerkte jedoch, dass ihr Kleid aus Seide sein musste, obwohl Susans Finger nie zuvor einen solch edlen Stoff ertastet hatten.

»Sind Sie völlig verrückt? Wir hätten beide ertrinken können!« Susans Anspannung entlud sich in Ärger. Die Frau zuckte jedoch nur lapidar mit den Schultern.

»Genau das wollte ich. Warum haben Sie mich nicht einfach in Ruhe gelassen?«

Ihre Stimme war leise und klang deprimiert, was Susan bei Menschen, die mit ihrem Schicksal haderten, schon gehört hatte. Der Frau war es mit ihrem Vorhaben wahrscheinlich wirklich ernst gewesen. Sie hatte sich das Leben nehmen wollen. Susan zögerte. Sie war bis auf die Knochen durchnässt, fror erbärmlich, und Jimmy wartete sehnsüchtig auf sie. Dennoch konnte sie jetzt nicht einfach gehen, denn sie zweifelte nicht daran, dass die Frau erneut versuchen würde, sich umzubringen. Darum tastete sie nach ihren Schuhen, schlüpfte hinein und fand auch ihren Umhang. Susan legte ihn der Fremden um die Schultern, denn diese fror nicht weniger als sie selbst.

»Ich weiß zwar nicht, warum ich es tue, aber ich bringe Sie jetzt nach Hause.« Kaum hatte Susan die Worte ausgesprochen, hätte sie sie am liebsten zurückgenommen. Was ging sie die Fremde an? Sie hatte getan, was ihre christliche Pflicht gewesen war, und sie aus dem Fluss gezogen. Wenn die Lebensmüde sich erneut hineinstürzen wollte, so war es nicht ihre Sache.

»Nach Hause …« Resigniert strich sich die Frau die nassen Haarsträhnen aus der Stirn. »Vielleicht ist es das Beste, wenn ich nach Hause gehe. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut finde, mein Leben zu beenden.«

»Hören Sie auf, einen solchen Unsinn zu reden. Selbstmord hat nichts mit Mut zu tun, sondern viel mehr mit Feigheit.« Susans Stimme hörte man an, wie wütend sie war. »Nichts auf dieser Welt ist so schlimm, als dass es keine Lösung dafür gäbe.«

Langsam erhob sich die Fremde und stützte sich schwer auf Susans Arm.

»Sie haben leicht reden«, murmelte sie. »Was wissen Sie schon vom Leben?«

Susan verzichtete auf eine Antwort, denn sie musste sich konzentrieren, zusammen mit der Frau die glitschige Böschung zu erklimmen, ohne dabei auszurutschen und zurück in den Fluss zu fallen. Als sie endlich die Uferpromenade erreicht hatten, war immer noch weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Die beiden Frauen taumelten ein Stück den Weg entlang, bis sie in das fahle Licht einer Straßenlaterne traten. Hier sah Susan zum ersten Mal das Gesicht der Frau, deren Leben sie soeben gerettet hatte. Obwohl sie blass war, das nasse Haar ihr wirr um den Kopf hing und Schmutz auf ihren Wangen klebte, war die Fremde sehr attraktiv und nur wenige Jahre älter als Susan.

»Wohnen Sie hier in der Nähe?« Susan stellte die Frage in der Hoffnung auf eine positive Antwort. Sie wollte die Frau so schnell wie möglich abliefern, damit sie selbst nach Hause konnte, aus den nassen Sachen herauskam und Jimmy nicht mehr länger warten musste, aber die Fremde schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie uns vielleicht eine Droschke besorgen könnten?« Ihre Stimme klang zart, beinahe schon schüchtern, und sie umklammerte Susans Oberarm so fest, als wolle sie diesen nie wieder loslassen.

Susan seufzte und sah sich um.

