Cover

Johannes Mario Simmel

Die Antwort kennt nur der Wind

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Johannes Mario Simmel

Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, gehörte mit seinen brillant erzählten zeit- und gesellschaftskritischen Romanen und Kinderbüchern zu den international erfolgreichsten Autoren der Gegenwarts.

Seine Bücher erscheinen in 40 Ländern, ihre Auflage nähert sich der 73-Millionen-Grenze. Der Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse wurde 1991 von den Vereinten Nationen mit dem Award of Excellence der Society of Writers ausgezeichnet.

»Simmel hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor einen fabelhaften Blick für Themen, Probleme, Motive«, sagte Marcel Reich-Ranicki über den Schriftsteller.

Johannes Mario Simmel verstarb am 1. Januar 2009 84-jährig in der Schweiz.

Über dieses Buch

Die Jacht eines deutschen Bankers fliegt in die Luft. Robert Lucas, Angestellter der Gesellschaft, bei der die Jacht versichert war, wird losgeschickt, um Licht in das Dunkel dieser Katastrophe zu bringen. Damit bereits ist sein Schicksal ebenso vorgezeichnet wie das der jungen Malerin Angela Delpierre, der Lucas in Cannes begegnet. Hier lernt er auch jene Menschen kennen, von denen selbst die Regierungen der mächtigsten Staaten sich erpressen lassen müssen, von Menschen, die über Währung und Wirtschaft, Wohlstand oder Armut entscheiden. Zwei Liebende und ein halbes Dutzend der Mächtigsten dieser Erde – sie sind zuletzt verstrickt in ein Netzwerk aus Leidenschaft und Verbrechen, aus dem es keinen Ausweg mehr zu geben scheint.

Impressum

eBook-Ausgabe November 2012

© 2012 Knaur eBook

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Für die freundliche Genehmigung zur Verwendung einiger Zeilen vpn »Blowin’ in the Wind« (Originaltext und Musik Bob Dylan, deutscher Text Hans Bradtke) danken wir den Verlagen M. Wittmark & Sons, New York, und Neue Welt Musikverlag Rolf Budde, Berlin

© 1962 M. Witmark & Sons, New York

Für Deutschland, Österreich und die Schweiz

Neue Welt Musikverlag Rolf Budde, Berlin

Covergestaltung: Fritz Blankenhorn

ISBN 978-3-426-41921-2

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Vorbemerkung des Autors

 

Schauplatz der Handlung des Romans ist in der Hauptsache Cannes und Umgebung. Dazu gehören Hotels, Jachten, Spielcasinos, Geschäfte, Restaurants, viele sonstige Orte und ein Kreis von liebenswerten Personen, die hier leben und arbeiten. Jene Personen haben mir ausdrücklich gestattet, sie in meinem Buch namentlich zu erwähnen und agieren zu lassen.

Daneben erscheint in meinem Roman ein zweiter Kreis von Personen, die ebenso frei erfunden sind, wie die gesamte Handlung es ist. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen und Institutionen, insbesondere mit Währungskrisen, weltweiten Finanzmanipulationen und multinationalen Gesellschaften oder mit den Personen aus diesem zweiten Kreis, gleich, ob lebend oder verstorben, wäre rein zufällig.

J. M. S.

Für Agnelet

Ich war in einer Nacht, wie keine war.

Da kamst du, mein geliebtes Angesicht.

Du machtest solche Nacht zum lieben Tag.

Du sangst Musik und schenktest hold mir ein

und sprachst die Worte, die ich nie vergaß,

von uranfänglich so geweihtem Hauch,

daß diese arge Nacht verging wie Rauch.

 

Firdusi, persischer Dichter,

939 bis 1020 nach Christus

Prolog

1

Also schwang der Junge ein langes Stück Tauende über seinem Kopf, und der alte Mann fing es geschickt auf und zog daran. Das Beiboot mit dem Heckmotor, in dem der Junge Angela und mich von der Jacht herübergebracht hatte, schwankte in sanftem Wellengang und glitt nun der Treppe entgegen, die man in die Uferfelsen am südwestlichen Ende des Cap d’Antibes geschlagen hatte. Der alte Mann stand auf einer Stufe der Treppe, die schon von Wasser überspült wurde. Das Meer hier war dunkelblau und dabei so klar, daß ich den Grund und alle Felsbrocken und jedes einzelne Gewächs in der Tiefe erkennen konnte. Ich sah Schwärme von winzigen Fischen, die davonstoben. Die Fische waren nicht größer als Nähnadeln, viele Hunderte Nähnadeln.

Der alte Mann hatte das Beiboot schon dicht an die Treppe herangezogen. Er trug eine beigefarbene Leinenhose, deren untere Enden mit seinen nackten braunen Füßen im Wasser steckten, und er trug ein sehr verblichenes beigefarbenes Hemd und einen breitkrempigen flachen Hut auf dem hageren Schädel. Der alte Mann war ausgezehrt, gebeugt und zerstört vom Leben. An den Händen wanden sich dick die Adern, die platten Nägel waren abgebrochen, Füße, Arme, Hände und Gesicht hatten eine Haut wie brüchiges Pergament. Der alte Mann mußte seine Tage von Kindheit an in Sonne, Wind und nahe dem Wasser zugebracht haben. Er hatte ein freundliches Gesicht. Die Backenknochen traten hart hervor über den eingefallenen Wangen, und der alte Mann lächelte uns zu, nur mit den Augen, nicht mit dem Mund. Seine Augen waren so dunkelblau wie das Meer. Der alte Mann konnte nicht mit dem Mund lächeln, denn dieser war fest geschlossen, weil es den alten Mann offensichtlich sehr anstrengte, das Tauende heranzuziehen und dabei das Boot ruhig zu halten. Es war gewiß ein sehr alter Mann, aber er arbeitete noch immer, und seine Augen waren klar und scharf geblieben.

Der Junge trat geschickt und schnell auf eine der Stufen. Er hieß Pierre und war zweiter Bootsmann der Jacht, die draußen auf dem Meer ankerte. Pierre trug weiße Hosen und ein weißes Hemd und war barfuß wie wir alle und 21 Jahre alt. Der Kapitän hieß Max und war 28. Pierre kannte den alten Mann. Sie redeten einander mit Vornamen an. Ich gab Pierre Angelas und meine Schuhe, und dann stand ich im Boot auf, und Pierre packte meine Hand, und ich sprang an Land. Ich packte Angelas Hand, und auch sie sprang.

