image

Über den Autor

Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit auf verschiedenen Feldern der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religions- und Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.

Zum Buch

Schreibe auf, was du siehst und hörst!“ Dieser inneren Weisung ist die rheinische Seherin Hildegard gefolgt. Entstanden ist der Fundus eines umfangreichen, spirituell gedeuteten, natur- und menschenkundlichen Wissens, das sie in ihren Schriften bild- und symbolhaltig ausbreitet. Darin unterscheidet sie sich von anderen Mystikerinnen ihrer Zeit. Im übrigen erweist sich Hildegard als eine ebenso kundige wie selbstbewusste Frau. Ihre Aktualität und Faszination rühren nicht zuletzt daher, dass sie sich über die Beschaffenheit ihres Schauens Klarheit verschafft hat und darüber Rechenschaft ablegt:

„Ich sehe diese Dinge nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren, auch nehme ich sie nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr noch durch irgendwelche Vermittlung meiner fünf Sinne. Ich sehe sie vielmehr einzig in meiner Seele, mit offenen leiblichen Augen, so dass ich niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide.“

Als rheinische Seherin, als heilkundige Vertreterin einer den materiellen wie spirituellen Kosmos einbeziehenden Mystik hat sie einen immer noch wachsenden Kreis von Verehrerinnen und Freunden gewonnen. In ihrem ersten großen, der geistigen Schau entsprungenen Werk Scivias – Wisse die Wege bezeugt sie dies. Ein Teil der Texte wird hier kommentiert geboten. Hinzu treten ausgewählte Briefe, in denen Hildegard ihr inneres Erleben schildert. Darüber hinaus ist es erstaunlich, ja bewundernswert, mit welchem Selbstbewusstsein sie als Ordensfrau des hohen Mittelalters Vorgesetzten, selbst Bischöfen und Päpsten, auch Kaisern wie Friedrich Barbarossa belehrend, nicht selten auch mahnend entgegentritt.

Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen

Ausgewählt von
von Gerhard Wehr

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Hildegard empfängt eine göttliche Inspiration und gibt sie an ihren Schreiber weiter, Miniatur aus dem Rupertsberger Codex des Liber Scivias, Buchmalerei, um 1150, ehemals Wiesbaden, seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0304-5

www.marixverlag.de

INHALT

I. Einleitung

Eine faszinierende Frau

Das 12. Jahrhundert – ein Jahrhundert vielfältigen Geistes

Stationen ihres Lebens

Schriften, Briefe und Lieder

„O edelstes Grün aus der Sonne“

Hildegards Wirkungen

II. Texte

Aus: „Scivias“ – Wisse die Wege

Vorrede – „Schreibe, was du siehst und hörst!“

Der Lichtherrliche

Jenseits von Eden

Mensch und Kosmos

Von der Seele und ihren Kräften

Die umschattete Synagoge

Erlösung und Vollendung

III. Die Briefe

Hildegard an Wibert von Gembloux

Hildegard an Bernhard von Clairvaux

Bernhard von Clairvaux an Hildegard

Hildegard an Papst Alexander III

Konrad III. an Hildegard

Hildegard an König Konrad III

Hildegard an Friedrich Barbarossa

Friedrich Barbarossa an Hildegard

Hildegard an Friedrich Barbarossa

Erzbischof Heinrich von Mainz an Hildegard

Hildegards Antwort

Erzbischof Arnold von Mainz an Hildegard

Hildegards Antwort

Adam, Abt zu Ebrach, an Hildegard

Hildegards Antwort

Abt Nikolaus von Heilsbronn an Hildegard

Hildegards Antwort

Hildegard an Elisabeth von Schönau

Elisabeth von Schönau an Hildegard

Hildegard an Elisabeth (II)

Elisabeth an Hildegard (II)

