Cover

Janwillem van de Wetering

Der leere Spiegel

Erfahrungen in einem japanischen Zen-Kloster

Deutsch von Herbert Graf

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Janwillem van de Wetering

Janwillem van de Wetering wurde am 12. Februar 1931 in Rotterdam geboren. Statt Wehrdienst zu leisten, wurde van de Wetering Hilfspolizist und ließ sich von dieser Erfahrung dazu inspirieren, Kriminalromane zu schreiben. Er zählt zu den bedeutendsten Kriminalautoren des 20. Jahrhunderts. Seinen weltweit größten Erfolg feierte er mit dem Roman «Massaker in Maine» (1979), für den er 1984 den französischen Literaturpreis Grand prix de littérature policière erhielt. Neben seinen Kriminalromanen schrieb van de Wetering Bücher über den Buddhismus, entstanden nach einem einjährigen Aufenthalt in einem Zen-Kloster in Kioto. Außerdem verfasste er Kinderbücher. Janwillem van de Wetering verstarb im Alter von 77 Jahren am 4. Juli 2008 nach langer Krankheit.

Über dieses Buch

Der als Kriminalschriftsteller berühmt gewordene Janwillem van de Wetering hat eineinhalb Jahre in der Askese eines Zen-Klosters verbracht. «Seine oft genug körperlich schmerzhaften Erlebnisse mit der Zen-Meditation, der ernüchternde, auch von Lausbubengehabe durchzogene Alltag im Kloster und die Schlussfolgerungen, die schließlich zum Abbruch seiner Studien führten, sind auf eine Weise geschildert, die so ganz ohne beweihräuchernde Stimmungsmache auskommt.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

 

Das Buch ist ein existenzielles Abenteuer für alle Leser, denen die bewusstlose Routine des Lebens nicht genügt.

Impressum

Titel der Originalausgabe «De lege Spiegel», zuerst erschienen bei De Driehoek, Amsterdam, 1972

Die vorliegende Übersetzung wurde von Herbert Graf nach der vom Autor verfassten englischen Ausgabe «The Empty Mirror», erschienen bei Routledge & Kegan Paul, London 1973, angefertigt.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2012

Copyright © Reinbek bei Hamburg, April 1981

Copyright © 1972/1973 by Janwillem van de Wetering «Der leere Spiegel»

Copyright © 1977 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

(Foto: Hans Silvester/FOCUS)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-14708-1 (29. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-46471-1

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-46471-1

Fußnoten

1

In dieser Stellung sind die Beine derart gekreuzt, dass der linke Fuß aufwärtsgedreht auf dem rechten Oberschenkel liegt und der rechte Fuß auf dem linken Oberschenkel. Der Rücken ist gestreckt, die Hände ruhen gefaltet in der von den Füßen gebildeten Schale.

«Der leere Spiegel», sagte er.
«Wenn du das wirklich verstehen könntest,
dann gäbe es für dich hier nichts mehr zu suchen.»

Das Klostertor, ein Huhn und ein Nudelverkäufer

Ein Klostertor in Kioto, dem geistlichen Zentrum Japans. Tokio ist die weltliche Hauptstadt; Kioto hingegen ist eine heilige Stadt, so heilig, dass die amerikanischen Bomber sie – gegen das Versprechen der Japaner, keine Luftabwehrgeschütze aufzustellen – verschont haben. Kioto hat achttausend, meist buddhistische Tempel. Vor einem dieser Tempel, einem Zen-Kloster, stand ich. Ich war allein, sechsundzwanzig Jahre alt, sauber angezogen, gewaschen und rasiert; ich wollte mich um eine Stelle als Mönch oder Laienbruder bewerben. Es war ein heißer Sommermorgen im Jahre 1958. Ich hatte meinen Koffer niedergestellt; er enthielt nichts als ein paar Kleidungsstücke, Bücher und Waschzeug. Das Taxi, das mich hergebracht hatte, war abgefahren. Um mich herum sah ich grauweiß getünchte Mauern, gedeckt mit Ziegeln aus grauem, gebranntem Ton. Jenseits der Mauern standen schön geformte Kiefern, sorgsam beschnitten von geübten Händen; dahinter ragte das Tempeldach auf, mit dichtem Balkenwerk und sacht abfallenden Seiten, die sich an den Kanten abrupt aufwärts bogen.

Ich war erst seit ein paar Tagen in Japan. Das holländische Schiff, auf dem ich von Afrika über Bombay, Singapur und Hongkong gekommen war, hatte mich in Kobe abgesetzt. Keine Kontaktadressen, keine Einführungsbriefe, keine Bekannten von Bekannten.