»Wir müssen ein paar Schritte laufen, am Parlamentsgebäude werden wir bestimmt eine Droschke finden. Schaffen Sie das?«

Die Fremde nickte, ließ Susan jedoch nicht los, so dass Susan sie mehr oder weniger mitschleppte. Just in dem Moment, als der mächtige Glockenturm im Nebel auftauchte, schlug Big Ben die sechste Abendstunde. Jetzt musste Lilo Jimmy allein lassen, um zur Arbeit zu gehen, dachte Susan und seufzte. Nun, in einer Stunde würde sie wohl zu Hause sein, so lange musste der Junge eben warten.

Auf dem Vorplatz des Parlaments standen einzelne Droschken, die Kutscher, in dicke Mäntel gehüllt und Tücher vor Mund und Nase gezogen, trotzten der nebligen Kälte.

»Von hier kommen Sie sicher nach Hause. Ich muss mich jetzt nämlich beeilen«, sagte Susan und versuchte, sich von der Frau zu lösen.

Wie die Krallen eines Raubvogels schlossen sich die Finger der Frau um Susans Arm.

»Kommen Sie mit. Bitte, Sie haben versprochen, mich nach Hause zu begleiten.«

»Mein Junge ist ganz allein«, wandte Susan ein. »Er ist erst zwei Jahre alt und …«

In die Augen der Frau schossen Tränen, und Susan befürchtete, sie würde hier mitten auf der Straße zu weinen anfangen.

»Bitte, lassen Sie mich jetzt nicht allein!«, flehte sie, griff in ihre Manteltasche und holte eine Münze hervor. »Hier, ich bezahle Sie auch für Ihre Zeit.«

Unschlüssig betrachtete Susan die Münze. Einerseits wollte sie Jimmy nicht länger warten lassen, aber für das Geld, das die Frau ihr anbot, musste sie bei Carter beinahe eine ganze Woche arbeiten. Sie gab sich einen Ruck und murmelte: »Nun gut, aber ich habe nicht viel Zeit«, und steuerte dann die erste Droschke auf dem Platz an. Der Kutscher musterte die beiden Frauen kritisch, als sie einstiegen.

»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte er wenig freundlich, was Susan ihm nicht verdenken konnte. Sie beide boten einen wenig vertrauenswürdigen Anblick – völlig durchnässt, über und über mit Schlamm und Schmutz bespritzt und mit aufgelösten, wirren Haaren.

Die Fremde nannte eine Adresse, die Susan unbekannt war, obwohl sie ihr ganzes Leben in London verbracht hatte. Der Kutscher pfiff durch die Zähne und zögerte. »Das ist aber ein Stück.« Es war eindeutig, dass er sich fragte, ob diese beiden abgerissenen Gestalten wohl in der Lage waren, die Fahrt zu bezahlen. Die Fremde verstand und nickte.

»Keine Sorge, Sie werden Ihr Geld erhalten. Ich werde es sogar verdoppeln, wenn Sie so schnell wie möglich fahren. Auch als kleine Entschädigung, weil wir Ihre Polster beschmutzen.«

Der skeptische Gesichtsausdruck blieb, aber dann setzte sich die Droschke endlich in Bewegung. Während sich die Frau mit geschlossenen Augen zurücklehnte, versuchte Susan, durch das Fenster etwas von der Umgebung zu erkennen. Der Nebel lichtete sich zwar nicht, die Straßen wurden jedoch breiter und waren von zahlreichen Laternen gesäumt, die die hohen Häuser in ein diffuses Licht tauchten. Sie befanden sich eindeutig in einer der besseren Gegenden Londons – ein Stadtviertel, in dem Susan nie zuvor gewesen war. Nach zwanzig Minuten hielt die Kutsche vor einem vierstöckigen Haus, zu dessen verzierter Eingangstür fünf von Säulen flankierte Stufen hinaufführten. Das Haus war eines von rund einem Dutzend ähnlicher Gebäude, die sich in einem Halbrund um einen großen Platz gruppierten. Susans erster Eindruck hatte sie nicht getrogen – wenn die Selbstmörderin hier wohnte, dann gehörte sie zur privilegierten Oberschicht, wenn nicht gar zum Adelsstand.