Hildegard an die Nonnen von Zwiefalten

Hildegard an Markgräfin Richardis von Stade

Erzbischof Hartwig von Bremen an Hildegard

Hildegards Antwort

Schlussbemerkung

IV. Stimmen und Zeugnisse zu Hildegard

V. Zeittafel

VI. Literatur

Benutzte Werkausgaben

Weitere zitierte Quellentexte

Sekundärliteratur

I. EINLEITUNG

EINE FASZINIERENDE FRAU

Von Hildegard, der Benediktinerin vom Rupertsberg bei Bingen, geht seit Langem weltweit eine eigentümliche Faszination aus. Sie gilt als eine Lichtgestalt des europäischen Mittelalters. Man rühmt sie als „Schwester der Weisheit“, als „Theologin der Weiblichkeit“, als „Sibylle vom Rhein“, vertraut mit den Kräften und Geheimnissen der von Gott durchwirkten Schöpfung. Dieser seherisch begabten Frau, der sich Hilfe- und Ratsuchende zeitlebens anvertraut haben, schreibt man bis heute ein spirituelles, zugleich lebenspraktisches Heilungs- und Heilswissen zu, das in zahlreichen, ursprünglich lateinisch abgefassten, vielfach übersetzten Werken niedergelegt ist. Zwar hatte man sie samt ihrem reichen literarischen Nachlass einige Jahrhunderte hindurch beinahe vergessen, teils verdrängt, teils verkannt und gering geachtet. Aber ihre Wiederentdeckung in Gestalt einer – freilich nicht immer ganz unproblematischen1 – Hildegard-Renaissance stellte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein. Die internationale Hildegard-Forschung, die in einem wesentlichen Teil von Benediktinerinnen im Kloster Eibingen getragen wird, und eine praxisbezogene Hildegard-Rezeption ergänzen einander. Viele lassen sich heute durch die „Hildegard-Medizin“, ja sogar durch eine Art „Hildegard-Küche“ anregen, ohne freilich zu ahnen, in welchem spirituellen Kontext und vor welchem tiefen geistlichen Horizont ihr Denken und Tun verstanden werden muss. Doch auch Heilige sind nicht vor einer im Vordergründigen bleibenden Vermarktung geschützt.

Man ordnet die durch das Charisma des prophetischen Wortes Ausgezeichnete zwar in die erste Reihe der deutschen Mystikerinnen ein. Dabei hat sie als eine Mystikerin ganz eigener Prägung zu gelten. Das zeigen ein Vergleich mit vielen anderen geistbegabten Frauen und Männern der Christenheit und nicht zuletzt ihr reichhaltiges Lebenswerk, ihre aus der geistigen Schau geschöpften Schriften. Dafür spricht die darin sich offenbarende Lebensnähe, die Unmittelbarkeit und Konkretheit, mit der sie die gottgeschaffene Welt in all ihren Kräften und die Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen bezeugt sieht. Insofern ist Hildegard so ganz anders geartet als viele ihrer mehr nach innen gekehrten oder durch Ekstasen ergriffenen Zeitgenossinnen, seien es ihre mit ihr befreundete Landsmännin Elisabeth von Schönau oder Herrad von Landsberg, die Äbtissin auf dem elsässischen Odilienberg. Eigengeprägt steht sie späteren Mystikerinnen wie der vom Feuer der Gottesliebe durchglühten Mechthild von Magdeburg gegenüber. Wo sich andere Mystik-Erfahrene, wie etwa Meister Eckhart, der „Gottesgeburt im Seelengrund“ zuwenden oder wie Heinrich Seuse einer frommen Innerlichkeit anheimgeben, da öffnen sich der Benediktinerin vom Rupertsberg tiefe kosmische Sphären. Gleichzeitig nimmt sie die geheimnisvollen Signaturen wahr, welche die schaffende Gottheit allen Kreaturen eingeprägt hat. Vor allem weiß sie heilkundig mit all dem umzugehen, was ihr sowohl aus der antiken und klostermedizinischen Tradition wie aus der Unmittelbarkeit der Geistesgegenwart zugeflossen ist. Insofern ist Wesentliches, was man in ihren Schriften findet, bereits aus einem reichen Fundus der Überlieferung geschöpft.