»Bonjour, Madame«, sagte der sehr alte Mann, »bonjour, Monsieur. Das ist ein schöner Tag heute, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich, »sehr schön.«

»Aber auch sehr heiß«, sagte der alte Mann.

»Ja«, sagte ich. »Besonders heiß.«

Wir sprachen französisch, der alte Mann mit einem besonderen Akzent, und Angela sagte zu ihm: »Sie sind aus Marseille, nicht wahr?«

»Aus Marseille, Madame, natürlich«, sagte der alte Mann, und jetzt, da Pierre ihm das Tauende abgenommen hatte und wieder ins Boot gesprungen war, lächelte der alte Mann nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Mund. Er zeigte dabei ein prächtiges falsches Gebiß mit völlig gleichmäßigen Zähnen, die in der Sonne glänzten. Ich suchte in meiner Hosentasche nach einem Zehnfrancschein, und der alte Mann bemerkte das und sagte: »Lassen Sie doch, Monsieur. Sie werden sicherlich wieder zurückfahren. Wenn Sie dann die Güte haben wollen … Aber es ist nicht nötig, es ist wirklich nicht nötig.«

»Natürlich ist es nötig«, sagte Angela. »Wir müssen alle leben. Wie lange sind Sie hier?«

»Von früh bis Mitternacht, Madame«, sagte der sehr alte Mann. »Meistens länger. Es kommen immer so viele Menschen, und viele von ihnen fahren erst spät nachts wieder ab. Ich schlafe da drüben in der grünen Hütte.«

Zwischen stacheligem Gebüsch und hohem Gras standen viele kleine, armselige Bungalows aus Holz. Ich hatte gehört, daß diese Hütten vermietet werden an Paare, die einander lieben wollen. Es gibt stets sehr viele solche Paare und fast nie eine freie Hütte, doch der alte Mann schien eine zu besitzen.

»Ich schlafe am Tag auch hier ein, wenn die Sonne sehr heiß ist«, sagte er und blinzelte ein wenig. »Man darf bei dieser Hitze nichts trinken, aber manchmal ist mir nicht ganz gut, wissen Sie, und dann trinke ich doch einen Schluck oder zwei, und dann schlafe ich ein, bis man nach mir ruft.«

»Was trinken Sie?« fragte Angela.

»Bier«, sagte der sehr alte Mann. »Das ist ein gutes Getränk.«

»O ja«, sagte Angela und blinzelte auch und lächelte ihm zu. Unter uns hatte Pierre den Heckmotor anspringen lassen. Das Beiboot beschrieb einen großen Bogen, zog eine hochsprühende Wasserspur hinter sich her und jagte zurück zu der Jacht.

Pierre holte nun die Trabauds und ihren Hund herüber. Wir hätten nicht alle auf einmal bequem Platz in dem Beiboot gehabt. Die Jacht gehörte den Trabauds und hieß ›Shalimar‹.

Angela schlüpfte in ihre Schuhe, und ich zog meine an und blickte dabei auf die Armbanduhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei Uhr nachmittags, und von diesem Moment an hatte ich noch eine Stunde und elf Minuten zu leben.

»Was haben Sie in Marseille gemacht?« fragte Angela.

»Ich habe dort gewohnt mit meiner Frau«, sagte der alte Mann. »Aber ich war viele Monate lang nicht daheim, manchmal sehr viele Monate lang nicht. Ich war Kapitän auf einem Frachter. Thérèse stammte nicht aus Marseille. Sie kam aus dem Norden, aus Limoges. Trotzdem, sie fühlte sich wohl in Marseille. Jedenfalls zuerst.« Der alte Mann war geschwätzig wie alle alten Männer. »Meine Frau war sehr schön. Leider war sie viel jünger als ich. Als ich einmal von einer Fahrt heimkam, war sie nicht mehr da. Sie hatte mir einen Brief geschrieben.« Der sehr alte Mann holte an einer langen Schnur eine Flasche Bier aus dem Meer herauf, öffnete sie, wischte mit dem Handrücken über den Hals und hielt Angela die Flasche hin. »Wollen Sie?«

»Nicht bei dieser Hitze, danke«, sagte Angela.

»Und Sie?«

»Ich auch nicht«, sagte ich.

Der sehr alte Mann setzte die Flasche an die Lippen und trank einen großen Schluck. Kleine Wellen schlugen glucksend knapp unter uns gegen die Treppenstufen. »Es war ein Mimosenzüchter aus Grasse, wissen Sie. Ich kannte ihn. Sah sehr gut aus. So alt wie Thérèse. In dem Brief schrieb sie mir, daß sie diesen Mann liebe und er sie und daß ich ihr verzeihen müsse.«

»Und haben Sie ihr verziehen?« fragte Angela.

»Ich war doch viel älter als sie«, sagte der alte Mann und versenkte die Flasche wieder im Meer.

Angela sah ihn an.

»Oder nicht?« fragte der alte Mann. »Hätte ich ihr nicht verzeihen sollen?«

Angela sah ihn immer weiter nur an.

»Nun gut«, sagte der alte Mann. »Ich habe ihr nie verziehen. Und ich werde ihr nie verzeihen. Ich hasse sie.«

»O nein«, sagte Angela. »Wenn Sie sie haßten, hätten Sie ihr verziehen und sie längst vergessen.«

»Madame«, sagte der sehr alte Mann, »so hat noch niemand zu mir gesprochen. Es stimmt, ich habe Thérèse niemals gehaßt, ich habe sie immer geliebt. Ich liebe sie noch heute, obwohl ich nicht einmal weiß, ob sie noch lebt oder schon tot ist. Aber das spielt keine Rolle, wie?«

»Überhaupt keine Rolle«, sagte Angela.

»Monsieur«, sagte der sehr alte Mann, »ich beglückwünsche Sie. Diese Dame hat ein großes Herz und einen klaren Verstand. Diese Dame ist eine großartige Frau.« (»Une chic femme«, sagte er.)

Angela sah nun mich an und lächelte noch immer und drückte meine Hand. Außen an den Augenwinkeln bildeten sich viele sehr kleine und feine Fältchen, wenn sie lächelte.

»Damals habe ich zu trinken begonnen«, sagte indessen der sehr alte Mann. »Lange Zeit ging alles gut. Dann hatte ich Unglück. Auf See. Ich verlor mein Patent. Ich war kein Kapitän mehr, und ich durfte niemals mehr auf ein Schiff.«

»Wie schrecklich«, sagte Angela.