Nur Geld hatte ich; wenn ich sparsam lebte, würde es etwa drei Jahre lang reichen, und ich würde mir ab und zu sogar etwas Außergewöhnliches leisten können. Ich war nicht in Kobe geblieben, sondern weitergereist nach Kioto, eine Stunde Fahrt mit dem Zug. Ich hatte die grünen Felder Japans gesehen, grüner noch als das Grün Hollands, durchbrochen von grauen Reklametafeln, die auf mich surrealistisch wirkten, weil ich sie nicht lesen konnte. Ich hatte meine Mitreisenden betrachtet: die Männer in europäischen, ein wenig altmodischen Anzügen und weißen Hemden, meist ohne Krawatte; die Frauen in Kimonos, klein und demütig, aber mit glitzernden, neugierigen Augen. Ich muss wohl neugierig zurückgeblickt haben, denn sie schlugen die Hände vor den Mund und kicherten. Ich begriff, dass ich mit meiner in Europa als normal geltenden Größe hier ein Riese war – ein Riese und ein Außenseiter, Angehöriger einer Minderheit. Ein Student in einer Uniform, die mich an Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg erinnerte, sprach mich in schlechtem Englisch an. Ob ich Tourist sei? Ja, Tourist. «Mein Land ist schön», sagte er. Ja, das sah ich. Die Unterhaltung stockte. Wir lächelten uns an. Ich erhielt eine Zigarette. Sie schmeckte gut. Ich sah wieder aus dem Fenster.

Ich hatte schon gehört, dass Kioto eine Stadt der Tempel sei. Tempel und Klöster: geheimnisvolle Bauwerke mit rätselhaftem Inhalt, Gebäude, in denen die Weisheit zu Hause ist. Das suchte ich: Weisheit, Friede, Abgeklärtheit. Ein jedes Kloster hat ein Tor, einen Eingang, eine Öffnung; sie lässt die ein, die Weisheit suchen, wenn sie es nur ehrlich und ernst meinen.

Vor mir sah ich das Tor, ein Holzbauwerk im klassischen chinesischen Stil, mit kunstvoll geformtem Ziegeldach und reichen Verzierungen, eigentlich ein kleines Gebäude für sich. Die massiven Türen standen offen.

Ich blickte wieder auf die Straße zum Tempel. Ich war nicht mehr allein: Um meine Füße stakte ein Huhn und pickte geschäftig im Sand. In der Ferne sah ich einen Mann kommen, der einen Esswarenstand vor sich herschob; der Wind trug den Duft von gebratenen Nudeln heran. Der Mann drehte eine Holzklapper; ihr Schnarren hätte mich aufgemuntert, wenn nicht der bedrückende Gedanke an das Tor gewesen wäre. Im Kloster wusste niemand von meiner Ankunft.

Die Nacht davor hatte ich in einem kleinen Hotel verbracht. Der Portier sprach Englisch, und ich hatte ihn nach der Adresse eines Zen-Klosters gefragt, eines aktiven Klosters, in dem man Zen studieren konnte. Er hatte mich verblüfft angesehen. Diese Art Kloster war der Öffentlichkeit nicht zugänglich; ich solle doch da und da hingehen, dort gäbe es Gärten und Statuen, die sich jedermann ansehen könne. Wenn ich wollte, würde er mir einen Fremdenführer besorgen; man war stolz auf diese Stadt, man würde mir viele interessante Sehenswürdigkeiten zeigen. Aber ich wollte doch Zen studieren! Er verstand mich nicht. Er dachte, ich sei ein Journalist auf der Suche nach einer Story und wollte den Nachmittag darauf verwenden, einen Zen-Meister zu interviewen. Der Gedanke, dass ich in einem Kloster leben wollte, womöglich Mönch werden und jahrelang bleiben, schien ihm unfasslich. Trotzdem hatte ich eine Adresse bekommen und ein paar Tipps, wie ich am besten dorthin käme. Die Wegbeschreibung war mir aber zu kompliziert gewesen, und ich hatte ein Taxi genommen. Und nun war ich da, wohin ich gewollt hatte.

