Albrecht Müller Wolfgang Lieb

NachDenkSeiten

Das kritische Jahrbuch 2012/2013

W E S T E N D

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ISBN 978-3-86489-030-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012

Lektorat: Brigitte Baetz

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Wer nicht fragt, bleibt dumm – NachDenkSeiten klären auf

Vorwort von Prof. Dr. Christoph Butterwegge

1Vertrocknende Landschaften: Wie die EU zugrundegerichtet wird
  
2Merkel-Mogelei: Das Versagen der Teflon-Kanzlerin
  
3Krisengewinnler I: Die neoliberalen Populisten
  
4Krisengewinnler II: Die neoliberalen Wirtschaftsstrategen
  
5Kollateralschaden Sozialstaat: Wer nix hat, dem wird auch nix gegeben
  
6Der Letzte macht das Licht an: Wo bleibt die kritische Öffentlichkeit?
  
7Jetzt täte Opposition gut! Aber wo ist sie?
  
8Das kleine Pflänzchen Hoffnung: Bange machen gilt nicht!
  
9Zweimal zwei ist vier: Ökonomie ist keine Geheimlehre

Wer sind und was wollen die NachDenkSeiten?

Wer nicht fragt, bleibt dumm – NachDenkSeiten klären auf

Dieses Buch soll Ihnen helfen, Rätsel zu lösen. Das ist ernst gemeint. Denn die öffentliche Debatte wie auch die politischen Entscheidungen werden immer rätselhafter. Nach unserem Eindruck empfinden das immer mehr Menschen so. Sie durchschauen nicht mehr, was auf der politischen Ebene gespielt wird, was hinter tiefgreifenden politischen Entscheidungen steckt und vor allem welche Auswirkungen die derzeitige Politik auf sie selbst haben wird. Können Sie sich zum Beispiel erklären, warum bei uns seit Jahren ununterbrochen »gespart« wird (und zwar meist auf Ihre Kosten) und die Schulden des Staates dennoch ständig steigen?

Was passiert eigentlich, wenn die Eurozone auseinanderbricht? Welche Folgen hat es, nicht nur für die Menschen der betroffenen Länder, sondern auch für uns, wenn ein europäisches Land pleitegehen sollte? Kann eine Krisenbewältigungspolitik richtig sein, die ganze Nationen in Not und Elend zwingt? Wie sollen Schuldnerländer ihre Schulden jemals zurückzahlen können, wenn ihre Wirtschaft abgewürgt wird? Wie ist es überhaupt zu den hohen Schulden gekommen? War es wirklich ein Erfolgsmodell, dass die deutsche Exportwirtschaft über Jahre hinweg immer mehr Überschüsse und damit immer mehr Forderungen gegenüber den Nachbarn aufgebaut hat und sich nun wundert, dass die daraus erwachsenen Schulden irgendwann nicht mehr bedient werden können? Müssen wir Deutsche wirklich für diese Schulden anderer bluten?

Muss es wirklich so sein, dass die Arbeitnehmer in Deutschland, nachdem sie jahrelang mit Lohneinbußen und Sozialabbau »unter ihren Verhältnissen« leben mussten, nun nicht nur für die Rettung der Banken, sondern auch noch für die Schulden anderer Länder gerade stehen müssen? Warum sperrt sich beispielsweise die deutsche Bundesregierung gegen einen direkten Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (oder wenigstens über den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM)) und überlässt damit das Feld den Spekulanten, wo doch die Notenbanken in Großbritannien, in den USA und in Japan in Krisenzeiten selbstverständlich durch Interventionen auf den Finanzmärkten der Spekulation gar nicht erst Raum lassen? Warum sollen Banken, die das Geld zu Niedrigstzinsen bei der Zentralbank leihen, noch ein leichtes Geschäft daraus machen dürfen, dass sie dieses billig geborgte Geld an in Not geratene Länder zu Höchstzinsen weiterverleihen?

