Irene Scharenberg

Gefährliches Doppel

Duisburg Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

Für meine Familie

1

Heribert Heitkämper goss sich seinen zweiten Kaffee ein. Nicht ein Tropfen blieb in der Kanne, als seine Tasse exakt bis zur richtigen Höhe gefüllt war. Er hatte es genau berechnet. Sein Rührei hatte er sich ebenfalls auf zwei gleich große Portionen aufgeteilt. Er aß nun die zweite, während er missmutig aus dem geöffneten Fenster sah. Trotz der frühen Morgenstunde drang schwüle Luft herein. Gleichzeitig verhüllten dunkle Wolken die Sonne, als kündigten sie den Weltuntergang oder zumindest ein Unheil an.

Vergeblich hielt er nach einem kleinen Lichtblick Ausschau. Nicht einmal ein kleiner, blauer Fetzen war am Himmel zu sehen. Offensichtlich hatte sich die Gewitterfront der letzten Nacht noch nicht verzogen. Leider war heute Sonntag, und Heitkämper würde sich schrecklich langweiligen. Er langweilte sich immer, wenn er freihatte. Während seine Kollegen das Wochenende genossen, hätte er am liebsten an sieben Tagen in der Woche gearbeitet. Er liebte seine Arbeit ebenso wie seine Gewohnheiten. Eine davon bestand darin, sonntags in aller Frühe eine große Runde mit dem Fahrrad zu drehen. Heitkämper wohnte auf der Deichstraße in Duisburg-Laar in der dritten Etage eines neueren Mietshauses, hoch genug, um von seinem Balkon auf den Rhein blicken zu können.

Heitkämper verließ seine Wohnung wie immer genau nach den Nachrichten um sieben Uhr, genauso wie er immer dieselbe Route abfuhr, als sei sie ihm einprogrammiert worden wie einem Zugvogel. Schuldbewusst schielte er zu dem Helm, der im Keller an einem Haken über seinem Fahrrad hing. Den Helm hatte er zum Geburtstag von seiner fast neunzigjährigen Mutter bekommen. Die alte Dame war sehr um seine Sicherheit besorgt. Zu sehr, wie er fand.

Während er versuchte, den Gedanken an seine Mutter zu verdrängen, radelte er in Richtung Ruhrort, bis er einen Weg erreichte, der zum Deich hinaufführte. Von hier oben hatte er einen besseren Überblick: auf die riesige Grubenlampe, die man unlängst als Bergbaudenkmal auf einer Halde platziert hatte, auf die Autobahnbrücke, die im Hintergrund mit leuchtend roten Streben den Rhein überspannte, davor die dunkle Eisenbahnbrücke, weiter rechts den oberen Teil eines Gasometers. Am Ufer führten zwei Hundebesitzer ihre Lieblinge Gassi.

Heitkämper mochte diese Mischung aus Industrie und Natur. Selbst die Kunst kam nicht zu kurz. Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts saß der Laarer Junge auf einem Dach mit Blick auf den Rhein und grüßte die vorbeifahrenden Binnenschiffer. Manchmal gewann Heitkämper jedoch den Eindruck, er schaue auf ihn herab. Mit verkniffenen Gesichtszügen schielte er zu einem der Nachbarhäuser mit Fassadenmalerei, zwei Anker und ein Steuerrad verzierten die Vorderfront. Hier hatte seine Mutter gelebt, bevor er ihr einen Platz im Seniorenwohnheim in Huckingen besorgt hatte. Wie oft hatte sie hinter den kurzen Gardinen mit Blick auf den Deich auf ihn gelauert und nicht begreifen können, warum er an ihrer Wohnung vorbeifuhr, ohne anzuklopfen.

Unwillig schob er die Gedanken an seine Mutter beiseite. Er gab sich nicht gerne irgendwelchen Gefühlsregungen hin, erst recht keinen Schuldgefühlen. Schließlich war er ein Mann von Zahlen. Zahlen waren fast das Einzige, was in seinem Leben wirklich zählte, dicht gefolgt von penibler Ablage und geordneten Abläufen. In seiner Firma pflegte man sich darüber lustig zu machen. Heitkämper ist so berechenbar wie eine Präzisionsmaschine, witzelten die Kollegen. Doch er nahm ihnen das nicht übel. In gewisser Weise empfand er diese Charakterisierung sogar als Kompliment.

Inzwischen hatte er die Stelle erreicht, wo eine Reihe Pappeln den Deich säumte. Diesen Teil der Route mochte er ganz besonders. Er liebte den Blick über die Kleingartenanlage. Irgendwo hatte er gelesen, dass es in der Stadt Duisburg über hundert Schrebergartenanlagen geben sollte. Eilig passierte er das Gelände des Sankt Joseph Krankenhauses. Etwas weiter entfernt, hinter einer Wiese mit Obstbäumen, stieß die Sinteranlage von Beeckerwerth gerade eine unverkennbare rötliche Wolke Sinterstaub in den Himmel. Heitkämper verzog das Gesicht. Er mochte lieber nicht wissen, welchen Anteil die Wolke an der Feinstaubbelastung hatte. Dafür schaffte die Anlage natürlich einige Arbeitsplätze. In Gedanken vertieft verließ er den Deich. An den monströsen Betonpfeilern der Autobahnbrücke klebten Werbeplakate und versprachen ein Leben, das Heitkämper nicht einmal zu träumen wagte. Sein Weg führte nun mitten durch Industriegelände der ThyssenKrupp Stahl AG. Jetzt musste er nur noch am Werktor 7 und der Emscheraufbereitung vorbei, dann ging es zum Alsumer Berg hinauf, dem Ziel seiner Route. Oben gönnte er sich immer genau fünf Minuten Rast.