Der Nudelverkäufer war herangekommen. Er hielt seinen Karren an und sah aufmunternd zu mir her. Ich nickte. Eifrig füllte er Nudeln und Gemüse in eine Schale; es roch herrlich. Er zögerte, dann bot er mir ein Paar Stäbchen an; er hatte keinen Löffel. Ich wusste nicht, was ich zu bezahlen hatte, und hielt ihm eine Handvoll Geldstücke hin. Er zog die Luft ein, zischte zuvorkommend und entnahm meinem Handteller eine Summe im Wert von zwanzig Pfennigen. Als er sah, dass ich mit Stäbchen umgehen konnte, verneigte er sich erfreut. Eine Nudel, die auf den Boden gefallen war, wurde von dem Huhn attackiert, als wäre sie ein lebender Wurm; wir mussten beide lachen. Na also, dachte ich; die Leute hier sind nicht unfreundlich. Vielleicht sollte ich es probieren.

Ich zog am Strang der riesigen grünspanbedeckten Kupferglocke, die im Gebälk des Tores hing. Der Nudelverkäufer zuckte zusammen; hastig verbeugte er sich und begann seinen Karren fortzuschieben. Später erfuhr ich, dass die Glocke heilig war und nur während bestimmter religiöser Zeremonien benutzt werden durfte. Besucher hatten ohne vorherige Ankündigung einzutreten.

Um diesen Augenblick zu erleben, hatte ich meine Reise unternommen, mein bisheriges Dasein aufgegeben. Dies war der Beginn eines neuen Lebens, eines Lebens, wie ich es mir kaum vorstellen konnte. Ein feierlicher Moment; da stand ich, neugeboren, ein unbeschriebenes Blatt. Fröhlich und nervös zugleich trat ich in den Tempelgarten und sah das Kloster, dessen unterer Teil nun nicht mehr von der schützenden Mauer verdeckt wurde, in seinem vollen Glanz. Es erschien kühl und abweisend, versunken in unantastbaren Frieden; es war, als wäre es der Erde entwachsen als Teil des Gartens, eines Gartens ohne Blumen, ausgelegt mit Steinen, Sträuchern, Bäumen und sauber geharkten Pfaden. Und überall Moos, vielerlei Sorten Moos, von zartgrau bis tiefgrün: ruhige, friedvolle Farben.

Gar nicht friedvoll erschien mir der Mönch, der jetzt auf mich zukam. Ich hatte Mühe, in dieser Erscheinung einen Menschen von heute zu erkennen: ein possierlicher kleiner Mann in Holzsandalen, unter denen Klötze befestigt waren, sodass er ungefähr fünf Zentimeter über dem Boden stand. Mit seinem weiten schwarzen Übergewand, das von einem weißen Gürtel hochgehalten wurde und die Beine bis knapp zu den Knien freiließ, hätte man ihn auf den ersten Blick für eine Frau halten können – eine Wasch- oder Putzfrau, die in der Arbeit mit Eimer und Schrubber unterbrochen worden war.

Er kam rasch heran; die weiten Ärmel seines Umhangs flatterten unruhig um ihn herum. Sein Kopf war kahlgeschoren; sein Lächeln, die Zuflucht jedes aufgeregten Japaners, erschien blechern, denn er hatte silberne Zähne. Ein paar Schritte vor mir blieb er stehen und verneigte sich. Seine Verbeugung war ganz anders als die, an die ich gewöhnt war. Japaner verbeugen sich immer, wenn sie einen begrüßen, aber schnell und gewohnheitsmäßig, ohne viel Aufmerksamkeit; der Rücken krümmt sich und kehrt dann zu seiner normalen Haltung zurück. Diese Verbeugung war feierlich und stramm: Der Mann hielt die Hände an die Oberschenkel und beugte sich steif aus der Hüfte nach vorn, wobei seine Hände bis weit über die Knie nach unten rutschten. Ich ahmte die Verbeugung nach, so gut ich konnte.

«Guten Tag», sagte der Mönch auf Englisch. «Was wünschen Sie?»

«Ich möchte Ihren Meister sprechen», sagte ich. «Ich möchte ihn fragen, ob ich hier leben darf.»

Obwohl ich langsam und deutlich sprach, schien er mich nicht zu verstehen. Ich deutete auf meinen Koffer und dann auf den Tempel. Er folgte meinem ausgestreckten Zeigefinger und blickte mir dann ins Gesicht, aber die Erleuchtung war noch nicht gekommen. Ein paar Sekunden lang sahen wir uns schweigend an; dann machte er eine Geste, ich solle ihm folgen.