»Weniger schrecklich als das andere«, sagte der alte Mann. »Sehr viel weniger schrecklich. Es gibt alle Arten von Arbeit. Ich habe die ganze Küste entlang gearbeitet, von Marseille bis Menton. Dann, als es mit der schweren Arbeit nicht mehr ging, habe ich mir leichtere gesucht – zuletzt diese. Ich bin sehr glücklich hier, ich habe Freunde auf Cap d’Antibes. Nur wenn ich an Thérèse denke …«

»Ja …«, sagte Angela.

»Aber ich denke nicht mehr an Thérèse«, sagte der sehr alte Mann. »Ich denke nie mehr an sie. Niemals mehr. Nein, seit vielen Jahren nicht mehr.« Er setzte sich auf eine Stufe und betrachtete seine rissigen, großen Hände.

Angela zog mich fort.

»Komm«, sagte sie. »Er weiß jetzt gar nicht mehr, daß wir da sind. Er ist bei Thérèse.« In der Ferne hörte ich die Uhr eines Kirchturms schlagen. Es war nun ein Viertel vor zwei. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Angela.

»Ja«, sagte ich.

Wir stiegen nebeneinander die Stufen der Treppe hinauf. Sie führte zu einem Pfad, der die Anlegestelle mit dem Restaurant ›Eden Roc‹ verband, das zum ›Hôtel du Cap‹ gehörte. Es lag nur ein paar hundert Meter entfernt. Ich sah viele Menschen, die sich auf den Felsterrassen unterhalb des Restaurants sonnten, und es fielen mir Liz Taylor und Richard Burton und der spanische Thronprätendent Juan Carlos ein, und der ins Exil gegangene König von Griechenland mit seiner Frau und die vielen Prinzen und Prinzessinnen und Grafen und Barone und der Tisch mit den amerikanischen Stahlmilliardären, und Curd Jürgens und Henry Kissinger und die Begum und all die anderen fielen mir ein, denen ich im ›Eden Roc‹ begegnet war, wo sie auf den Terrassen gesessen und ihre Aperitifs getrunken hatten. Ich dachte plötzlich, daß ich wohl verrückt gewesen sein mußte, als ich gerade wegen dieser vielen sehr reichen oder hochberühmten Leute, die hierherkamen, verlangt hatte, daß mein Treffen mit jenem Mann beim ›Eden Roc‹ stattfinden sollte, und wenn ich nicht Angela an meiner Seite gehabt hätte, wäre ich in jäh aufschießender Angst vor meinem Plan auf der Stelle umgekehrt und geflohen, ich weiß nicht wohin, denn in der Tat gab es kein Entfliehen mehr für mich nach allem, was geschehen war, nach allem, was ich getan hatte. Aber Angela war an meiner Seite, und sie hielt meine Hand, und also ging ich weiter den Pfad entlang über dem tiefblauen Meer, unter dem tiefblauen Himmel, zwischen Orangen- und Zitronenbäumen, Pinien, Palmen, Kiefern und Eukalyptus, Rosen, Nelken und mächtigen Büschen mit goldgelben Blüten, die ich nicht kannte. Ich ging schnell, und ich dachte erstaunt: Mein linker Fuß tut überhaupt nicht weh. Wieso schmerzt er nicht? Er schmerzte doch an Bord der ›Shalimar‹. Macht das die Aufregung? Oder war alles ein Irrtum, und ich komme doch noch davon? Nein, sagte ich zu mir, das gibt es nicht. Du mußt glauben, was Dr. Joubert vom Hôpital des Broussailles dir gesagt hat. Er ist ein hervorragender Arzt, und du hast die Wahrheit hören wollen. Nun kennst du die Wahrheit. Also trage sie. Weißt du, mein Alter, sagte ich zu mir, es ist verflucht schwer, sie zu tragen, aber ich werde es bestimmt tun. Darum bin ich ja hier. Ich sagte zu Angela: »Da vorn ist schon Marcel.«

»Ja«, sagte sie. Wir redeten deutsch miteinander, obwohl Angela Delpierre Französin war und ich ihre Sprache gut beherrschte. Sie redete mit einem leichten Akzent, aber fließend. »Tut dein Fuß weh?«

»Nein«, sagte ich. Und das war eine Lüge. Denn nun, endlich, empfand ich, fast mit Erleichterung, wieder den ziehenden Schmerz, den ich so gut kannte. Na also, dachte ich. »Nein«, sagte ich, »er tut mir überhaupt nicht weh, Angela. Ich muß dem alten Mann nachher unbedingt noch zehn Francs geben.«

Sie blieb plötzlich stehen und umarmte mich. Ihr Leib preßte sich gegen den meinen, wir waren wie ein Körper, ein Geschöpf. Angela küßte mich zart auf den Mund. Dann sah ich, daß Tränen in ihren sehr großen braunen Augen standen.

»Was hast du?«

»Nichts«, sagte Angela. »Nichts. Gar nichts, Robert.«

»Doch«, sagte ich. »Doch, natürlich hast du etwas.«

Sie legte ihre Wange an meine, und während ich dem Meer den Rücken zuwandte, lag es vor ihren Augen, und ich hörte sie flüstern: »Ich danke Dir, Gott. Ich danke Dir, daß ich das erleben darf – etwas so Wunderbares. Bitte, beschütze uns beide, Gott. Ich tue, was Du verlangst, aber beschütze uns, bitte.«

Ich dachte an alles, was geschehen war, und alles, was ich getan hatte und noch tun würde und was mir bevorstand, und ich war sehr froh darüber, daß Angela mein Gesicht nicht sehen konnte in diesem Augenblick. Direkt vor mir erblickte ich rechts eine breite, mit blendend weißem, feinem Kies bestreute Straße. An ihren Seiten standen Zedern und Palmen und sorgsam gestutzte Hecken. Weit hinten lag, wie ein Schloß mit gelber Fassade, das ›Hôtel du Cap‹, umgeben von seinen Gärten, die in allen Farben glühten. Der Pfad und die Erde dort, wo nicht Kies gestreut war, zeigten ein mattes Rot. Angela preßte sich noch fester an mich, und ich roch nun ganz stark den Duft ihrer Haut, der gut war wie der von frischer Milch, und ich dachte, daß ich alles, alles, auch das Ärgste, was ich getan hatte, dem Gott, zu dem Angela gesprochen hatte, verständlich machen konnte mit unserer Liebe, und daß Gott mir auch verzeihen würde, denn alles verstehen und alles verzeihen ist seine Profession. Ich fühlte Angelas Herz schlagen. Es schlug sehr schnell.