Auch Reiche haben offenbar Sorgen, dachte Susan und musste gegen ihren Willen schmunzeln. In ihrem eigenen Leben hatte es bisher viele Situationen gegeben, in denen labilere Menschen als sie den Weg ins Wasser gewählt hätten. Gerade jetzt befand sie sich wieder in einer prekären Lage, aber Susan war es gewohnt, zu kämpfen. So einfach ließ sich eine Susan Hexton nicht unterkriegen, außerdem brauchte ihr Sohn sie. Sein Vater hatte ihn bereits verlassen, die Mutter würde er nicht auch noch verlieren, wenngleich Susans derzeitige Situation alles andere als rosig war und sie sich manchmal wünschte, einfach einzuschlafen und niemals wieder aufzuwachen.

Beim Gedanken an Jimmy sagte Susan laut: »So, jetzt sind Sie zu Hause, und ich werde machen, dass ich ebenfalls heimkomme. Ihr Geld nehme ich gerne an, denn davon kann ich die Droschke bezahlen. Zu Fuß ist es nämlich ein ganz schönes Stück, das ich laufen müsste, und ich möchte mein Kind nicht noch länger warten lassen.«

Susan hatte den Schlag der Kutsche bereits geöffnet, als sich die langen, schlanken Finger der Dame um ihr Handgelenk schlossen. Der Blick aus ihren dunkelbraunen Augen war ebenso flehend wie ihre Stimme.

»Kommen Sie mit herein. Ihre Sachen sind nass, Sie werden sich noch erkälten. Ich lasse Ihnen ein Bad bereiten, eine heiße Tasse Tee und etwas zu essen.«

So verlockend die Aussicht auf etwas Warmes – innerlich wie äußerlich – auch war, Susan schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht …«

»Bitte! Ich brauche Sie jetzt. Sie sind doch meine Lebensretterin.«

Susan gab sich einen Ruck und seufzte. »Nun gut, aber nur wenige Minuten. Nur so lange, bis ich sehe, dass Sie da drinnen in guten Händen sind, dann muss ich wirklich gehen.«

Der Kutscher nannte seinen Lohn, und die Fremde händigte ihm, wie versprochen, die doppelte Anzahl von Münzen aus, die sie einer Geldbörse in ihrer Rocktasche entnahm. Als Susan den Kutscher bitten wollte, zu warten, um sie nach Hause zu fahren, schien die Dame ihre Gedanken erraten zu haben, denn sie sagte: »Meine eigene Kutsche wird Sie später heimbringen.«

Susan nickte und folgte der Fremden die Stufen hinauf. Die Fenster in den ersten zwei Stockwerken waren hell erleuchtet, und die Haustür wurde sofort geöffnet, nachdem die Dame den Türklopfer betätigt hatte.

»Monkton, veranlassen Sie, dass zwei heiße Bäder eingelassen werden. Meine Begleitung und ich sind etwas nass geworden.«

Erstaunt hörte Susan, wie bestimmend, fast schon arrogant plötzlich die Stimme der Dame klang. Von ihrer Verzweiflung war nichts mehr zu spüren. Offenbar war sie es gewohnt, Befehle zu erteilen, ebenso, wie der Butler diese nicht in Frage stellte und unverzüglich befolgte. Er verbeugte sich mit unbewegter Miene und sagte mit sonorer Stimme: »Selbstverständlich, Mylady, ich werde sofort zwei Mädchen nach oben schicken.«

Während Susan an dem hochgewachsenen, grauhaarigen Mann vorbeiging, warf sie einen verstohlenen Blick in sein Gesicht. Wenn er sich darüber wunderte, dass seine Herrin verdreckt und durchnässt und dazu noch mit einer Unbekannten im Schlepptau nach Hause kam, so wies nichts in seiner Mimik darauf hin. Sie hatte keine Zeit, sich in dem Vestibül und in der Halle umzusehen, denn die Dame schritt so entschlossen und schnell die Treppe hinauf, dass Susan Mühe hatte, ihr zu folgen. Im zweiten Stock öffnete sie eine Tür.