In Heitkämpers Leben herrschte beruhigende Routine, die an diesem Morgen allerdings jäh durchbrochen werden sollte. Er hatte gerade das Werktor passiert, als sich ein Motorengeräusch rasch näherte. Verwundert schaute Heitkämper nach hinten. Immerhin verirrten sich selten Fahrzeuge hierher, zumindest nicht an Sonntagen um diese Uhrzeit.

Der Kerl muss mindestens achtzig Stundenkilometer drauf haben, dachte Heitkämper. Das konnte nur ein jugendlicher Fahrer sein, obwohl die an arbeitsfreien Tagen in der Frühe meist noch schliefen. Als der Wagen ihn fast erreicht hatte, drehte er sich neugierig um. Schockiert riss er das Lenkrad zur Seite. Keine Sekunde zu früh, um sein Leben zu retten. Während Heitkämpers Körper in hohem Bogen über den Lenker geschleudert wurde, brauste der Wagen davon. Heitkämper hatte nicht einmal die Marke erkannt, nur den dunklen Lack hatte er registriert.

Regungslos lag er einige Sekunden auf dem Asphalt. Vor lauter Schreck war er zu keiner Bewegung fähig. Der Schmerz setzte erst einige Sekunden später ein. Nun brannte sein Gesicht wie Feuer. In der Mitte verspürte er einen bohrenden Schmerz. Wahrscheinlich hatte es seine Nase erwischt, aber er wagte nicht, sie zu berühren. Eine Weile verharrte er zitternd auf dem Boden und starrte auf seine verdreckte Kleidung. Die jedoch war sein geringstes Problem. Sicher funktionierte sein Fahrrad nicht mehr, er würde zu Fuß zurückkehren müssen und die Neunuhrnachrichten verpassen. Heitkämper entfuhr ein hysterischer Laut, der wie eine Mischung aus Lachen und Aufschrei klang. Obwohl sein Kopf dröhnte, sein Gesicht immer noch höllisch brannte, rappelte er sich vom Asphalt hoch. Er atmete mehrmals tief durch und hob dann das Rad auf. Das Hinterrad war total verbogen, die Lenkung funktionierte nicht mehr. Vorsichtig schob er das Rad einige Meter, dann versuchte er trotzig weiterzufahren, aber es war hoffnungslos ramponiert.

Jetzt hätte ein Handy nicht schaden können, er mochte die mobilen Telefone jedoch nicht, besaß nicht mal eins. Wen hätte er auch schon anrufen sollen? Die Polizei etwa?

Während er verzweifelt nach einer anderen Lösung suchte, hörte er plötzlich erneut Motorengeräusch. Diesmal kam es aus der anderen Richtung. Heitkämper wunderte sich. Schon das zweite Fahrzeug zu dieser frühen Stunde. Dazu in dieser einsamen Gegend. Wenigstens nahte der Wagen, den er nun in der Ferne erkannte, in einem normalen Tempo heran. Das beruhigte ihn. Möglicherweise könnte er den Fahrer anhalten und ihn um Hilfe bitten.

Nachdem der dunkle Wagen sich auf Sichtweite genähert hatte, hob Heitkämper die Arme. Zwar durchzuckte ihn dabei ein heftiger Schmerz, aber er biss die Zähne zusammen. Immerhin war das seine Chance.

Tatsächlich schien der Fahrer ihn bemerkt zu haben. Zumindest rollte der Wagen genau auf ihn zu. Erleichtert ließ Heitkämper die Arme sinken. Doch was war das? Plötzlich schien der Wagen wieder zu beschleunigen. Während das Fahrzeug direkt auf ihn zuhielt, erkannte Heitkämper plötzlich die Absicht des Fahrers. Die Erkenntnis drang in ihn ein wie ein tödlicher Stoß. Ohne die Person erkennen zu können, wusste er plötzlich, wer in dem schwarzen Wagen saß. Und er begriff, dass er dem Tod nicht entrinnen würde. Als der Wagen gegen seinen Körper prallte und er durch die Luft geschleudert wurde, zog sein Leben noch einmal an ihm vorbei. In Kurzversion, und völlig ungeordnet.

2

»Chef, ich beneide Sie«, erklärte Kommissar Bernhard Barnowski mit diesem Lächeln, das seine markanten Gesichtszüge noch mehr zur Geltung brachte und ihm die Frauenherzen zu Füßen legte. »Nur noch zwei Tage in diesem Bau und Sie genießen drei Wochen Urlaub.«

Hauptkommissar Willibald Pielkötter murmelte etwas Unverständliches. Vielleicht war es auch nur ein tiefes Brummen.

»Warum fahren Sie eigentlich erst am Dienstag? Ich hätte morgen schon frei genommen.«

»Das Ferienhaus ist bis dahin belegt«, antwortete Pielkötter, obwohl er nicht die geringste Lust auf eine Konversation mit seinem Mitarbeiter verspürte.