2

Bonjour, Marcel!« sagte der Papagei. Es war ein Papagei, der sich selber Marcel nannte. Wir standen vor dem großen Käfig, in dem er saß. Der Käfig befand sich am Rand des Weges mit der roten Erde, der zum Restaurant ›Eden Roc‹ führt. Mein linker Fuß schmerzte nun ziemlich stark, und es war heiß, irrsinnig heiß an diesem frühen Nachmittag des 6. Juli 1972, einem Donnerstag. Ich konnte seit Jahren Hitze kaum ertragen, und der Schweiß rann mir über den Körper, obwohl ich nur ein ganz dünnes blaues Hemd, weiße Hosen und weiße Slipper ohne Strümpfe trug. Ich fühlte mich auf einmal kraftlos und schwindlig, aber ich wußte, das kam nur von der Hitze, und ich mußte hierbleiben, bis der Mann erschien, den ich herbestellt hatte. Ich sah auf das Meer hinaus und auf gewiß drei Dutzend Jachten, sehr große darunter, die alle hier ankerten. Neben der französischen Fahne zeigten die Schiffe amerikanische, deutsche, englische, italienische, schweizerische und belgische Flaggen und noch viele andere. Claude und Pasquale Trabaud stiegen eben in das Beiboot, das längsseits ihrer Jacht lag. Eine Leiter führte vom Deck des Schiffes zum Boot herab. Der Hund war noch an Deck. Er lief aufgeregt hin und her. Kein Windhauch regte sich. Ich wandte mich nach rechts und sah über das Meer hinweg zu dem bunten Hafen und den Häusern von Juan-les-Pins, und, weiter entfernt in der großen Bucht, durch einen nebeligen Sonnen- und Hitzeglast, sah ich sehr undeutlich den Alten und den Neuen Hafen Port Canto von Cannes und die Palmen entlang der Croisette und die weißen Hotels hinter ihr, aber nur schemenhaft das alles, die ganze Stadt mit ihren Gebäuden und den Villen und ›Residencen‹, die in großen Gärten auf dem Abhang lagen, der nach Super-Cannes hinaufführte. Rechts, im Osten von Cannes, breitete sich der Stadtteil La Californie aus, dort wohnte Angela. Ich konnte keine einzelnen Gebäude erkennen, aber ich dachte trotzdem, daß ich mein Daheim, meine Heimat vor mir sah. Unsere Heimat, unser Zuhause. Denn Angela und ihre Wohnung waren alles, was ich mein eigen nennen durfte, alles, was ich hatte auf dieser Welt. Dies und fünfzehn Millionen D-Mark. Was ich noch brauchte, sollte nun kommen.

»Beautiful lady!« sagte Marcel. Er sah Angela an dabei mit seinen schwarzen glänzenden Knopfaugen, und auch ich sah Angela an. Sie war nicht nur beautiful. Sie war die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Ihr Haar war leuchtend rot, ihr Gesicht schmal und fragil, und es wurde beherrscht von den riesigen braunen Augen. Angela Delpierre war genauso groß wie ich und 34 Jahre alt. Ich war 48, und das hatte mich zuerst sehr gequält und geängstigt. Jetzt war es ganz unwichtig. Jetzt war alles wunderbar. Angela hatte einen sehr schönen Körper. Es war alles perfekt an Angela, und ich liebte alles an ihr, den weichen, zärtlichen Mund mit den leicht geschwungenen Lippen, die kleinen Ohren, die Nase, ihre Brüste, ihren Leib, ihre langen Beine. Wann immer sie konnte, hielt Angela sich im Freien auf, und so duftete ihre Haut nach frischer Luft und Sonne, die diese Haut überall sehr braun hatte werden lassen. Angela trug eine weiße Hose, die unten breit wurde und ansonsten wie die meine sehr eng saß, dazu einen weißen Pullover von verblüffendem Schnitt. Ärmellos lag er eng am Körper an, und sein Strickmuster ging oben in einen Kragen über, der nach vorne umschlug. Hinten war der Pullover tief dekolletiert und zeigte Angelas braunen Rücken. Unter den Achseln zog sich der Stoff auf beiden Seiten eng gegen die Mitte zusammen. Angelas Lacklederschuhe hatten breite, klobige Absätze und auf den weißen Kappen die Symbole von zwei kleinen blauen Ankern. Sie war völlig ungeschminkt und hatte nicht die Spur eines Parfums an sich, sie war so, wie ich sie am meisten liebte – ohne jedes Make-up. Am zweiten äußeren Finger der linken Hand trug sie einen Ehering aus schräg geschnittenen kleinen Baguetten.

»Es ist schon drei Minuten nach zwei«, sagte Angela. »Er verspätet sich, dieser Mann.«

»Ja«, sagte ich. »Aber er kommt. Er kommt ganz bestimmt. Er muß kommen. Brandenburg selber hat ihn mir angekündigt. Brandenburg selber hat die neuen Anweisungen für mich chiffriert und diesem Mann Geld mitgegeben, damit ich meine Informanten bezahlen kann.«

»Warum sollst du den Mann gerade hier treffen?«

»Das habe ich dir doch gesagt, Angela. Nach allem, was passiert ist, wollen wir jedes Risiko vermeiden. Hier, am hellichten Tag, mit den vielen Menschen da drüben, ist ein Verbrechen ausgeschlossen. Brandenburg will sichergehen. Ich auch. Ich will nicht, daß mir etwas zustößt wie den anderen.«

»O Gott«, sagte Angela. »Wenn dir trotzdem etwas zustoßen würde … Wenn du stirbst, sterbe ich auch. Wie pathetisch das klingt, nicht wahr? Aber du weißt, es ist wahr.«

»Ja«, sagte ich, »ich weiß es.«

»Ohne dich kann ich nicht mehr leben.«

»Und ich nicht mehr ohne dich«, antwortete ich und dachte benommen daran, was wir da beide eben gesagt hatten und wie das Leben für Angela sein würde ohne mich. Ob sie dann wirklich tat, was sie sagte? Ich hoffte es nicht. Ich hatte alles vorbereitet für den Fall, daß sie ohne mich weiterleben mußte.

»Bringt dir dieser Mann viel Geld?« fragte Angela.