Auf der Tempelveranda zeigte er auf meine Schuhe; ich zog sie aus. Dann wies er auf eine Buddhastatue, die durch die offenen Tempeltüren aus Lattengittern und Papier zu sehen war. Ich verbeugte mich vor dem Buddha genauso, wie es der Mönch vor mir getan hatte. Dann stiegen wir die Holzstufen hinauf, und er brachte mich in eine Kammer, wo er mich allein ließ. Auf dem Weg zu der Kammer musste er zwei Türen öffnen, Schiebetüren auf hölzernen Gleitschienen. Beide Male kniete er auf den dicken Strohmatten nieder, die überall in Japan den Zimmerfußboden bedecken; dann öffnete er respektvoll die Tür, wartete, bis ich eingetreten war, und wiederholte diese Zeremonie auf der anderen Seite der Tür. Ich war auf heiligem Boden.

In der Tempelkammer gab es keine Stühle, und ich setzte mich verlegen auf den Boden. Ich hätte mir gern eine Zigarette angesteckt, aber es war kein Aschbecher da, und ich hielt es für unhöflich, in einer solchen Umgebung ohne Erlaubnis zu rauchen. Hinter mir war eine Nische, aus rohem und unbehobeltem Holz, vielleicht glatten dünnen Baumstämmen oder dicken Ästen; darin stand eine weitere Statue, diesmal das lebensgroße Bild eines japanischen oder chinesischen Mönchs in der Meditationsstellung des doppelten Lotussitzes[1].

Seine Glasaugen starrten blicklos auf einen nicht ganz drei Meter entfernten Punkt auf dem Boden. Niemand kam, und ich hatte Zeit, mir die Skulptur in Ruhe anzusehen. Der Unterschied zwischen dem Buddhabildnis auf der Tempelveranda und diesem Mönch war auffallend. Der Buddha erschien liebevoll; sein leichtes Lächeln strahlte Frieden aus, vermischt mit Mitgefühl. Dieser hier erschien anders: angespannter, willenskräftiger. Seine Lippen waren zusammengezogen zu einem Ausdruck äußerster Konzentration, die auf einen Gegenstand gerichtet war, der nicht von dieser Welt sein konnte. Eine übermenschliche Kraft ging von der Statue aus, eine intensive Spannung. Trotzdem waren beide Gestalten einander ähnlich; beide sahen frei aus, frei von aller spürbaren und vorstellbaren Sorge.

Der hölzerne Meister faszinierte mich, aber dann fingen seine Glasaugen an, mir Angst zu machen, und ich wandte mich ab und sah nach draußen. Es war ein warmer Tag, und die Gartentüren waren geöffnet. Hinter mir glomm Weihrauch; der schwere Duft wirkte beruhigend. Die Türen gingen auf eine Veranda hinaus; jenseits konnte ich einen Steingarten mit einem Teich sehen, in dem rote Goldfische gemächlich umherschwammen und an Brotkrumen nagten, die jemand ins Wasser geworfen hatte. Plötzlich kam ein Mönch vorbei; er wischte die Veranda auf und drückte dabei mit den Handflächen auf einen großen Lappen, während seine Beine sich rasch bewegten. Ich fühlte mich an eine Szene aus einer alten Filmkomödie erinnert. Gleich darauf kam er zurück; er bewegte sich genau wie vorher, und diesmal sah er aus wie eine große Wanze oder ein Wasserkäfer.

Ich blickte auf den Garten hinaus, aber noch immer sah ich die Statue des Meisters, fühlte ich mich bedroht von der Willenskraft dieses Mannes. Ich konnte damals nicht wissen, dass er jener legendäre Mönch war, der nach längjähriger Ausbildung Meister wurde und dann seinen Titel ablegte und zwanzig Jahre lang unauffindbar blieb. Er lebte mit den Ärmsten der Gesellschaft unter den Brücken von Kioto und ließ durch kein äußeres Zeichen erkennen, dass er anders war als sie. Der Kaiser, selbst Zen-Anhänger, hörte, dass ein großer Meister sich in der Stadt verbarg; ein Gerücht besagte, der Meister mache sich mit dem Gesindel gemein. Man hinterbrachte dem Kaiser, dass der Meister eine bestimmte Sorte Melonen gern mochte. Der Kaiser verkleidete sich, nahm einen Korb voll Melonen und ging durch die Stadt, bis er unter einer Brücke einen Bettler mit auffallend lebhaften Augen fand. Er bot dem Bettler eine Melone an und sagte: «Nimm die Melone, ohne deine Hände zu gebrauchen.»

Der Bettler antwortete: «Gib mir die Melone, ohne deine Hände zu gebrauchen.»

Der Kaiser stiftete daraufhin Geld zum Bau eines Tempels und setzte den Meister als Lehrer ein.