Doch was lässt eine Frau des hohen Mittelalters, deren Leben seit früher Kindheit großenteils hinter Klostermauern ablief, noch heute „interessant“ erscheinen? Das dürfte erst annähernd deutlich werden, wenn man sich vor Augen führt, was es heißen mag – ebenfalls seit Kindheitstagen –, mit der Gabe visionärer Wahrnehmung ausgestattet zu sein. Wenn man sich mit Hildegards bisweilen auch einigermaßen befremdenden Einsichten und Aussagen bekannt macht, so stammen sie – von uns durch ein Jahrtausend getrennt – offensichtlich aus einer ganz anderen Welt. Vieles mutet einem Menschen der nachko-pernikanischen Zeit befremdlich an. Elementares Erleben und bildmächtige Deutung verlangen in der Gegenwart eine besondere, vielen heute nicht mehr zugängliche Weise des Verstehens. „Nicht das Werk selbst ist also modern, sondern es ist streckenweise für moderne Lesarten offen …Verschiedene Stellen des Werkes lassen sich heute durchaus auf ökologische und feministische Fragestellungen hin lesen, auch wenn dessen Autorin … keine Ökologin und auch keine Feministin sein kann.“2 Aber sollte es ausreichen, bei flüchtigem Hinsehen lediglich „aktuelle Bezüge“ festzustellen, indem man bewundert, was alles Hildegard bereits gewusst oder erkannt haben mag? Hildegards Schriften verlangen eine ebenso aufmerksame wie sinnende Betrachtung, bei der die sinnliche Erscheinung und deren geistlich gedeuteter Gehalt als eine Einheit begriffen werden müssen: als Botschaften aus einer Epoche, die ein völlig anderes Gottes- und Wirklichkeitsbild hatte.

Wer daher in Hildegard lediglich eine in sich gekehrte, etwa nur der frommen Übung hingegebene, insbesondere als Frau zu Armut, Gehorsam und Zurückhaltung verpflichtete Nonne vermuten sollte, der wird alsbald eines Besseren belehrt. Hildegard muss man sich durchaus als eine aktive, als eine lebenskundige, eine mit Natur, Mensch und Welt, der Welt Gottes, vertraute, zugleich selbstbewusste Frau vorstellen. Sie kennt sich mit Steinen, Pflanzen, mit allen Formen des Lebendigen aus, um – wie vor ihr keine andere – als Ärztin und Apothekerin dem leidenden Menschen gleich welchen Standes mit Rat und Hilfe beistehen zu können. In ihren theologischen, natur- und lebenskundlichen Schriften entwirft sie – ganz ohne systematisierende Absicht – ein umfassendes, symbolisch gefülltes Bild des physischen wie des bis in die Engelssphären hinaufreichenden spirituellen Universums. Die Widersachermacht in Gestalt des drachenhaften Teufels ist für Menschen des Mittelalters eine nicht zu leugnende Realität! Im Zentrum dieser dennoch von Ordnung und Harmonie durchwalteten Schöpfung nimmt sie die der Sonne, dem Gold und dem Quellgrund der Natur verwandte „heilige Grünheit“ (sancta viriditas) als ein geistleibliches Lebenselixier und als eine ebenso subtile wie konkrete Wirklichkeit wahr. Davon muss noch gesondert gesprochen werden.

Als Äbtissin zeigt sie sich zur Menschenführung, zur Gründung und Leitung eines Frauenklosters befähigt, und dies bis in ihr hohes Alter hinein. Keine Frage: Innere wie äußere Bewegtheit bestimmen ihr reich angefülltes Leben, in dem Widerspruch und Belastungen aller Art nicht fehlen. Ausgedehnte Predigtreisen gehören – erstaunlich für eine Frau des hohen Mittelalters – wie selbstverständlich zu ihrem geistlichen Arbeitspensum dazu. So hat sie weite Strecken zu Pferd, zu Schiff und zu Fuß angesichts der damaligen Schwierigkeiten zu bewältigen. Als eine des Wortes mächtige Frau, wodurch sie zur „Prophetin“3 qualifiziert war, scheut sie sich nicht, selbst kirchlichen Würdenträgern zu sagen, was ihr über sie innerlich anvertraut ist. Solche Reisen führen sie von Mainz mainaufwärts nach Franken, an Wertheim, Würzburg und Kitzingen vorbei in die Bischofsstadt Bamberg. Auch in dem Steigerwaldkloster Ebrach hat sie Abt Adam samt seinen Mönchen zu beraten. Das zeigen einige Briefe. Rheinabwärts gelangt sie bis Köln und ins Siegerland, dann nach Lothringen und Schwaben, zu den Klöstern Maulbronn, Hirsau und Zwiefalten.