»Ja«, sagte ich. »Sehr viel Geld. Die Leute, die etwas wissen, fordern es.«

Und also belog ich sie wiederum. Es blieb mir keine Wahl. Die Wahrheit über dieses Rendezvous vor Marcels Käfig durfte Angela niemals erfahren. Ich war in der Tat mit einem Mann hier verabredet, aber nicht mit einem Kurier meines Chefs, o nein. Er würde Geld bringen, dieser Mann, viel Geld, o ja. Und das war erst der Anfang, mehr, immer mehr sollte folgen. So hatte ich es gefordert. Ich war nicht länger der Mensch, der ich noch vor zwei Monaten gewesen war. Konfrontiert mit Schurken, war ich selbst ein Schurke geworden. Davon ahnte Angela nichts. Es war mir gleich, daß ich nun jenen anderen glich. Alles war mir gleich. Nur noch ein einziger Mensch zählte in dieser dreckigen Welt – Angela.

Keine Frau habe ich jemals so geliebt wie sie. Und sie hat niemals einen Mann so geliebt wie mich. Dieser Bericht soll eine Lebensversicherung sein für die Frau, die ich so sehr liebe. Darum bete nun auch ich zu Gott, daß es mir gelingen möge, noch alles, was ich erlebt habe, niederzuschreiben bis zum Ende. Es ist keine Frage des Könnens. Ich kann alles tun, wenn ich es für Angela tue. Es ist allein eine Frage der Zeit.

»Und wenn diesem Mann etwas passiert ist?« fragte Angela.

»Es ist ihm nichts passiert«, sagte ich. »Er kommt. Ganz gewiß kommt er. Da können wir völlig ruhig sein.« Aber weil ich fürchtete, die Beherrschung zu verlieren, holte ich mit unsicheren Bewegungen ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche meines Hemdes. Ich durfte nicht rauchen, doch was bedeutete das jetzt schon noch? Jetzt, nachdem ich die letzte Wahrheit wußte, durfte ich alles. Das ist das Angenehme an der letzten Wahrheit, dachte ich. Rauch kam mir in die falsche Kehle, ich hustete.

»Smoke too much«, sagte Marcel.

»Er hat recht«, sagte Angela.

»Das ist meine erste Zigarette heute«, sagte ich. Und wie egal bleibt es, die wievielte es ist, dachte ich.

»Du hast mir versprochen, überhaupt nicht mehr zu rauchen«, sagte Angela.

Ich warf die Zigarette auf die rote Erde und trat sie aus.

»Danke«, sagte Angela. Sie legte einen Arm um meine Schulter, und allein unsere Berührung machte mich selig und ließ mich alles vergessen, Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft, die mich erwartete.

»Jetzt kommen die Trabauds«, sagte Angela. Tatsächlich näherte sich das Beiboot der ›Shalimar‹ in einem großen Bogen der Anlegestelle. Ich dachte, daß es ein Glück war, einen unpünktlichen Boten zu haben, denn ich hatte Claude Trabaud gebeten, von diesem Boten und mir möglichst unauffällig ein paar Fotos zu machen. Claude besaß eine sehr gute Kamera, und ich wollte Bilder des Kerls, auf den ich wartete, von ihm und mir und der Übergabe des Geldes. Alles geht gut, dachte ich.

Unter uns tuckerte ein Motorboot mit drei Mönchen in weißen Kutten fort. Ich kannte sie. Sie wohnten in dem Zisterzienserkloster auf der Insel Saint-Honorat. Es gibt noch eine zweite, kleinere Insel, die Ile Sainte-Marguerite. Beide liegen kaum mehr als einen Kilometer vom Festland entfernt. Angela kannte die Mönche auch, wir waren auf ihrer Insel gewesen. Sie winkte, und alle drei Mönche winkten zurück. Sie stellten einen Likör namens ›Lerina‹ her.

»Die Mönche werden ›Lerina‹ nach ›Eden Roc‹ gebracht haben«, sagte Angela. »Sie liefern immer dahin.«

Ich sah dem Motorboot nach und erblickte wieder, im bernsteinfarbenen Sonnenglast und sehr unklar, Cannes in der Ferne. Angela sah mich an, dann sah auch sie in meine Richtung.

»Wenn wir zurückkommen, gehen wir gleich nach Hause«, sagte Angela.

»O ja«, sagte ich. »Bitte.«

»Du wünschst es dir sehr, ja?«

»Sehr, ja.«

»Nicht so sehr wie ich«, sagte Angela. »Es war am Morgen so wundervoll, dich zu spüren. Für dich auch?«

»Genauso wundervoll.«

»Ich will, daß es immer wundervoll ist für dich, Robert.«

»Und ich will das auch – für dich.«

»Ich möchte dich wieder spüren«, sagte sie. »Gleich, wenn wir heimkommen, werden wir wieder so verrückt sein.«

»Ja«, sagte ich. »Und dann werden wir reden und unsere Platten spielen und die letzten Nachrichten im Fernsehen hören und immer weiter reden, wie immer, bis es hell wird.«

Das Beiboot mit den Trabauds und ihrem Hund war nun schon ganz nahe herangekommen.

Angela sagte: »Wenn wir müde werden beim Erzählen, und einer von uns schläft ein, dann muß der andere ihn sofort wecken. Ich dich und du mich. Das haben wir einander geschworen, denke daran.«

»Ich werde dich wecken, Angela, ich habe es doch schon so oft getan.«

»Und ich wecke dich«, sagte sie. »Wir dürfen nicht viel schlafen. Wenn wir schlafen, hören wir einander nicht, und wir sehen einander nicht, und wir fühlen einander nicht.«

»Nein«, sagte ich. »Wir dürfen wirklich nur ganz wenig schlafen.«

»Schlafen, das ist wie tot sein«, sagte Angela. »Die Menschen gehen mit ihrer Zeit um, als wenn sie das ewige Leben hätten. Und dabei weiß keiner, wieviel Zeit ihm noch bleibt – ein Jahr, fünf Jahre, eine Minute.«

»Das habe ich dir gesagt.«

»Und ich glaube es«, sagte Angela. »Ich möchte sehr alt werden mit dir, Robert. Und niemals dürfen wir einschlafen, unversöhnt nach einem Streit. Wenn wir einmal streiten …«

»Das werden wir nie!«

»Vielleicht doch«, sagte sie. »Über nichts Großes, über ein Nichts. Wenn wir also über so eine Nichtigkeit streiten, dann müssen wir uns unbedingt versöhnen, bevor wir einschlafen.«

»Unbedingt«, sagte ich.