Pielkötter hatte einige Jahre und auch Kilos mehr auf dem Buckel als Barnowski und reichte mit seiner ein wenig schiefen Nase und dem leichten Doppelkinn bei weitem nicht an die Attraktivität seines Untergebenen heran. Auch ihre Charaktere erschienen zumindest Pielkötter gegensätzlich, was nicht selten zu Spannungen führte. Oft empfand er seinen Untergebenen als zu oberflächlich.

»Wenn das Ferienhaus zu empfehlen ist, lassen Sie die Adresse nach dem Urlaub mal rüberwachsen«, setzte sich Barnowski über die geringe Auskunftsfreude seines Chefs hinweg. »Bis zur holländischen Küste ist es ja nicht weit. Lohnt sich sogar für ein verlängertes Wochenende.«

»Das Ferienhaus kann man nicht mieten«, brummte Pielkötter. »Es gehört der Schwester meiner Frau. Sie hat es uns zum Hochzeitstag überlassen.«

»Aha, Hochzeitstag, verstehe.« Barnowski grinste. »Schade, ich hätte dort zu gerne für die Hochzeitsnacht mit Gaby geübt.«

Anscheinend ist der Bursche nicht richtig ausgelastet, dachte Pielkötter. Fairerweise musste er zugeben, dass er Barnowski zumindest heute Unrecht tat. Immerhin war er sogar an diesem Sonntag schon sehr früh im Präsidium erschienen, um mit ihm zusammen den lästigen Schreibkram zu erledigen, der sich in der letzten Zeit angesammelt hatte. Okay, Gaby weilte an diesem Wochenende auf Kegeltour, dennoch hätte er Barnowski diesen Einsatz eigentlich nicht zugetraut. Während er sich noch darüber wunderte, klingelte das Telefon.

»Extrem ungünstiger Zeitpunkt«, schnaufte Pielkötter, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. »Ein Toter an der Alsumer Straße. Wahrscheinlich von einem Auto angefahren. Meint jedenfalls die Streife vor Ort.«

»Ja, ja, ich weiß, keine voreiligen Schlüsse«, erwiderte Barnowski mit ungewohnter Ironie in der Stimme.

»Na, dann breche ich mal direkt auf«, erklärte Pielkötter.

»Moment, ich fahre mit raus. Schließlich muss ich die Sache übernehmen, wenn Sie im Urlaub sind.«

Schlagartig rutschte Pielkötters Laune auf der Stimmungsskala um einige Grade weiter nach unten. Dabei wusste er selbst nicht warum. Was konnte Barnowski bei diesem Unfall schon großartig versieben? Dennoch blieb ein ungutes Gefühl, zumal die Kollegen von der Streife weder den Unfallverursacher noch einen Zeugen vorgefunden hatten.

Wenige Minuten später saß Pielkötter neben Barnowski im Dienstwagen.

»Am besten fahren wir die Achse bis Marxloh«, schlug Barnowski vor. »Sonntags um diese Zeit ist kaum mit Stau zu rechnen. Erst recht nicht in Richtung Norden.«

Pielkötter gab einen tiefen Laut von sich, den sein Mitarbeiter offensichtlich als Zustimmung wertete. Immerhin legte Barnowski die Strecke tatsächlich in rekordverdächtiger Zeit zurück. Allerdings waren Spurensicherung und Rechtsmediziner noch etwas schneller gewesen.

»Dat fängt an diesem Sonntag ja gut an«, begrüßte sie Olschewski von der Streife. Er würde, so viel Pielkötter wusste, in drei Jahren in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Wahrscheinlich wurde das auch Zeit bei dem Job, aber es konnten schließlich nicht alle in den Innendienst wechseln.

»Uns ham se um genau eine Minute nach acht Uhr angerufen. Da vorne steht übrigens Herr Nöhlen. Der hat den Toten gefunden.«

Automatisch richtete sich Pielkötters Blick auf einen Mann, der etwas abseits stand und laute Würgegeräusche von sich gab.

»Kein Wunder, dat der am Kotzen fängt«, erklärte Olschewski. »Dat heißt, eigentlich is der schon die ganze Zeit dran. Der Tote sieht auch ziemlich übel aus. Dat Einzige, wat bei dem noch heil blieb, war der Personalausweis.«

Bevor Pielkötter sich zu dem Rechtsmediziner Ernst August Kowalski gesellte, sah er sich noch einmal um. Auf der einen Seite der Straße erkannte er Industrieanlagen, auf der anderen den Alsumer Berg, aber keine Menschenseele. Wäre ein echter Glücksfall, wenn ein Arbeiter vom Hochofen aus oder zwischen den dicken Röhren hindurch etwas gesehen hätte. Zudem war der Unfall wohl nicht zum Schichtwechsel passiert, sonst hätten sich sicher einige Zeugen gemeldet. Dennoch beabsichtigte er, in der Belegschaft von ThyssenKrupp Stahl nachzufragen. Das konnte Barnowski übernehmen, immerhin … Pielkötter verspürte nicht die geringste Lust, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

»Jochen Drenck von der Spurensicherung möchte Sie sprechen«, durchbrach Barnowski seine Überlegung.