Während ich in der Tempelkammer saß und darauf wartete, dass jemand erschien, erinnerte ich mich daran, dass ich gehört hatte, die Suche nach Gott sei eine zweifache Bewegung. Der Suchende bemüht sich, einen Weg zu finden, und kommt mühsam voran; zugleich aber wird er, ohne dass er sich anfangs dessen bewusst ist, hinaufgezogen. Es wäre schön, dachte ich, wenn dieser machtvolle Meister sich ein wenig bemühen würde, mich in die höheren Regionen zu geleiten.

Ich war noch in Nachdenken versunken, als der Mönch eintrat. Ich verbeugte mich verlegen. Der Mönch nickte und machte eine einladende Geste.

Wir gingen zurück auf die Veranda, wo ich meine Schuhe wieder anzog. Ein kurzer Weg durch einen Umgang, der ebenso überdacht war wie das Tor, und wir kamen an eine kleine Pforte. Ich verstand; dies musste das Haus des Klosterlehrers sein. Ich hatte gelesen, dass Zen-Meister für sich leben und sich um den Klosterbetrieb nicht kümmern. Von dessen Tagesablauf bleiben sie unberührt; ihre Aufgabe ist die geistliche Anleitung der Mönche und der anderen Schüler, die sie täglich einzeln empfangen.

Wir kamen auf eine andere Veranda, und ich erblickte unter den japanischen Sandalen ein Paar große Schuhe westlicher Machart. Der Mönch schob die Tür beiseite und verschwand. Ich befand mich in einem Raum zusammen mit einem alten Japaner und einem jungen breitschultrigen Weißen, der mich aufmerksam betrachtete. Ich verneigte mich auf die vorgeschriebene Weise und erhielt ein freundliches zweifaches Nicken zur Antwort.

«Setz dich», sagte der Weiße in amerikanisch klingendem Englisch.

Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig; es fiel mir auf, dass seine Jeans und sein gestreiftes Hemd zu seiner Umgebung nicht in Widerspruch standen.

«Ich heiße Peter», sagte der Amerikaner, «und du hast Glück, dass ich gerade in der Gegend war, denn hier spricht man nur japanisch. Der Meister möchte gern wissen, warum du deinen Koffer im Tempelvorraum abstellen willst.»

Ich hatte genug über Zen-Meister gelesen, um zu wissen, dass sie lange Erzählungen nicht mögen und wortlose Methoden vorziehen. Den Büchern nach zu urteilen, kann es passieren, dass Zen-Meister plötzlich zu schreien anfangen, einem bei einem stillen Spaziergang ein Bein stellen, einen auf den Kopf hauen oder irgendetwas sagen, was anscheinend keinerlei Sinn ergibt. Mir schien, es wäre besser, meine Erklärung so kurz und knapp wie möglich zu halten.

«Ich bin hier», sagte ich bedachtsam, «um den Sinn des Lebens zu erkennen. Der Buddhismus weiß, was dieser Sinn ist, den ich zu finden versuche, und der Buddhismus kennt den Weg zur Erleuchtung.»

Noch während ich so meine Absicht zu erläutern versuchte, kam ich mir bereits lächerlich vor. Für mein Gefühl musste das Leben einen Sinn haben, und es schien mir sehr dumm, zuzugeben, dass ich nicht wusste, wozu die Schöpfung, das, was uns umgibt und in uns ist, eigentlich da war. Aber ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.

Zu meiner Überraschung antwortete der Meister sofort. Ich hatte gedacht, er würde schweigen. Denn als Buddha gefragt wurde, ob das Leben einen Sinn hat oder keinen, ob es ein Leben nach dem Tode gibt oder nicht, ob das All unendlich ist oder nicht, ob man von einem Urgrund sprechen kann oder nicht, da hat er nichts erwidert und sich ‹in edles Schweigen gehüllt›. Er hat damit andeuten wollen, dass diese Fragen über das Leben nicht richtig gestellt waren. Unsere Gehirne sind uns gegeben als Werkzeuge, die eine bestimmte, eine begrenzte Aufgabe erfüllen; wenn wir versuchen, die wahren Geheimnisse zu begreifen, versagen sie. Das Gehirn kann weder die Frage selbst enthalten noch die Antworten; um zum wahren Verstehen, zur Erleuchtung zu gelangen, muss ein ganz anderes Werkzeug verwendet werden. Man muss intuitive Einsicht entwickeln, indem man dem achtfachen Weg folgt, der buddhistischen Methode. Buddha wollte, dass seine Schüler dasjenige Verfahren benutzen, das er selber gefunden und perfektioniert hatte. Buddha war ein praktischer, ein pragmatischer Mann.