»Ach, Robert«, sagte Angela. »Jeder Tag ist ein Wunder für mich und jeder Abend und jede Nacht. Jede Umarmung. Jeder Blick von dir. Jedes Wort, das du sagst. Jeder Schritt, den ich an deiner Seite gehe. Jeder Morgen ist ein Wunder für mich, wenn du neben mir liegst.«

»Immer wird es nun so sein«, sagte ich. »Für dich und für mich, solange wir atmen, solange es uns gibt.«

»Ja, Robert«, sagte Angela.

»It’s paradise«, sagte Marcel.

Da hatte er recht. Dies war das Paradies – für mich und Angela. Sie küßte meine Wange.

»Lucky gentleman«, sagte Marcel.

Das war ich. Da hatte er auch recht. Seit acht Wochen war ich der glücklichste Mann der Welt. Trotz allem. Oder eben deshalb. Ich sagte zu Angela, die von mir fortgetreten war und zu den Trabauds blickte, die eben aus dem Beiboot auf die Felsentreppe stiegen: »Ich bete dich an. Wenn ich in diesem Moment sterben müßte, ich wäre der glücklichste …«

Den Satz sprach ich nicht zu Ende. Etwas schlug mit grauenvoller Wucht in meinen Rücken, unterhalb der linken Schulter, ein. Ich stürzte nach vorn, auf die rote Erde. Das ist ein Schuß gewesen, dachte ich. Eine Kugel hat mich getroffen. Aber die Detonation des Schusses habe ich nicht vernommen.

Ich weiß noch, daß ich Angela schreien hörte, doch ich verstand nicht, was sie schrie. Ich weiß, daß ich dachte: Nun kann ich dem alten Mann an der Treppe nicht mehr die zehn Francs geben. Seltsam war, daß ich keinen Schmerz verspürte, nicht den geringsten. Ich konnte mich nur nicht mehr bewegen, ich konnte keinen Ton hervorbringen. Jetzt hörte ich neben Angelas Stimme viele andere Stimmen, laut, entsetzt. Dann wurde plötzlich alles schwarz um mich, und ich hatte das Gefühl zu stürzen, schneller, immer schneller, hinab in einen Strudel, der keinen Boden besaß. Bevor ich das Bewußtsein verlor, dachte ich: So also ist wohl das Sterben.

Es war der Anfang davon.

3

Ich kam noch ein paarmal zu Bewußtsein, wenn auch nicht mehr ganz richtig. Das erste, was ich sah, als ich die Augen aufschlug, waren Angelas braune Augen, von denen ich gesagt hatte, ich würde sie niemals vergessen können. Angela sprach. Ihr Gesicht war ganz dicht vor meinem, dennoch konnte ich sie nicht verstehen, denn etwas dröhnte sehr laut. Es dauerte lange, bis mir klar wurde, daß es der Rotor eines Hubschraubers war. Wir flogen. Der Helikopter vibrierte. Ich lag auf einer Bahre, festgezurrt. Ein Mann in Weiß neben mir hielt eine Flasche hoch. Ein Schlauch hing an ihr. Er führte bis zu meiner linken Armbeuge. Dort drang eine Nadel in das Fleisch. Über Angelas zerbrechliches Gesicht rannen Tränen, das rote Haar fiel ihr in die Stirn. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht sprechen. Sie kniete nieder und preßte den Mund an mein Ohr, und nun verstand ich sie. Sie rief stockend und schluchzend: »Bitte, bitte, bitte, Robert, stirb nicht! Du wirst nicht sterben, wenn du es nicht willst. Also gib nicht auf. Gib nicht auf! Bitte, bitte, bitte. Du darfst das nicht tun. Du kannst das nicht tun. Ich bin deine Frau, und ich habe dich so sehr lieb, Robert! Gib nicht auf, denk an alles, was wir noch tun wollen, an unser neues Leben, es hat doch eben erst angefangen. Denkst du daran, ja? Bitte!«

Ich wollte nicken, aber nur mit größter Mühe konnte ich einmal um eine Winzigkeit den Kopf bewegen. Dann mußte ich, völlig kraftlos, die Augen schließen. Und nun erlebte ich, wie in einem Kaleidoskop, einen Farben- und Stimmen- und Gestaltenrausch. Alles floß ineinander, die Farben, die Gestalten, die Stimmen, alles schwamm vorbei. Rot, brennend rot. Meine Frau Karin, das hübsche Gesicht verzerrt, ihre Stimme schrill: Du elender Feigling! Du Lump! Du gemeines Tier! Du glaubst, damit kommst du davon. Aber da irrst du dich. Gott wird dich strafen, ja, das wird er. Du Sadist! Du Seelensadist! Du Teufel! Ich bin dir zum Kotzen, ja? Los, los, sag doch, daß ich dir zum Kotzen bin! Das glühende Rot mischte sich mit silbernen und goldenen Schlieren. Da lag diese Italienerin, einen Dolch in der Brust. Sie schwamm vorbei. Da war mein Chef, Gustav Brandenburg, mit seinen schlauen Schweineaugen und dem breiten Kiefer, hemdsärmelig, dröhnend. Wird es dir zuviel, Robert? Wächst dir die Arbeit über den Kopf? Willst du nicht mehr, oder kannst du nicht mehr? Schwein. Schweineschwein. Gold, Gold jetzt alles. In zwei Jahren bin ich fünfzig. Geschuftet habe ich mein Leben lang, ich habe ein Recht auf Glück wie jeder Mensch. Ja, aber auf Kosten eines anderen? Ins Gold floß Blau, Blau der tiefen See. Das gemeinste Verbrechen, das es gibt, weil es durch nichts und niemanden bestraft werden kann. Siebzig Milliarden Dollar, Herr Lucas, siebzig Milliarden Dollar! Wir gleiten in eine weltweite Katastrophe. Und da gibt es nichts, was wir tun können, nichts. Daniel Friese ist das, der da spricht, ganz in wogendem Blau, Friese vom Bundesfinanzministerium. Die Reichen werden immer reicher, und die Armen werden immer ärmer. Wer sagt das? Die alte Frau in der Apotheke sagt das. Und lächelt verzagt, ohne Hoffnung. Blau und Silbern, Silbern und Orange und Grün, Schlieren und Schleier. Der Rotor dröhnt. Angelas Augen, riesengroß, ich sehe mich in ihnen. Langsame Musik. Angela und ich tanzen auf dem Podium des Terrassenrestaurants ›Palm Beach‹. Alle anderen Tänzer weichen zurück. Da ist die französische Fahne neben der amerikanischen. Das Orange wird stärker. Plötzlich explodieren alle Farben, die es gibt, zu Sternen und kreisenden Rädern und Fontänen. Ein Feuerwerk! In seinem Schein der Mann im Badezimmer, erhängt. Jetzt pochen die Farben, pochen gegen meine geschlossenen Lider, alle auf einmal. Wer ist das? Das bin ich. Betrunken neben einer schwarzhaarigen Frau mit einem Mund wie einer klaffenden Wunde. Sie ist nackt, wir wälzen uns auf ihrem Bett. Wer … wer … o, Jessy, die Hure! Grün nun, alle Arten von Grün. Zwei Kerle schlagen mich zusammen, der eine hält mich, der andere trifft mit seinen Fäusten meinen Unterleib, wieder, wieder, wieder. Ich stürze, ich stürze. Halt mich, Angela, halte mich bitte! Doch da ist keine Angela, da kommt die große Schwärze, da versinke ich in ihr wie in Watte. Ich verliere wieder das Bewußtsein. Und zweiunddreißig Minuten habe ich noch zu leben.