»Und Sie fragen möglichst bald am Tor 7 nach irgendwelchen Zeugen. Im Übrigen soll die Personalabteilung, der zuständige Meister oder wer auch immer bei denen das Sagen hat, eine Liste aller Arbeiter aufstellen, die heute früh auf Schicht waren. Am besten trommeln Sie die noch zusammen, ehe die nächste anfängt.«

»Okay, aber ich werd mir echt überlegen, ob ich noch mal an einem freien Sonntag komme, um den Papierkram zu erledigen«, erwiderte Barnowski mit gespielter Entrüstung.

»Ich denke, Sie brennen darauf, das hier zu übernehmen.«

»Super Hinweis, Chef«, erklärte Barnowski mit einem Pielkötters Ansicht nach penetranten Grinsen.

Während sein Untergebener in Richtung Werktor 7 verschwand, wandte sich Pielkötter zur Spurensicherung. Jochen Drenck winkte ihn zu sich heran. Pielkötter arbeitete gerne mit ihm zusammen. Er arbeitete schnell und dennoch gewissenhaft. Zudem war er mit seinem Vorgänger nicht unbedingt gut zurechtgekommen.

»Der Wagen muss von da oben gekommen sein«, erklärte Jochen Drenck und deutete zum Alsumer Berg hinauf. »Gebremst hat der quasi erst in letzter Sekunde. Also mehr oder weniger beim Zusammenstoß.«

Pielkötter ließ sich zu einem »seltsam« hinreißen.

»Ganz meine Meinung«, stimmte Drenck ihm zu. »Was mir aber noch viel merkwürdiger erscheint, ist, was der auf dieser Spur zu suchen hatte. Zumal die Straße hier doch dreispurig ausgebaut ist. Wahrscheinlich wegen der vielen Lastkraftwagen. Wenn die alltags hier den Berg hochschleichen, kann man die gut überholen.«

Aufgeregt fuchtelte Drenck mit seiner Rechten in der Luft herum, wobei er mit der Bewegung die ganze Straßenbreite abdeckte.

»Natürlich passiert es schon mal, dass ein Fahrer etwas auf die falsche Seite gerät, aber doch nicht über zwei Spuren hinweg.«

Pielkötter hätte gerne etwas erwidert, aber in seinem Eifer ließ ihn der entrüstete Drenck nicht zu Wort kommen.

»Hier geht es ja nicht um einen kurzen, kleinen Fahrbahnwechsel, der Wagen muss über die mittlere Spur nach links gezogen sein. Mir leuchtet wirklich nicht ein, was den Fahrer geritten hat.«

»Vielleicht hat er völlig die Kontrolle über den Wagen verloren«, kam Pielkötter endlich zum Zug. »Trotzdem seltsam, da stimme ich Ihnen zu.«

»Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?«

»Lackspuren am Fahrradlenker. In schwarz. Fabrikat des Wagens kann ich ihnen allerdings noch nicht liefern. Na ja, die Kollegen im Labor möchten auch nicht arbeitslos werden. Das Ergebnis kriegen Sie so bald wie möglich.«

Bei dem Wort »kriegen« stellten sich Pielkötters Nackenhaare automatisch auf. Ein Wort, das ihm selbst noch nie über die Lippen gekommen war.

»Immerhin ein passabler Anfang«, erwiderte Pielkötter dennoch wohlwollend. »Dann können die Kollegen auf Streife ja schon einmal nach einem schwarzen beschädigten Fahrzeug Ausschau halten.«

»Ehe ich es vergesse, Glassplitter haben wir auch noch sichergestellt. Wahrscheinlich stammen die vom Scheinwerfer. Den vollständigen Bericht bekommen Sie Anfang der Woche.«

Diesmal hat er »bekommen« gesagt, dachte Pielkötter. Warum nicht immer so?

»Wollen Sie noch einen Blick auf den Toten werfen?«, fragte Ernst August Kowalski von der Rechtsmedizin, der sich gerade anschickte, den Reißverschluss des Leichensacks zuzuziehen.

»Kann nicht schaden«, antwortete Pielkötter. »Zumindest ihm nicht.«

»Dem Opfer hat man auch genug Schaden zugefügt. Aber sehen Sie selbst.«

Der Anblick des Gesichts ohne einen Quadratmillimeter intakter Haut war nicht unbedingt nach Pielkötters Geschmack. In der Mitte hing etwas zur Seite, was wohl einmal eine Nase gewesen war.

»Schön bunt, was?«

»Leichenblässe würde dem wohl besser stehen.«

»Dafür haben wir den Toten extrem früh gefunden. Nach der Temperatur zu urteilen war der erst circa eine knappe halbe Stunde tot. Genaueres …«

»Ja, ja, ich weiß«, stoppte ihn Pielkötter, »kriege ich später.«

Was war nur mit ihm los? Jetzt gebrauchte er auch schon dieses in seinen Ohren schrecklich klingende Wort und fiel dem Rechtsmediziner in die Parade. Der konnte immerhin nichts dafür, dass er Barnowski jetzt nur ungern allein ließ. Auch nicht dafür, dass er noch lieber mit Karl-Heinz Tiefenbach zusammenarbeitete.

»Das war’s dann fürs Erste«, erklärte Kowalski mit versteinerter Miene.

Pielkötter konnte seine Reaktion gut verstehen. »Der Anblick eines zerschmetterten Gesichts am frühen Morgen hebt nicht gerade die Laune«, erwiderte er und hoffte, es würde wie eine Art Entschuldigung klingen.