Aber der Zen-Meister in seinem schmucklosen, grauen Gewand – ein alter Mann hoch in den Siebzigern, doch mit klaren, funkelnden Augen – hüllte sich nicht in edles Schweigen. «Das ist gut», sagte er. «Das Leben hat einen Sinn, aber einen fremden. Wenn du an das Ende des Weges kommst und vollkommene Einsicht findest, wirst du sehen, dass Erleuchtung ein Witz ist.»

«A joke», sagte der Amerikaner und sah mich ernst an. «Das Leben ist ein Witz, das wirst du eines Tages verstehen lernen. Nicht jetzt, aber es wird so weit kommen.»

Ich fragte, ob ich als Schüler angenommen werden könne. Der Lehrer nickte. Seine Zustimmung überraschte mich; offenbar waren die Bücher über Zen, die ich gelesen hatte, falsch gewesen oder von Unerfahrenen geschrieben worden. Sie hatten behauptet, Zen-Meister nähmen keineswegs bereitwillig Schüler an. Dem Schüler würde gesagt, der Meister sei zu alt oder zu krank oder zu beschäftigt für neue Schüler; oder er bekomme zu hören, er sei nicht genügend fortgebildet, um Schüler zu werden, könne jedoch vorübergehend zugelassen werden, als Holzfäller oder Ackerknecht.

Aber nein: Ich konnte angenommen werden. Vorausgesetzt – eine Bedingung gab es –, ich wäre bereit, acht Monate zu bleiben; in kürzerer Zeit könnte ich nichts lernen. «Ich kann drei Jahre bleiben», sagte ich.

«Das ist unnötig», sagte der Meister. «Drei Jahre sind im Leben eines Menschen eine lange Zeit. Du brauchst dich nicht zu binden, du musst nichts versprechen, aber acht Monate solltest du bleiben. Diesen Zeitraum musst du dir einprägen. Gewöhne dich an den Gedanken, acht Monate hierzubleiben. Es ist nicht leicht hier. Wir stehen früh um drei auf und gehen nicht vor elf abends zu Bett. Es wird viel meditiert, es wird viel im Garten gearbeitet, das ist anstrengend. Und du hast außerdem die Schwierigkeit, dass du in einer völlig fremden Umgebung bist. Für dich wird alles anders sein, die Sprache, unsere Art zu sitzen, das Essen. Mit dem, was du gelernt hast, wirst du nichts anfangen können. Aber das ist gut so. Ein wenig Extratraining kann nicht schaden.»

Der Meister sprach lange und mit Pausen, damit Peter dolmetschen konnte. Als er geendet hatte, dachte ich, nun sei eine gute Gelegenheit, ein paar Fragen zu stellen. Ich versuchte, einige intelligente Fragen zu formulieren, aber sie liefen alle auf dieselbe hinaus: Hat das Leben einen Sinn oder nicht? Der Meister schüttelte den Kopf. «Was du fragst, könnte ich wohl beantworten. Aber ich tue es nicht, denn du würdest mich nicht verstehen. Hör zu. Stell dir vor, ich habe eine Kanne Tee und du bist durstig. Du möchtest, dass ich dir Tee gebe. Ich kann dir Tee eingießen, aber dazu musst du mir eine Tasse hinhalten. Ich kann den Tee nicht in deine Hand gießen, sonst verbrennst du dich. Wenn ich ihn auf den Boden gieße, gibt es Flecken auf der Matte. Du musst eine Tasse haben. Diese Tasse formst du in dir selbst durch die Ausbildung, die du hier erhalten sollst.»

Der Gedanke ans Teetrinken musste ihn durstig gemacht haben; er sagte ein paar Worte zu Peter, der sich ehrerbietig verneigte und hinausging. Gleich darauf kam er zurück, in der Hand ein Tablett mit einer Kanne Tee, Tassen, einer Schale mit Gebäck, Zigaretten und einem Aschenbecher.

Der Meister entspannte sich, die Atmosphäre im Zimmer auch. Peter lehnte sich gegen die Wand, und der Meister rieb seinen Rücken an einem der Pfosten der Wandnische. Auch ich veränderte meine Stellung; ich hatte auf den Knien gesessen, und die Beine taten mir weh.

«Du kommst aus Holland», sagte der Meister. «Ich habe über deine Heimat gelesen. Ihr habt Land aus dem Wasser gewonnen, indem ihr Deiche gebaut und das Wasser herausgepumpt habt. Manchmal strömt das Wasser zurück, und dann baut ihr wieder neue Deiche.»