Ich komme wieder zu mir, in einem Meer von Blumen bin ich plötzlich. Weißer Jasmin, rote, violette, orangefarbene Blüten der Bougainvillea, blaue, weiße, rote und violette Petunien, rote Gladiolen, Margueriten, weiß und gelb … Angelas Blumenmeer ist das, ihr Garten auf dem Dach. Kleine Rosen in allen Farben … ›Surprise‹ heißen sie. Und Nelken. Nein, keine Nelken! Nelken bringen Unglück. Der kleine Hocker in Angelas Küche. Sie kocht, ich sitze auf dem Hocker und schaue ihr zu. Wir sind beide ganz nackt, denn es ist heiß, so heiß. Ich fühle, wie mir Schweiß auf die Stirn tritt. Tuch über meine Stirn, Schweiß fort. Rotordröhnen. Gelb alles nun, leuchtend gelb. Alles wird andauernd teurer. Was geschieht mit dem Geld? Ich verstehe das nicht, Herr! Die alte Frau in der Apotheke. Aber jemand muß es doch verstehen! Ja, das stimmt wohl. Da sind die vielen Millionen, die nicht begreifen können, und da sind die wenigen, die Bescheid wissen. Gesichter schwimmen vorbei. Ein betrunkener John Kilwood in Violett. Ein golfspielender Malcolm Thorwell in einer schnellen Spirale aus Rosarot. Ein ausdrucksloser Giacomo Fabiani am Roulettetisch, cremefarben. Eine starre Hilde Hellmann in einem riesigen Rokokobett, alles nun wieder golden. Warum kommt das Unglück, Herr? Warum? Ach, das Unglück kommt nicht wie der Regen, sondern es wird von denen gemacht, die einen Nutzen davon haben. Schrieb Brecht. Kommunist. Maoist. Willy Brandt ist schuld an allem. Auch ein Kommunist. Alle Sozialdemokraten sind Kommunisten. Der Spiegel ist ein Kommunistenblatt! Sind Sie auch Kommunist, Monsieur Lucas? Viele Stimmen durcheinander, wie die Farben. Alles dreht sich nun, schneller, schneller, die Stimmen, die Gestalten. ›Unser‹ Lokal – ›L’Age d’Or‹. Weißgetünchte Wände. Niedrig. Uralt. Nicolai, der Wirt, schiebt Fleisch in einen offenen runden Ofen. Rot ist seine Schürze, weiß sein Hemd. Die Filiale der Juweliere Van Cleef & Arpels an der Croisette. Jean Quémard und seine Frau. Sie lächeln uns an, Angela und mich. Etwas leuchtet hell auf. Der Ehering! Alles leuchtet plötzlich. Ich bin mit Angela auf der Terrasse ihrer Wohnung, hoch über Cannes. Die vielen tausend Lichter der Stadt und der Schiffe, der Straße am Fuß des Estérel-Gebirges. Unendlich viele Lichter, rote, weiße, blaue. Wir lieben einander, Angela und ich. Wir sind eins, wir empfinden, was keiner von uns je noch empfand. Wer stöhnt da? Ich. Ich bin das. Braun und Gelb. Razzia in La Bocca. Eine Maschinenpistole hämmert. Wieder Blau. ›Unsere‹ Ecke auf der Terrasse des Hotels ›Majestic‹. Jetzt höre ich den Rotor kurz sehr laut. Grau, grau, alles grau. Kräne ziehen einen Chevrolet aus dem Becken des Alten Hafens. Hinter dem Steuer Alain Danon, sehr tot, ein kleines Loch in der Stirn, ein großes in dem zerfetzten Hinterkopf. Gold und Rot. Rot und Gold. Das größte Verbrechen unserer Zeit – ungesühnt, unsühnbar, unfaßbar, kein Verbrechen mehr, weil es so groß ist. Alles, was sehr, sehr groß ist, ist unfaßbar, unstrafbar … Blau. Wundervolles Blau. ›Unsere‹ Kirche, sehr klein, in dem wilden Garten. Die vielen Ikonen. Angela und ich zünden Kerzen an vor einer schwarzen Madonna. Angela betet, ihre Lippen bewegen sich lautlos. Der junge Priester, der auf einem Motorrad davonfährt, in seiner Kutte, einen Gemüsekorb auf dem Gepäckträger. Und alles in Rot, Rot, Rot. Der Palast der Hellmanns. Kreisende Radarschirme. Arbeitende Großcomputer, Lichter flackern an ihren Schaltwänden. Ergaunert, erschoben, verkauft mit irrwitzigem Gewinn. Wer lacht da? Wer? Sanftes Pfirsichrosa. Die Bar im ›Club Port Canto‹. Angela singt für mich. ›Blowin’ in the wind.‹ Den deutschen Text: Wie viele Straßen auf dieser Welt sind Straßen voll Tränen und Leid …

Drei Fernsehgeräte laufen. Dreimal die Gesichter und Stimmen von Nachrichtensprechern. Britisches Pfund freigegeben. Praktisch Abwertung um acht Prozent. Generalstreiks. Geschlossene Banken. Private Düsenflugzeuge in Nizza. Ich weiß, wem sie gehören, o ja!