»Dafür gehen Sie in der nächsten Woche in Urlaub.«

Erleichtert stellte Pielkötter fest, dass Kowalskis Stimme wieder versöhnlicher klang. »Hat sich das schon herumgesprochen?«, fragte er.

»Bevor Sie nicht mehr im Präsidium sind, kann ich Ihnen noch etwas verraten«, erklärte der Rechtsmediziner, ohne auf die Frage einzugehen. »Die Art der Verletzungen gefällt mir nicht.«

Wem gefällt die schon, dachte Pielkötter unwillkürlich, aber dann ließ ihn etwas in Kowalskis Stimme hellhörig werden.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er neugierig, während Barnowski plötzlich hinter dem Rechtsmediziner auftauchte.

»Also, das Opfer war für meine Begriffe zu ramponiert, wenn ich das einmal ganz salopp ausdrücken darf. Zumindest für einen Unfall. Weiter möchte ich mich dazu an dieser Stelle aber nicht äußern.«

Gleich zwei Ungereimtheiten auf einmal, überlegte Pielkötter.

»Wollen Sie den Toten auch noch mal sehen?«, fragte Kowalski nun Barnowski.

»Werfe lieber einen Blick auf den Bericht«, antwortete dieser.

Missbilligend sah Pielkötter zu seinem Untergebenen hinüber. Mit einem Bericht war es seiner Meinung nach nicht getan. Deshalb hatte er soeben beschlossen, in diesem Fall eine Obduktion beim Staatsanwalt zu beantragen.

»Der Pförtner von Tor 7 hat übrigens nichts Verdächtiges bemerkt«, erklärte Barnowski ungerührt. »Und die Belegschaft wird eben zusammengetrommelt, soweit das möglich ist. In einer halben Stunde kann ich mit der Befragung beginnen.«

Am liebsten hätte Pielkötter das selbst in die Hand genommen, aber unter den gegebenen Umständen ließ er Barnowski am besten gewähren. Während der Tote abtransportiert wurde, näherte sich Peter Nöhlen, der vorhin abseits gestanden hatte, um seine Übelkeit zu bekämpfen.

»Kann ich endlich abhauen?«, fragte er sichtlich erschöpft. »Hab doch wirklich schon alles gesacht.«

»Nennen Sie mir nur noch einmal die Uhrzeit, zu der Sie den Unfall bemerkt haben«, antwortete Pielkötter. »Dann sind Sie entlassen, und wir sehen uns morgen auf dem Präsidium.«

»Präsidium?« Peter Nöhlen wirkte so entsetzt, als hätte Pielkötter vom Leichenschauhaus gesprochen.

»Sie müssen Ihre Aussage noch unterschreiben.«

»Ach so«, erwiderte der Zeuge sichtlich erleichtert. »Ich dacht schon, ich gehör auch zu die Verdächtigen.«

»Leute mit rotem Mazda haben wir nie unter Verdacht.« Barnowski grinste.

Peter Nöhlens Miene wirkte nicht gerade intelligent. Auch in Pielkötters Gesicht standen mehrere Fragezeichen. Hatte Barnowski das mit den schwarzen Lackspuren schon mitbekommen oder war das wieder einmal einer seiner Scherze, die Pielkötter alles andere als witzig fand.

»Dann bis morgen. Ach ja, die Uhrzeit. Also, et war so kurz vor acht. Dat hat wohl aber noch ein bißken gedauert, bis ich angerufen hab. Musst mich wirklich ers ma sammeln.«

»Wie der geguckt hat«, sagte Barnowski, nachdem sich der Zeuge entfernt hatte. »Aber wenn der jetzt einen schwarzen Wagen gefahren hätte, würde der noch älter aussehen.«

»Das ist Ihnen also schon bekannt. Wissen Sie auch, dass der Wagen von oben kam?«, fragte Pielkötter.

»Drenck hat mich aufgeklärt.«

»Und, was sagen Sie dazu?«

»Schon merkwürdig«, erklärte er, obwohl etwas ganz anderes auf seiner Zunge zu liegen schien.

Wahrscheinlich eine Provokation, vermutete Pielkötter. Vielleicht hatte Barnowski auch nur sein Motto beherzigt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Oder er hatte einfach Angst, ihn so kurz vor dem Urlaub noch zu ärgern.

»Der Fahrer könnte die Überholspur genutzt haben und dann von der Fahrbahn abgekommen sein«, unterbrach Barnowski plötzlich seine Überlegungen. »Oder er ist von ganz rechts über zwei Spuren nach links ausgeschert. Sicher war der total besoffen.«

Damit war er doch wieder in die Falle getappt.

»Sicher ist überhaupt nichts, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen«, reagierte Pielkötter ärgerlich. »Jedenfalls nicht in diesem frühen Stadium der Ermittlungen. Zudem hätte er nicht einmal überholen dürfen. Er kam ja von oben, die zweite Spur ist aber für den aufwärts fahrenden Verkehr. Obendrein gibt es Sonntag morgens hier kaum jemanden zum Überholen. Gucken Sie doch nur mal, wie wenig Fahrzeuge jetzt hier unterwegs sind. Und als der Unfall passiert ist, gab es hier sicherlich noch weniger Verkehr.«

»Wie würden Sie dieses seltsame Fahrverhalten bitte schön erklären?«

»Es könnte genauso gut Absicht gewesen sein«, erwiderte Pielkötter unwillkürlich. Bisher hatte er allerdings noch nicht darüber nachgedacht.