«Es hat Krieg gegeben zwischen unseren Ländern», sagte ich, «zwischen Ihrem und meinem.»

«Ja», sagte der Meister, «es hat einen großen Krieg gegeben. Viele meiner Schüler sind im Krieg geblieben. Krieg ist eine Übung. Jetzt haben wir Frieden, jetzt üben die Menschen sich auf andere Weise. Vieles wird aufgebaut, plötzlich vernichtet und dann wieder aufgebaut. Nehmt ihr uns, den Japanern, den Krieg übel?»

«Nein», sagte ich. «Während des Krieges lebte ich in Holland. Für mich verbindet sich das Böse, das Grausame, das Verabscheuenswürdige mit deutschen Uniformen, mit deutschen Soldaten. Mit Japan verbindet sich für mich nichts. Ich habe ein Stückchen von eurem Land gesehen. Ich fand es schön, und die Gesichter der Leute waren freundlich.»

Der Meister lächelte. Ich bekam noch ein Stück Gebäck und eine zweite Tasse bitteren grünen Tee. Dann war die Unterhaltung beendet. Der Meister streckte den Rücken, Peter ging in seine kniende Stellung zurück, und ich stand auf und verbeugte mich.

Draußen stand der Mönch; er hatte mit meinem Koffer auf mich gewartet. «Deine Kammer», sagte er und wies auf ein kleines Gebäude auf der anderen Seite des Gartens. Das Gebäude erwies sich als verwahrlost; die Kammer, die mir zugeteilt wurde, war groß, aber sehr schmutzig. Die Fußbodenmatten waren durchlöchert, das Papier und das Lattengitter, die die Vorderwand bildeten, zerrissen und gebrochen.

Der Mönch brachte Besen, Lappen und Eimer. Er zeigte mir einen Wasserhahn im Innenhof hinter dem Haus, dann holte er eine Rolle Papier und einige Werkzeuge und fing an, die Vorderwand zu reparieren. Ein paar Stunden lang waren wir damit beschäftigt, die Kammer einigermaßen in Ordnung zu bringen; als wir fertig waren, lächelte er, verbeugte sich und verschwand. Ich streckte mich auf dem Boden aus, den Kopf auf dem Koffer, neben mir ein Schälchen, das ich gefunden hatte, als Aschenbecher, und zog zufrieden an einer Zigarette. Da bin ich also, dachte ich, angelangt an dem Quell der Weisheit; die Chancen, hier Erkenntnis zu finden, stehen gut. Dennoch war mir nicht ganz geheuer. Die Umgebung war so fremd: ein asiatischer Tempel mit schrägem Dach, Wände aus Papier, niedrige Balken, an denen man sich die Stirn stoßen konnte, kleine Wesen in schwarzen Baumwollgewändern. Bevor ich einschlief, ging mir ein letzter Gedanke durch den Kopf: Vielleicht hätte ich mir doch lieber einen umgebauten Fischkutter kaufen und auf den holländischen Binnenseen segeln gehn sollen.

Meditieren tut weh

Klapp: ein trockener Laut. Jemand schlägt zwei Holzstücke gegeneinander, dachte ich. Ich zog an einer dünnen Schnur, und eine schwache Glühbirne ging an. Drei Uhr nachts. Warum um alles in der Welt schlägt jemand um drei Uhr nachts zwei Holzstücke gegeneinander? Ach richtig, fiel mir ein, ich bin ja in einem Kloster; ich habe gelobt, acht Monate lang jeden Morgen um drei Uhr aufzustehen. Verwirrung und Wut gingen in meinem Kopf durcheinander, während ich mich rasch anzog und dabei mit dem Kopf an einen Balken stieß. Es war kalt, und meine Augen waren vom Schlaf verklebt. Ich stieß mir zum zweiten Mal den Kopf und fand mich draußen wieder, zitternd und neue Laute im Ohr. Der Mönch, der mich aus dem Schlaf gerissen hatte, war jetzt ein paar hundert Meter weiter und scheuchte andere Schläfer auf; ich hörte ihn seine Klapper schlagen und die Namen seiner Brüder rufen, die er wecken wollte. Im Tempel läutete eine Glocke; irgendwo anders ertönte ein Gong. Im Hof wusch ich mir Gesicht und Hände und kämmte mir die Haare. Ich konnte nicht sehen, was ich tat, denn es gab weder Licht noch Spiegel. Zum Rasieren war keine Zeit; ich wusste, dass ich vom Augenblick des Wachwerdens an drei Minuten hatte, um in die Meditationshalle zu kommen. Peter hatte mir am Abend zuvor den Tagesablauf kurz geschildert. Alles hatte schnell zu gehen; es blieb keine Zeit zum Zögern, schon gar nicht zum Umdrehen und Wiedereinschlafen: aufstehen, ankleiden, in die Meditationshalle eilen.