… wie viele Meere auf dieser Welt sind Meere der Traurigkeit … Angela singt, singt für mich.

Ein Saxophon. Ein Dolch. Ein Elefant. Der weiße Fleck auf Angelas Handrücken. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Niemals habe ich einen Menschen so sehr geliebt wie dich. Ich werde niemals mehr einen anderen Menschen lieben. Ich auch nicht, Angela, auch ich nicht. Sie auf ihrem Bett in ihrer Wohnung in Cannes, ich in meinem Zimmer im Hotel ›Intercontinental‹ in Düsseldorf. Zu unseren Füßen Lichter – die Lichter der Côte d’Azur, die Lichter des Flughafens Lohausen. Eine startende Maschine fliegt über mich hinweg. Uhr auf dem Nachttisch. 4 Uhr früh. Du bist alles, was ich habe auf der Welt. Tun Sie etwas! In Weiß. Tun Sie etwas! Das ist schlimmer, als es die Morde sind. Wie soll ich es verhindern, meine Herren! Ich bin allein, ich habe keine Macht. Wir haben auch keine. Sie haben Ihren Fahnder losgeschickt! Da ist er, in einem Strahlenglanz von Grün. Kessler. Hager, nahe der Pensionierung. Einer der besten Leute …

Angela singt: … Wie großes Unheil muß noch geschehn, bevor sich die Menschheit besinnt? …

Mörder … Wir alle sind Mörder …

Der betrunkene John Kilwood lallt.

Ja, Mörder, wir alle! Silbern und Schwarz: Mein Anwalt in Düsseldorf. Neblig trüb: Dr. Joubert vom Hôpital des Broussailles. Ertragen Sie die Wahrheit, Monsieur? Die ganze Wahrheit? Ja? Nun, dann …

Angela singt: … die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind, die Antwort kennt nur der Wind …

Dreizehn rote Rosen in meinem Hotelzimmer. Kuvert. Karte darin. Worte darauf: Je t’aime de tout mon cœur et pour toute la vie … Für das ganze Leben …

Das ist die ganze Wahrheit, Monsieur, Sie wollten sie hören … Ich danke Ihnen, Doktor Joubert …

… Wie viele Kinder gehn abends zur Ruh und schlafen vor Hunger nicht ein? … Die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind, die Antwort kennt nur der Wind, singt Angela in Purpur, in Purpur.

Niemals, niemals verläßt nun mehr einer den andern, solange er lebt, höre ich mich sagen. Und beginne wieder zu stürzen, in den Strudel, in den Strudel. Das ist schlimm. O, das ist eine solche Gemeinheit, daß ich nun doch …

Aus. Schluß. So also sieht das Ende aus!

Nein, noch einmal kehre ich zurück ins Leben.

Starkes Gerüttel. Ich wurde aus dem Helikopter auf eine Bahre gehoben. Viele Menschen in Weiß standen auf einem Dach, das der Landeplatz des Hubschraubers war. Ärzte. Schwestern. Angela. Die Bahre rollte los. Lifttüren auf. In den Lift hinein. Lifttüren zu. Wir sanken. Menschen um mich. Da war Angela. Geliebt. So sehr geliebt. Tränen rannen unaufhörlich über ihr Gesicht. Noch einmal hörte ich, was sie rief: »Gib nicht auf! Bitte, bitte, gib nicht auf! Du darfst nicht …«

Aus. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Und alles drehte sich immer schneller und schneller, rasend schnell. Ein sehr kalter Windhauch flog über mich hinweg. Und ich war wieder auf Fahrt, einer Meerfahrt, einer Nachtmeerfahrt. Kam nun der Tod? Kam er nun endlich? Nein, es kam nur eine neue Ohnmacht. Sieben Minuten hatte ich noch zu leben.

Als ich zurückkehrte, wurde ich gerade sehr schnell durch einen schier endlosen Gang gefahren, der wie ein Tunnel war. Viele Lichter brannten. Ich sah Angela nicht mehr. Stimmen erklangen, doch ich verstand sie nicht mehr. Ich schloß die Augen. Und da ertönte Angelas Stimme, überklar. Sie las mir ein Gedicht vor. Nackt saß sie vor mir auf ihrem Bett, auf dem ich nackt lag. Durch das Fenster kam erstes rosiges Morgenlicht. Es war ein Gedicht von einem Amerikaner, das wußte ich, Angela las die deutsche Übersetzung. Aber ich wußte nicht, und ich erinnerte mich, daß ich es damals auch nicht gewußt hatte, wie der Autor hieß.

Angelas Stimme: »Von wildem Lebensdrang, von Furcht und Hoffnung frei …«

Wieder wurde ich umgebettet. Etwas riß knirschend. Mein Hemd. Etwas blendete mich. Eine Riesenscheibe. In ihr viele grelle Lampen, direkt über mir. Menschen mit Gesichtsmasken und weißen Kappen auf dem Haar. Neigten sich herab …

»… der Gottheit sage Dank, wer immer dein Gott auch sei …«

Einstich einer Nadel in meine rechte Armbeuge.

Immer leiser wurde Angelas Stimme: »… daß jedem Leben ein Schluß, keinem Toten je Wiederkehr …«

Die Farben! Die Farben! Nun waren sie alle gemeinsam da in einer Phantasmagorie der Schönheit. An meinen Armen fühlte ich Gegenstände, welche lasteten. Etwas wurde über mein Gesicht gepreßt. Es ertönte ein dünnes Zeichen. Wundervoll waren die Farben. Solche gab es nicht auf unserer Welt.

Sehr leise war nun Angelas Stimme: »… daß auch der müdeste Fluß seinen Weg einst findet zum Meer …«

Das Zischen wurde stärker. Und auf einmal sah ich ihn. Er wand sich durch eine mit Blumen bedeckte Wiese, dieser müdeste aller Flüsse. Ich merkte, daß glatte Finger meinen Körper berührten und etwas Eiskaltes, Scharfes meine linke Brustseite. Und da auf einmal wußte ich, was für ein Fluß das war. Es war der Fluß Lethe in der Unterwelt, der das Reich der Lebenden trennt vom Reiche der Toten, der Fluß Lethe, aus dem die Seelen der Verstorbenen Vergessenheit trinken. Ich dachte erstaunt: Die Ufer des Flusses Lethe haben besonnte Ufer.