»Etwa aus reiner Lust jemanden umnieten?«, fragte Barnowski ungläubig.

»Lesen Sie doch mal die Tageszeitung. Wäre nicht die erste Tat, die aus purer Lust und Laune heraus begangen wurde.«

»Auszuschließen ist das natürlich nicht«, lenkte Barnowski ein.

Aha, dachte Pielkötter, der Bursche weiß also doch, dass er bei einer weiteren Eskalation nur verlieren kann. Die Chance, den flüchtigen Fahrer ohne meine Hilfe dingfest zu machen, will er sich unter keinen Umständen entgehen lassen.

»Genug der leidigen Diskussion«, erklärte er laut. »Sammeln wir erst einmal die Fakten. Sie übernehmen die Befragung bei ThyssenKrupp, und ich kümmere mich um die Angehörigen.«

3

Mit einem mulmigen Gefühl irgendwo oberhalb des Zwerchfells stieg Pielkötter aus dem Dienstwagen. Das Seniorenwohnheim Malteserstift Sankt Hedwig in Huckingen lag schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Auf den ersten Blick wirkte die Anlage sehr gepflegt. Eilig lief Pielkötter durch den schön gestalteten Vorgarten. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Menschen über den Tod eines Angehörigen zu informieren, zählte für Hauptkommissar Pielkötter wie wohl für alle Polizeibeamten zu den schwierigsten Aufgaben, die dieser Beruf mit sich brachte, ganz besonders, wenn es sich um den Tod eines Kindes handelte. Gut, in diesem Fall war der Tote kaum jünger als er selbst, aber an dem Verwandtschaftsverhältnis änderte das herzlich wenig. Diese Konstellation war einfach nicht natürlich.

Nachdenklich schweifte sein Blick zu den großen Fenstern an der Vorderfront, dann betrat er die Eingangshalle. Die hübsche Dekoration und die hell gestrichenen Wände verstärkten den anfänglich positiven Eindruck der Anlage noch. Allerdings nahm Pielkötter dies nur am Rande zur Kenntnis. Die Dame am Empfang zuckte kaum merklich zusammen, als er seinen Dienstausweis zeigte.

»Ich möchte zu Frau Heitkämper«, erklärte Pielkötter, wobei er versuchte, möglichst dienstlich zu klingen. »Ihr Sohn hatte leider einen tödlichen Unfall.«

»Oh, wie schrecklich«, erwiderte die Dame, die ein kleines Schildchen als Frau Hartmann auswies.

»Ist Frau Heitkämper wohl in der Lage, diese Nachricht zu verstehen?«

»Durchaus. Sie ist völlig orientiert, falls Sie das meinen. Ob jedoch besser eine Schwester mit Ihnen gehen soll, kann ich schlecht beurteilen. Warten Sie, ich bringe Sie gleich zur Station.«

Nachdem Frau Hartmann Pielkötter mit einem kleinen Anruf angekündigt hatte, fuhren sie zusammen mit dem Aufzug nach oben. Wenig später nahm eine Schwester Ursula sie in Empfang.

»Ich glaube, Sie sprechen besser alleine mit Frau Heitkämper«, erklärte sie mit fester Stimme. »Die alte Dame legt größten Wert darauf, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Natürlich können Sie mich jederzeit zu Hilfe rufen. Sofern nichts dazwischenkommt, finden Sie mich drei Türen weiter im Dienstzimmer.«

Pielkötter bedankte sich und klopfte an die Tür, die Schwester Ursula ihm gezeigt hatte.

»Ja bitte«, ertönte es von innen.

Während sich das mulmige Gefühl endgültig zwischen Magen und Zwerchfell festsetzte, trat Pielkötter ein. Obwohl es ihm nebensächlich, wenn nicht gar unpassend erschien, taxierte er die geschmackvollen, wenn auch schon älteren Möbel. Offensichtlich Relikte aus der letzten eigenen Wohnung. Die alte Dame saß in einem Lehnstuhl. Neben ihr lag ein Buch, das sie wahrscheinlich gerade eben aus der Hand gelegt hatte. Erwartungsvoll richtete sich ihr wacher Blick zur Tür.

»Frau Heitkämper, ich bin Kriminalhauptkommissar Pielkötter«, erklärte er mit belegter Stimme. »Leider muss ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen.« Er stockte. »Also, Ihr Sohn hatte einen Unfall.«

»Heribert ist tot.« Ihre Worte hörten sich eher an wie eine Feststellung und nicht wie eine Frage.

»Ja«, erwiderte Pielkötter gepresst. Lieber hätte er Karl-Heinz Tiefenbach drei Tage lang beim Sezieren assistiert, als ihr zustimmen zu müssen.

»Mein Sohn war mit dem Fahrrad unterwegs, nicht wahr?«

Pielkötter nickte betroffen.

»Heribert fuhr kaum mit dem Auto«, erklärte sie mit erstaunlich fester Stimme. »Nur wenn es sich nicht vermeiden ließ. Zur Arbeit beispielsweise. Als ich noch zu Hause lebte, hat er mich gelegentlich zum Arzt gebracht. In seiner Freizeit war er allerdings immer mit dem Rad unterwegs.«

»Das ist natürlich viel gefährlicher«, wandte Pielkötter ein, nur um etwas zu sagen. Irgendwie erwartete er, dass die bewundernswerte Haltung dieser zierlichen alten Frau jeden Moment zusammenbrechen würde.