»Das Wasser wird gleich eingelassen. Ich werde anweisen, dass man Ihnen ein trockenes Kleid bringt.«

Susan, die sonst nicht auf den Mund gefallen war, trat durch die Tür, in der Annahme, eines der Gästezimmer zu betreten. Umso erstaunter war sie, als sie erkannte, dass sie sich in einem Badezimmer befand. Sie hatte davon gehört, dass die reichen Leute Räume hatten, die einzig und allein dafür da waren, um sich darin zu waschen und zu baden, hatte aber nicht geglaubt, so etwas einmal mit eigenen Augen zu sehen. In den Kreisen, in denen Susan verkehrte, erhitzte man das Wasser auf dem Feuer in der Küche, wo man sich auch wusch, und wenn man baden wollte – falls überhaupt, denn ein Vollbad war ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten –, wurde eine Zinkwanne in die Küche geschleppt und diese mit Wasser gefüllt. Susan konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein Vollbad genommen hatte, es war jedoch schon einige Jahre her.

Kaum war die Dame verschwunden, betrat ein junges Mädchen, nicht älter als fünfzehn Jahre, den Raum. Zu Susans Verwunderung knickste sie vor ihr.

»Ihr Bad ist gleich bereit, Miss.«

Das Mädchen trat zu der großen, beinahe den ganzen Raum einnehmenden Badewanne und drehte beide Messinghähne auf. Dampf stieg auf, als das heiße Wasser in einem dicken Strahl in die emaillierte Wanne schoss. Fließendes Wasser, dachte Susan und seufzte kaum vernehmlich vor Freude, endlich die nassen Sachen ausziehen zu können. Erst jetzt merkte sie, dass sie vor Kälte am ganzen Körper zitterte. Nachdem die Wanne halb gefüllt war, sah das Mädchen sie fragend an.

»Darf ich Ihnen Rosenöl zusetzen, oder bevorzugen Sie Badeschaum?«

»Äh … Rosenöl …«, antwortete Susan verwirrt. Sie kannte weder das eine noch das andere und schnupperte fasziniert, als das Mädchen einen Glasflakon öffnete und ein paar Tropfen einer hellroten Flüssigkeit in das Wasser träufelte.

Während Susan ihr Kleid aufknöpfte, fragte sie: »Wie lautet noch mal der Name deiner Herrin?« Als sie den erstaunten Blick des Hausmädchens bemerkte, fuhr Susan, rasch erklärend, und die Wahrheit ein wenig verändernd, fort: »Wir haben uns erst vorhin kennengelernt, und ich habe ihren Namen nicht richtig verstanden.«

»Oh, ich verstehe.« Das Mädchen nickte zwar, Susan vermutete jedoch, dass sie ebenso wenig wie der Butler verstand, warum Susan in diesem Haus war. Für die Domestiken gab es jedoch klare Anweisungen, sich nicht in die Angelegenheiten der Herrschaft zu mischen, daher beantwortete sie bereitwillig Susans Frage. »Das ist das Haus von Lord und Lady Callington. Mylord ist der sechste Viscount of Tredary in Cornwall und Parlamentsabgeordneter für Südost-Cornwall. Er und Lady Lavinia sind seit fünf Jahren verheiratet.«

»Haben sie Kinder?«, fragte Susan, die Gesprächigkeit des Mädchens ausnutzend.

»Bisher nicht, Miss.«

»Wie ist eigentlich dein Name?«, fragte Susan und lehnte sich mit geschlossenen Augen wohlig in dem warmen, aber nicht zu heißen und köstlich duftenden Wasser zurück.

»Emma. Emma Monkton.«

»Monkton?« Susan öffnete die Augen, und das Mädchen nickte.

»Ich bin die Enkelin des Butlers und sehr glücklich, in diesem Haus arbeiten zu dürfen. Lady Lavinia ist eine gute und gerechte Herrin.«

Susan wurde einer Antwort enthoben, als es an die Tür klopfte. Emma öffnete und nahm ein Tablett entgegen. Über den Badewannenrand legte sie ein Holzgestell, auf dem sie das Tablett abstellte. Bei dem Anblick einer Tasse goldgelben Tees und eines Tellers mit Kresse verzierten Gurkensandwiches lief Susan das Wasser im Mund zusammen. Seit dem Mittag hatte sie nichts mehr gegessen und merkte erst jetzt, wie hungrig sie war.