Die große Halle lag auf der anderen Seite des Gartens und war ein leerer Raum. Beiderseits hohe breite Bänke, darauf Strohmatten und Kissen, für jeden Mönch ein Kissenstapel. In der Mitte der Halle ein Altar mit einer Statue des Manjusri, des Bodhisattwa der Meditation, der in der Hand ein Schwert zum Zerschneiden der Gedanken trägt. Weihrauch schwelt. Wenn man eintritt, muss man sich vor dem Manjusri verbeugen, dann vor dem Klostervorsteher, der nahe am Eingang sitzt, von wo aus er die ganze Halle überblicken kann. Dann geht man zu seinen Kissen und verbeugt sich wieder. Die Kissen sind heilig, denn auf ihnen wird man irgendwann die Erleuchtung, die Freiheit, das Ende aller Probleme finden.

Dann setzt man sich rasch nieder, die Beine ineinandegeschlagen und den Rücken gestreckt. Mit offenen Augen sieht man geradeaus, und die Meditation beginnt. Der Mönch schlägt seine Glocke an; fünfundzwanzig Minuten später schlägt er sie wieder. Wenn alles so verlaufen ist, wie es sollte, dann hat man fünfundzwanzig Minuten lang unbeweglich dagesessen, ruhig atmend und in tiefer Konzentration. Danach darf man nach draußen gehen, aber nach fünf Minuten muss man zurück sein, denn dann beginnt die zweite Meditationsperiode, wiederum fünfundzwanzig Minuten. Nach zwei Perioden gehen die Mönche einer nach dem anderen in das Häuschen des Meisters. Danach gibt es Frühstück, kochend heißen Reisbrei mit eingelegtem Gemüse, das man mit chinesischem Tee ohne Zucker hinunterspült.

Während Peter mir dies alles erklärte, ließ er mich auf dem Kissen in der Meditationshalle niedersitzen. «Leg deinen rechten Fuß auf deinen linken Schenkel», sagte er. Ich konnte es nicht. «Dann kreuz die Beine.» Das ging eher, und ich brachte eine Art Schneidersitz zustande. «Versuch es noch einmal», sagte Peter. Es erwies sich als unmöglich; meine Beinmuskeln waren zu kurz und zu steif. Peter nickte bekümmert. «Es wird weh tun», prophezeite er. «Aber du wirst es lernen müssen.»

«Kann ich denn nicht auf einem Stuhl meditieren?»

«Weshalb?», fragte er spöttisch. «Bist du ein alter Mann? Oder ein Invalide? Na also. Du bist jung, dein Körper ist biegsam, deine Muskeln werden sich mit der Zeit strecken. Wenn du die Beine kreuzt, werden deine Schenkel unter ihrem eigenen Gewicht nach unten sinken und deine Muskeln allmählich länger werden. Wenn du jeden Tag übst, wirst du in ein paar Monaten im halben Lotussitz sitzen können und in ein paar Jahren im vollen. Ich habe die gleichen Schwierigkeiten gehabt. Als ich anfing, war ich noch steifer als du.»

«Aber was ist denn so wichtig an dieser Lotusgeschichte?»

«Um dich gut konzentrieren zu können, muss dein Geist im Gleichgewicht sein, und wenn dein Geist im Gleichgewicht ist, muss es auch dein Körper sein. Der doppelte Lotus ist eine Stellung von reinem Gleichgewicht, von vollkommener Balance. Wenn du im vollen Lotus sitzt, musst du ganz einfach ausgeglichen werden, es geht gar nicht anders. Dein Herz beruhigt sich, dein Atem wird gleichmäßig, deine Gedanken hören auf umherzuschwirren. Wenn du den Rücken geradehältst und den Kopf auch, dann funktionieren alle Nervenzentren in deinem Körper richtig. Und wenn du etwas gegen den Doppellotus hast, wenn du nicht einmal versuchst, ihn zu erlernen, dann bereitest du dir unnötige Schwierigkeiten und redest dir dabei noch fortwährend ein, du würdest alles leicht und angenehm machen.»

«Aber kann man denn wirklich nicht auf einem Stuhl meditieren?»