Einige hundert ihrer großenteils erhaltenen Briefe sorgen darüber hinaus für den geistig-geistlichen Austausch. Die Schreiben belegen, dass Hildegard nicht zögert, mit Bischöfen und Päpsten, Königen und Kaisern Kontakt aufzunehmen. Bisweilen geht die Initiative von den Genannten aus. Von Fall zu Fall hält sie nichts zurück, die moralische Verkommenheit der „Geistlichkeit“ anzuprangern und selbst hohen weltlichen Regenten ins Gewissen zu reden. Das geschieht mit der ihr eigenen prophetischen Vollmacht. Darüber ist nicht zu vergessen, dass die überaus rührige Frau ein inneres, dem Gebet und der Mystik hingegebenes Leben führt, angefangen beim täglichen Stundengebet und der Regel ihres Ordensvaters Benedikt von Nursia bis hin zu weiteren liturgischen und gottesdienstlichen Obliegenheiten samt dem regelmäßigen Empfang des Sakraments, der Eucharistie. Das Charisma der Vision, das heißt der übersinnlich-geistigen Schau und all dessen, was ihr intuitiv gegeben ist, bringt dieser bedeutenden Zeitgenossin Kaiser Friedrichs I., des Barbarossa, den Titel der prophetissa teutonica ein. Diese Charakteristik ist ihr bis heute geblieben. Mit einem Wort, das sich Unzählige in ähnlicher Weise zu eigen gemacht haben, bringt es Udo Kern zum Ausdruck: „Hildegard von Bingen gehört zu den größten Frauen des Mittelalters.“ Dazu ergänzt die Hildegard-Expertin Ingrid Riedel, Theologin und Psychotherapeutin:

„Ein alles durchwirkender Zug in Hildegards Spiritualität, der mir nun allerdings als ein eminent weiblicher erscheint, ist der zu einer verbindenden und vernetzenden Schau aller Kräfte und Gegenkräfte, die das Universum in dialektischer Spannung zusammenhalten und dem der Mensch ausgesetzt ist, passiv und aktiv, als Mitleidende, aber auch berufen zu verantwortlicher schöpferischer Mitgestaltung.“4

Keine Frage: Hildegard von Bingen verkörpert in mehrfacher Hinsicht eine Wundererscheinung ihres, des 12. Jahrhunderts. Ihre Ausstrahlung hat aber auch nach den mittlerweile verstrichenen acht Jahrhunderten noch nicht aufgehört, auf Menschen der Gegenwart zu wirken, die dabei sind, eine neue Beziehung zum Menschsein wie zu einem verantwortlichen In-der-Welt-Sein zu gewinnen.

Darüber ist nicht zu vergessen, aus welcher oft gefährdeten gesundheitlichen Situation heraus Hildegard ihren Lebensalltag zu meistern hatte. Wir hören von Zeiten der Krankheit und kräftemäßiger Überforderung als berufstätiger Frau im Kreise ihrer Schwestern. Noch im vorgerückten Alter musste sie, oft in unwirtlichen Gegenden, den Strapazen des wochen- und monatelangen Unterwegsseins gewachsen sein. Aber gerade diese Erfahrungen körperlicher Belastung und Schwäche waren geeignet, ihre Sensibilität und Empathie als Ärztin dem leidenden Mitmenschen gegenüber noch zu steigern. Sie selbst empfand jede Wiedergenesung als ein Geschenk neuer Teilhabe am Leben.