»Wenn Sie mich nicht mehr benötigen, kümmere ich mich um Ihre Kleidung, Miss«, sagte Emma und nahm Susans nasses Kleid vom Boden auf.

Mit einer Handbewegung gab Susan dem Mädchen zu verstehen, dass sie gehen konnte, und fühlte sich dabei wie die Queen höchstpersönlich. Dann nippte sie an dem heißen Tee und verspeiste die Sandwiches binnen weniger Minuten. Das alles hier kam ihr vor wie in einem Traum. Dieser hatte zwar dramatisch begonnen, sich nun jedoch in eine Richtung gewandelt, die Susan mehr als gefiel.

»Das wäre ein Leben!« Laut sagte sie diese Worte und schlug spielerisch mit der Handfläche auf das Wasser, das nach allen Richtungen spritzte. Dass dadurch auch der Fußboden nass wurde, war Susan egal. Wofür gab es schließlich Personal? Wenn sie ihr Bad beendet hatte, würde dieser Traum ohnehin vorbei sein und sie in ihr karges Zimmer, das kaum größer als das Badezimmer hier war, zurückkehren.

Susan war keine schlechte Mutter, aber nun dachte sie nicht mehr an ihren Sohn. Zu fantastisch waren der Luxus eines duftenden Vollbades, des Essens und die dicken, flauschigen Handtücher, die griffbereit neben der Wanne lagen. Jimmy war es gewohnt, öfter mal allein zu sein, die paar Stunden würden dem Jungen nicht schaden. Susan interessierte es brennend, zu erfahren, was Lady Lavinia bewogen hatte, in die eiskalte Themse zu springen. Ein Mensch, der in einer solchen Umgebung lebte, konnte unmöglich so große Sorgen haben, die einen dazu trieben, Selbstmord zu begehen.

»Lavinia Callington …« Laut ließ Susan den Namen auf der Zunge zergehen. Er passte zu ihr, denn er klang ebenso edel, wie die Gesichtszüge der Dame geformt waren. Bestimmt stammten sie und ihr Mann aus einem uralten Adelsgeschlecht und verkehrten regelmäßig bei Hofe. Sie war gespannt, Lady Lavinia näher kennenzulernen.

 

Eine halbe Stunde später geleitete Emma Susan in das Boudoir von Lady Lavinia. Ihr eigenes Kleid war nicht mehr zu retten gewesen, so hatte Emma ihr ein abgelegtes ihrer Herrin gebracht, ebenso frische Unterwäsche. Beinahe ehrfurchtsvoll war Susan in die schneeweiße, knielange Hose und das Unterkleid aus Baumwolle geschlüpft. Sie hatte von dem Material, das sich warm und weich an den Körper schmiegte, gehört, konnte sich aber selbst keine Unterwäsche aus Baumwolle leisten. Ihre war aus derber, rauher Wolle, an zahlreichen Stellen geflickt und durch das viele Waschen grau verfärbt. Lady Lavinias altes Kleid war Susan zwar in der Taille zu weit, und der Rocksaum und die Manschetten waren abgestoßen, doch der maulbeerfarbene Samt fühlte sich wie eine Wolke an, wenn Susan über den Stoff strich. Nie zuvor hatte sie ein schöneres und eleganteres Kleid besessen, wenngleich dieses nur ein schlichtes Vormittagskleid ohne jeglichen Zierat war. Susan hoffte, das Kleid behalten zu dürfen, denn Emma hatte ihr gesagt, sie habe ihr altes verbrannt. Dann würde sie dieses Kleid für den Rest ihres Lebens in Ehren halten und es nur zu besonderen Anlässen tragen. Noch während sie sich fragte, welche besonderen Anlässe es in ihrem Leben wohl geben könnte, öffnete Emma eine Tür, und Susan sah sich Lavinia Callington gegenüber, die sich während der letzten Stunde völlig verwandelt hatte. Nichts an der hohen, schlanken Erscheinung in dem senfgelben Seidenkleid mit den perfekt aufgesteckten, brünetten Haaren erinnerte mehr an die Frau, die sich noch vor zwei Stunden in der Themse hatte ertränken wollen. Das Boudoir war mittels Gaslampen hell erleuchtet, das Licht spiegelte sich in den dunkelbraunen Augen der Lady, und nur eine leichte Blässe auf ihren Wangen ließ auf das dramatische Ereignis des späten Nachmittags schließen.