»Sie wundern sich sicher über meine Ruhe«, sagte Frau Heitkämper, als hätte sie seine Gedanken genau erraten. »Vielleicht verkürzt dieser Unfall nur die Zeit, die mich von Heribert trennt.«

Pielkötter runzelte die Stirn.

»Wissen Sie, ich habe nicht mehr lange zu leben. Ein paar Monate, ein halbes Jahr, wenn es hochkommt. Ein Tumor. Deshalb werde ich meinem Sohn nur zu bald folgen. Dann sind wir wieder vereint. Ich glaube nämlich an ein Leben nach dem Tod.« Trotzdem rannen jetzt stumme Tränen über ihre eingefallenen Wangen.

»Für Menschen mit Glauben ist der Tod einfacher«, erklärte sie, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.

Pielkötter nickte. »Haben Sie noch weitere Verwandte?«, wagte er nun, ihr einige Informationen zu entlocken.

»Ich habe noch einen Sohn. Aber Horst und Heribert pflegten kaum Kontakt. Eigentlich haben sie sich nur immer bei mir getroffen.«

»Hatten sie denn Streit?«

»Nein, nein, sie waren einfach zu verschieden. Konnten nichts miteinander anfangen. Das war schon in ihrer Kindheit so. Dabei lagen sie nur drei Jahre auseinander. Heribert war der Ältere und kam ganz nach meinem seligen Mann. Bei dem musste auch immer alles nach demselben Muster ablaufen. Horst ist das genaue Gegenteil. Der macht alles spontan.«

»Frau Heitkämper, ich muss Sie das jetzt fragen«, erklärte Pielkötter mit ernster Miene. »Hatte Ihr Sohn irgendwelche Feinde? Leute, die nicht gut auf ihn zu sprechen waren?«

Heftig schüttelte Frau Heitkämper den Kopf mit dem noch recht vollen grauen Haar.

»Heribert konnte keiner Fliege etwas zuleide tun«, antwortete sie. »Aber gehen Sie denn nicht von einem Unfall aus?«

»Doch, doch«, beschwichtigte Pielkötter schnell, »aber wir müssen uns natürlich absichern. Wer hätte außerdem wissen können, dass Ihr Sohn zu dieser frühen Stunde auf dieser Straße mit dem Fahrrad fuhr?«

»Alle, die ihn kannten«, erwiderte die alte Frau.

Pielkötter stutzte kurz. Automatisch versuchte er die Tragweite ihrer Aussage auszuloten, war sich aber nicht sicher, ob der Information wirklich eine große Bedeutung zukam.

»Heribert fuhr immer dieselbe Route, immer zur genau festgelegten Zeit. Jedenfalls für einen bestimmten Wochentag. Was glauben Sie, wie oft ich mich darüber aufgeregt habe? Manchmal kommt doch einfach etwas dazwischen, aber das konnte er nicht verstehen.« Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Denken Sie an Ihre gemeinsame Zukunft«, versuchte Pielkötter sie zu trösten, während er selbst in Gedanken bei dem bevorstehenden Urlaub war, den er plötzlich lieber verschoben hätte. Aber damit würde er bei Marianne wohl auf wenig Verständnis stoßen. Zudem fühlte er sich urlaubsreif. In den letzten Wochen hatte er sehr schlecht geschlafen, und gelegentlich war sein Puls so hoch, dass er sogar einen Arztbesuch in Erwägung gezogen, ihn aber immer wieder verschoben hatte. Nun, der lief ihm nicht weg und war nach dem Urlaub sicher überflüssig.

»Hatte Ihr Sohn Freunde, Bekannte?«, konzentrierte sich Pielkötter wieder auf die Befragung von Heitkämpers Mutter.

»Eigentlich hat er nur für seine Arbeit gelebt«, antwortete sie mit einem lauten Seufzen. »Und natürlich für seine Touren mit dem Rad. Manchmal hat er Schach gespielt. Mit einem ehemaligen Schulkameraden, aber an den Namen erinnere ich mich nicht.«

»Wo hat Ihr Sohn denn gearbeitet?«

»Er war Buchhalter. Den Namen der Firma habe ich allerdings vergessen. Mit Namen habe ich jetzt immer Schwierigkeiten. Das Alter, Sie verstehen.«

Pielkötter nickte. »Sicher ist das alles etwas viel für Sie«, sagte Pielkötter. »Für weitere Fragen komme ich besser ein anderes Mal wieder. Noch einmal herzliches Beileid.«

Missmutig fasste er sich an den nicht vorhandenen Bart. Warum musste ihm der Abschied wieder so schwer fallen, nachdem das Gespräch weitaus besser verlaufen war, als er erwartet hatte?

»Soll ich die Schwester bitten, nach Ihnen zu sehen?«, fragte er, froh noch irgendetwas für Frau Heitkämper tun zu können.

»Nicht nötig«, erwiderte die alte Dame, während sie versuchte, erneute Tränen in ihren Augen zu verbergen.

»Verflixter Mist«, murmelte Pielkötter, nachdem er Schwester Ursula doch Bescheid gesagt hatte und zu seinem Wagen eilte.