DAS 12. JAHRHUNDERT – EIN JAHRHUNDERT
VIELFÄLTIGEN
GEISTES

Hildegard wird auf der Schwelle zum 12. Jahrhundert in eine unruhige, von kirchengeschichtlich bedeutsamen Ereignissen und Bewegungen geprägte und erregte Zeit hineingeboren. Dank des hohen Lebensalters von etwa 81 Jahren, das sie erreichen sollte, kann sie über weite Strecken als Zeitzeugin dieses Jahrhunderts gelten, auch wenn ihr infolge der äußeren Umstände nur Weniges von den Vorgängen, und dies oft nur vom Hörensagen her, bekannt geworden sein wird.

Als sie das Licht der Welt erblickt, haben sich – ausgerufen durch Papst Urban II. – die ersten Kreuzfahrer (1096–1099) aufgemacht, um das Heilige Land von den Muslimen zu befreien und die Stätten des Urchristentums für die christlichen Pilger zugänglich zu halten. Das gelingt, wie sich zeigen sollte, allenfalls nur für eine begrenzte Zeit. Einer ihrer späteren Anführer ist kein Geringerer als Kaiser Friedrich I., der Barbarossa, der auf die Rupertsberger Nonne aufmerksam geworden ist, welche sich ihrerseits berufen fühlt, an dessen Religionspolitik offen Kritik zu üben. Und als Kreuzzugsprediger fungiert kein Geringerer als Bernhard von Clairvaux (1090–1153). Geistliche Ritterorden entstehen, deren Mitglieder die religiösen Gelübde eines Mönches mit dem Einsatz des Schwertes zu verbinden hatten.

Die Einsicht in die Erneuerungsbedürftigkeit der Kirche (Ecclesia semper reformanda) manifestiert sich unter anderem in Gestalt einer Reihe von Reformorden, allen voran der Zisterzienser mit Bernhard von Clairvaux und auch des Prämonstratenserordens. Zwar hat das klassisch-abendländische Mönchtum der Benediktiner nach wie vor große Bedeutung und allgemeine Anerkennung behalten. Aber das Bedürfnis, von Neuem zu den ursprünglichen Idealen eines Lebens in der Christusnachfolge in noch größerer Entschiedenheit zurückzukehren, tritt bei den Zisterziensermönchen von Citeaux in markanter Weise zutage.

Der neue Orden ist beispielsweise bestrebt, sich von den im Kloster Cluny beachteten feudalen Bindungen samt den dazugehörigen Privilegien in gewisser Weise zu lösen. Den Reformbereiten geht es darum, bei allem selbstverordneten Verzicht und unter Beachtung einer asketischen Lebensführung zur körperlichen Arbeit zurückzukehren. Noch sind weite Gebiete von Wäldern überzogen, Sümpfe sind trockenzulegen, um sie für die Gewinnung von Ackerland fruchtbar zu machen. Das benediktinische „Bete und arbeite“ (ora et labora) in seiner Doppelfunktion ist keinesfalls zu relativieren. Aber die Zisterzienser beginnen den Akzent wieder stärker auf das angestrengte Arbeiten zu verlegen, wie es etwa Pionieren obliegt.

Es ist Bernhard von Clairvaux, der die ursprüngliche Benediktus-Regel auf seine Weise wiederzubeleben und von Neuem in Kraft zu setzen sucht. Mit einem Wort: „Die Dynamik der Ausbreitung wurde bis zur Jahrhundertmitte von der Persönlichkeit Bernhards von Clairvaux bestimmt.“5 Er ist es auch, der zu den Leuchten der mittelalterlichen Mystik gehört und der – das „Lob der neuen Ritterschaft“ (De laude novae militiae) anstimmend – sich gleichzeitig als Kreuzzugsprediger betätigt.6 1118/19 schließen sich die von ihm befürworteten Templer zu einer eigenen, die Rittertugenden und die mönchischen Gelübde beachtenden Ordensgemeinschaft zusammen. Sie stellen den ersten dieser geistlichen Ritterorden dar.7