»Setzen Sie sich«, forderte sie Susan auf. »Ich hoffe, das Bad und der Imbiss haben Sie etwas aufgewärmt.«

Susan nickte. »Ja, danke, Lady Callington, auch für das Kleid, es ist wunderschön.«

»Ach, das ist ein uraltes, ich trage es schon lange nicht mehr.« Lavinia winkte ab. »Wie ich höre, hat das Hausmädchen Sie über meine Person aufgeklärt. Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, mich Ihnen bisher nicht vorgestellt zu haben. Nachdem Sie jetzt wissen, wer ich bin, darf ich Sie wohl um Ihren Namen bitten?«

Susan runzelte über die hochtrabende Ausdrucksweise die Stirn. Sie war einen solchen Umgangston nicht gewohnt und wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich nach Hause.

»Ich heiße Susan Hexton und lebe im Stadtviertel Lambeth, südlich der Themse.«

Bei der Erwähnung des Flusses verzog Lavinia unwillig das Gesicht. Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, obwohl sie allein im Zimmer waren.

»Es ist nicht nötig, dass irgendjemand erfährt, was sich vorhin … zugetragen hat. Dem Mädchen habe ich gesagt, ich wäre bei einem Spaziergang im Hyde Park ausgeglitten und in die Serpentine gefallen. Sie sind zufällig vorbeigekommen und waren mir behilflich.«

»Ein Spaziergang im Park bei diesem Nebel?«, entfuhr es Susan skeptisch. »Ist das nicht sehr unwahrscheinlich?« Da sich Lavinias Gesicht verschloss, zuckte Susan mit den Schultern und fuhr fort: »Nun, mir soll es gleich sein, ich möchte jetzt nach Hause.«

Sie wollte aufstehen, aber Lavinia gebot ihr mit einer Handbewegung, sitzen zu bleiben.

»Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet bin. Mein Verhalten … vorhin … es war dumm. Sie haben recht, es ist feige, aus dem Leben zu scheiden, statt sich seinen Problemen zu stellen.« Lavinia lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln. Sie machte eine raumgreifende Handbewegung. »Ich werde lernen, ohne all dies hier zu leben, wenngleich ich jetzt noch nicht weiß, wie ich das bewerkstelligen soll.«

Obwohl alles in Susan nach Hause zu ihrem Sohn drängte, war ihr Interesse nun doch geweckt.

»Sind Sie etwa pleite?« An Lavinias Zusammenzucken merkte Susan, wie taktlos ihre Frage war. »Entschuldigung, das geht mich zwar nichts an, aber …«

Lavinia unterbrach sie mit einem Seufzer, der aus ihrer tiefsten Seele zu kommen schien.

»Warum sollte ich es Ihnen nicht erzählen? Da Sie mir das Leben gerettet haben und wir beide uns nie wieder begegnen werden, tut es mir vielleicht gut, mit jemandem über meine Sorgen zu sprechen. Nein, pleite, wie Sie es nennen, sind wir nicht. Vielmehr mein Mann ist es nicht, im Gegenteil, in der Familie der Tredarys gab es niemals finanzielle Schwierigkeiten. Genau das ist jedoch mein Problem. Mein Mann braucht einen Erben, der die Familientradition fortsetzt, und heute habe ich erfahren, dass ich niemals ein Kind bekommen kann.«

Susan war von Lavinias Offenheit beschämt, aber auch beeindruckt. Lediglich der traurige Ausdruck in ihren Augen sagte ihr, wie sehr Lavinia unter dieser Erkenntnis litt.