4

Hauptkommissar Pielkötter sah aus, als ob er die ganze letzte Nacht durchgefeiert hätte. Leider konnte davon keine Rede sein. Zwar hatte er nicht gerade viel Schlaf bekommen, allerdings aus einem ganz anderen Grund. Immer wieder war ihm dieser Unfall durch den Kopf gegangen, bei dem es für seinen Geschmack zu viele Ungereimtheiten auf einmal gab. Ausgerechnet vor seinem Urlaub. Zu allem Übel versprach der heutige Dienst nicht gerade ruhig zu verlaufen. Dabei hätte er sich am liebsten mit einer Handvoll Kopfschmerztabletten ins Bett gelegt. Während er gerade seine dritte Tasse Kaffee trank, schneite Kommissar Bernhard Barnowski in sein Büro. Wie immer ohne anzuklopfen.

»Sie wollten mich sprechen«, kam Barnowski ohne Umschweife zur Sache. »Was Neues im Fall Heitkämper?«

»Heute Nachmittag treffe ich mich mit Tiefenbach«, erklärte Pielkötter. »Die Rechtsmedizin ist bereit, in puncto Schnelligkeit alle Rekorde zu brechen.«

»Wollen Sie sich das wirklich vor dem Urlaub noch antun? Oder packt Ihre Frau die Koffer allein?«

Pielkötter überhörte die Fragen, zumindest ging er nicht darauf ein.

»Ich könnte den Termin mit Tiefenbach doch für Sie übernehmen«, bohrte Barnowski noch einmal nach.

Ärgerlich sah Pielkötter von seinen Unterlagen hoch. Diplomatie zählte nicht gerade zu seinen Stärken. »Nein, das mache ich allein«, erwiderte er unwillig.

Ein zaghaftes Klopfen beendete vorerst das Thema.

»Herein!«

Pielkötters Aufforderung klang nicht gerade einladend, dennoch öffnete sich die Tür.

»Guten Morgen, Herr Nöhlen«, begrüßte er den Eintretenden etwas freundlicher.

»Tach auch, ich muss doch meine Aussage noch unterschreiben.«

»Jetzt erzählen Sie mir noch einmal, was Sie gehört und gesehen haben«, sagte Pielkötter. »Für alles Weitere gehen Sie dann in den Nebenraum.«

»Was haben Sie eigentlich zu dieser Stunde auf dieser abgelegenen Straße gemacht?«, fragte Barnowski unwirsch und fing sich einen missbilligenden Blick seines Vorgesetzten ein.

»Also, ich hab die Nacht bei meiner Freundin verbracht. Wollen Se Namen und Adresse von der?«

»Die Daten können Sie gleich im Nebenraum angeben«, erklärte Pielkötter betont sachlich.

»Also die Petra malocht inne Bäckerei. Die verkaufen auch sonntags Brötchen. Deshalb sind wir früh raus. Also die Petra war schon weg, und ich aum Weg nach meine Hütte. Wir wohnen nämlich noch nich zusammen. Haben uns ja ers vor Kurzem kennengelernt. Im Internet.«

Barnowski verzog das Gesicht, blieb aber stumm.

»So früh zusammenziehen? Aber dat gehört hier wohl nich hin.« Offensichtlich hatte Peter Nöhlen Barnowskis Miene richtig gedeutet.

»Wie gesacht, ich aum Weg nach Hause. Denk noch so schön an die vergangene Nacht …«

Jetzt war es Pielkötters Miene, die sich verfinsterte.

»Und da seh ich plötzlich den Typ und dat Rad am Straßenrand. Wie der da lag mit son komisch abgewinkeltes Bein, hab ich sofort nix Gutes geahnt. Ein paar Meter vor dem hab ich dann angehalten. Als ich ausgestiegen bin und den sein Gesicht gesehen hab, war alles zu spät. Da musst ich ers ma ... aber dat gehört wohl auch nich hierhin.«

»Und die genaue Uhrzeit?«, fragte Barnowski.

»Auf die Uhr hab ich ers später geguckt. Um acht rum ist mir eingefallen, dat dat inne Krimis immer ganz wichtig is. Auf die Minute genau kann ich dat natürlich nich sagen. Die Uhr geht nämlich nich genau. Sieht zwar aus wie ne Rollex, is aber keine. Die hat mir die Corinna, dat is meine Ex, aus Thailand mitgebracht. Ich weiß, dat dat verboten is, aber Sie tun die doch nich verraten. Sie sind doch vonne Unfallkommission, oder?«

»Wir verraten nichts«, erwiderte Pielkötter zu Barnowskis Erstauen in väterlichem Ton. »Und nachdem Sie auf die Uhr gesehen haben, haben Sie sofort die Polizei verständigt.«

»Ers war mir wieder übel.«

»Haben Sie sonst noch etwas gesehen oder gehört? Irgendwelche Fahrzeuge? Vielleicht Arbeiter auf dem Werksgelände?«

»Überhaupt nix. Weit und breit kein Mensch, nur dieser Tote und ich. En richtiger Albtraum.«

»Dann danke ich Ihnen für Ihre Aussage«, beendete Pielkötter plötzlich die Vernehmung. »Das Protokoll unterschreiben Sie bitte gleich nebenan.«

»Gut, dat den sein Bruder nich auch noch wat auszusagen hat«, witzelte Barnowski.

Pielkötter war an diesem Morgen allerdings kaum zum Scherzen aufgelegt. Zudem mochte er nicht, wenn sich Barnowski über andere lustig machte.