Im Süden Frankreichs, und nicht nur dort, hat sich im selben Zeitabschnitt eine Ketzerkirche gebildet, die den traditionellen Inhabern der kirchlichen Autorität gefährlich zu werden droht. Und schon machen sich die Inhaber der geistlichen wie der weltlichen Macht daran, den Katharern (Albigensern) in einem mit Rücksichtslosigkeit geführten Kreuzzug eigener Art, das heißt: mit Feuer und Schwert, zu begegnen, sie schließlich zu vernichten.8 Hildegard ist ebenfalls um ihre Kirche und deren Ordnung besorgt, gilt es doch einerseits die Integrität und Glaubwürdigkeit ihrer Geistlichkeit aufrecht zu erhalten, andererseits der Herausforderung derer entgegenzuwirken, die als „die Reinen“ (katharoi) eine dogmatische wie ethische Alternative zur herkömmlichen Kirchlichkeit anbieten. Die dualistische, eine strenge Trennung zwischen dem Geistigen und dem Irdisch-Geschöpflichen betonende Spiritualität steht freilich im fundamentalen Widerspruch zu Hildegards die gute Schöpfung Gottes bejahender Geistes- und Lebenshaltung.

Das 12. Jahrhundert ist jedenfalls auch ein Jahrhundert der Frömmigkeit, der Gelehrsamkeit, der Theologie und der Mystik, nicht zuletzt eine Zeit, in der die Prophetie die Menschen bewegt. Anselm von Canterbury (1033–1109) sann über die Frage nach, warum die Menschwerdung Christi nötig gewesen sei (Cur Deus homo) und wie sich die Gottheit Gottes mit den Denkmethoden scholastischer Gelehrsamkeit „beweisen“ lasse. Wieder ist Bernhard gefragt. Er wird trotz von ihm selbst beklagter Arbeitsfülle und Unrast seinerseits zu einer weithin leuchtenden Gestalt der abendländischen Mystik. Es sind seine berühmten Predigten über das biblische „Hohe Lied“ Salomonis (Canticum canticorum), durch die er die mystische Frömmigkeit der Gottes- wie der Menschenliebe bereichert hat. An seine Seite treten Geistesverwandte wie Wilhelm von Saint-Thierry und die Viktoriner-Theologen, nämlich die Mönche Richard und Hugo von Sankt Viktor bei Paris. In Deutschland lassen sich Rupert von Deutz (gest. 1130) und Gerhoch von Reichersberg (gest. 1169) als beispielhafte Repräsentanten geistlichen Lebens dieses Jahrhunderts nennen.

Was die im 12. Jahrhundert ebenfalls bedeutsam gewordene Prophetie anlangt, so ist hier vor vielen anderen der aus dem süditalienischen Kalabrien stammende Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore (1130/35–1202) in Erinnerung zu rufen. Der von ihm abgeleitete Florenserorden gelangte zwar zu einer gleichwohl reformorientierten Eigenständigkeit gegenüber Benediktinern und Zisterziensern. Auf Jahrhunderte hinaus bedeutsam sollte aber werden, was Joachim in einer geistigen Schau empfangen hatte: Seine Vision besteht in einer groß angelegten und zeitlich weit gespannten Geschichtstheologie. Nach einer Zeit des göttlichen Vaters (Altes Testament) und nach einer Zeit des Sohnes (Neues Testament) werde – für das Jahr 1260 verheißen – die Epoche bzw. das „Reich des Heiligen Geistes“ anbrechen, eine Zeit, in der das spirituelle Leben der Christenheit aufblühen werde.9 Von Joachim und seinem Schrifttum gingen nachhaltige Wirkungen aus, die bis zu jenen geistlichen wie säkularen Bewegungen ausstrahlten, die im Zeichen des „Prinzips Hoffnung“ (Ernst Bloch) für in die Zukunft gerichtete gesellschaftliche Entwürfe eingetreten sind.10

Und während Hildegard ihre eigenen beeindruckenden Texte diktiert, verfasst die erwähnte, ebenfalls dem Benediktiner-Orden verbundene Äbtissin Herrad von Hohenburg auf dem Odilienberg (gest. 1195) ihren Hortus deliciarum – auf der iberischen Halbinsel das Geistesgut der Antike dem Westen vermittelt haben, bedürfte in diesem kultur- und kirchengeschichtlichen Zusammenhang einer besonderen Darstellung.