»Das tut mir leid für Sie, Mylady, wenn Ihr Mann Sie jedoch liebt, dann …«

Susan lachte laut heraus, schlug sich aber sofort die Hand auf den Mund.

»Ich verstehe, dass Ihnen dies lächerlich erscheinen muss. Sie haben jedoch keine Ahnung von den Konventionen, die in unseren Kreisen herrschen.« Lavinia hob in einer hilflosen Geste die Hände, und Susan konnte sich eines Anflugs von Mitleid nicht erwehren, das stärker wurde, als Lavinia fortfuhr: »Unglücklicherweise hat mein Mann bei unserer Vermählung durch einen Anwalt verfügt, dass ich – sollte ich ihm keinen Erben gebären – im Falle einer Scheidung keinen Penny erhalte.«

»Leider schon. Wir Frauen haben in unserem Staatssystem ohnehin keine Rechte, also kann ich gegen diese Verfügung nichts unternehmen. Das heißt, ich werde wohl bald kein Dach mehr über dem Kopf haben und mir meinen Lebensunterhalt erbetteln müssen.«

»Was wissen Sie denn schon?« Susan war über Lavinias plötzlichen Stimmungswechsel überrascht, denn plötzlich wirkte diese richtiggehend zornig. »Meine Eltern sind bankrott, pleite, wie man in Ihrer Schicht zu sagen pflegt. Darum drängten sie auf die Ehe mit Edward, wenngleich er ihnen auch nicht mehr aus der Misere helfen konnte. Die wenigen Verwandten, die wir hatten, wandten sich von uns ab, als sich mein Vater vor zwei Jahren erschoss, weil er mit der Schande der Mittellosigkeit nicht länger leben konnte. Für meinen Mann ist meine Mutter ebenfalls gestorben, denn mit der Frau eines Selbstmörders verkehren wir in unseren Kreisen nicht. Somit habe ich niemanden, an den ich mich wenden kann und der mir helfen würde. Außerdem ist eine geschiedene Frau nicht gesellschaftsfähig, und es bleiben ihr die Türen aller guten Häuser verschlossen. Diese Schande kommt zu der finanziellen Misere hinzu.«

»Sie erwarten ein Kind?« Lavinias Augen flackerten unruhig. »Was ist mit dem Vater? Hat er Sie sitzenlassen? Ich nehme nicht an, dass Sie verheiratet sind.«

Ohne Lavinia weiter zu beachten, stand Susan auf und ging zur Tür. Eine Hand bereits auf dem Knauf, hörte sie, wie Lavinia rief: »Geben Sie mir Ihr Kind! Ich meine das Ungeborene. Sie können es für mich austragen, und ich werde Sie dafür gut bezahlen. Dann sind Sie Ihre Sorgen los.«

»Sie sind ja verrückt und wissen nicht mehr, was Sie sagen! Ich hätte Sie am besten im Wasser lassen sollen.«

Die Summe fuhr wie ein heißes Eisen durch Susans Körper. Eintausend Pfund! Sie hatte keine Vorstellung, wie viel das war, es hörte sich jedoch unglaublich hoch an. Lavinia bemerkte Susans Zögern. Sie trat neben sie, legte eine Hand auf Susans Schultern und sah ihr eindringlich in die Augen.

»Im vierten, das Kind wird im April erwartet.« Gegen ihren Willen entschlüpfte Susan die Antwort, dann jedoch schüttelte sie vehement den Kopf. »Sie sind wirklich verrückt«, wiederholte sie, schüttelte Lavinias Hand ab und verließ schnell das Zimmer.

Fröstelnd, denn Susan hatte weder Umhang noch Mantel, machte sie sich auf den Weg durch den kalten Abend. Bei jedem Schritt, der sie weiter von Belgravia fortführte, wurde es ihr etwas leichter ums Herz. Dennoch konnte Susan nicht verhindern, dass auch nach zwei Stunden, als sie endlich den Stadtteil Lambeth erreichte, Lavinias Stimme ihr immer noch in den Ohren klang. Es war nur ein Satz, aber diesen wurde Susan nicht los: »Ich gebe Ihnen eintausend Pfund.«