Warum buhlt die Politik nur noch um das »Vertrauen der Märkte«, wo doch – wie die Finanzkrise für jedermann erkennbar bewiesen hat – gerade die Märkte total versagt haben? Kann es gut und richtig sein, dass die Demokratie in Europa den gescheiterten Märkten »marktkonform« untergeordnet wird?

Solche und viele andere Fragen mehr haben Sie sich sicher auch schon gestellt und es blieb Ihnen genau wie uns rätselhaft, welche Antworten die bisherige Politik darauf gegeben hat. Sie fragten sich vielleicht auch, warum ein europäischer Gipfel nach dem anderen folgen musste, um die vorausgegangenen Entscheidungen ständig nachbessern zu müssen, ohne dass auch nur eine Beruhigung, geschweige denn eine Lösung in Sicht käme.

Angeblich vertritt und verfolgt ja die jeweilige Bundesregierung die Interessen der Deutschen. Sie hat mit den Hartz-Gesetzen die Löhne gedrückt und dafür gesorgt, dass sich der Niedriglohnsektor wie eine Seuche ausgebreitet hat. Sie hat Leiharbeit und befristete Arbeit bei Neueinstellungen zur Regel gemacht. Sie hat den Sozialstaat so »umgebaut«, dass die gesetzliche Altersversorgung zerstört wurde und die Arbeitslosenversicherung ihren Namen nicht mehr verdient, weil sie zum raschen Absturz der Arbeitslosen auf das Existenzminimum führt. Sie hat damit die Kaufkraft der deutschen Bevölkerung geschwächt, um unter der Preissteigerungsrate unserer Nachbarländer zu bleiben und damit deutsche Produkte im Ausland billiger angeboten werden konnten. Sie hat in einem regelrechten Wettlauf die Unternehmenssteuern gesenkt und die öffentlichen Haushalte ausbluten lassen.

Und das alles um die »Wettbewerbsfähigkeit« der deutschen Wirtschaft zu stärken.

Dass Wettbewerb innerhalb einer Währungsunion nicht nur Sieger haben kann, sondern eben auch Verlierer haben muss, daran denkt bis heute in der Regierung Merkel offenbar niemand. Im Gegenteil, das Niederkonkurrieren der anderen soll weitergehen. Die Privatisierung von Leistungen der Daseinsvorsorge wird vorangetrieben, obwohl es sich mehr und mehr zeigt, dass dadurch das öffentliche Angebot nicht nur – wie sich bei den Krankenhäusern zeigt – geradezu lebensbedrohend verschlechtert, sondern für alle dazu noch teurer wird. Trotz der schlechten Erfahrungen mit der Privatisierung der Altersvorsorge soll nun auch noch die Pflege von Hilfsbedürftigen privatisiert werden.

Diese deutschen Konzepte zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zwingt die Kanzlerin nun auch noch allen anderen europäischen Staaten auf. Das Ergebnis kann logischerweise nur sein, dass es der großen Mehrheit in ganz Europa schlechter geht, dass alle Arbeitnehmer geringere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen haben, dass sie alle gegen die großen Lebensrisiken schlechter abgesichert sind. Wer sollte bei diesem Wettlauf nach unten der Gewinner sein? Selbst wenn ganz Europa zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt ausgehungert wäre, dann würden doch die anderen Währungsregionen, um einer Überschuldung zu entgehen, schlicht ihre Währungen abwerten (müssen), und dann wäre die ganze europäische Hungerkur vergebens.

Manche unserer geplagten Mitbürgerinnen und Mitbürger ziehen aus diesem Irrsinn die Konsequenz, sich völlig aus dem politischen Leben zu verabschieden, sie gehen nicht einmal mehr wählen oder flüchten zu Protestparteien. Die Mehrheit vertraut den Politikern nicht mehr. Wieder andere verlassen sich einfach nur noch vertrauensselig auf Angela Merkel. Immer weniger Menschen können erkennen, was eigentlich die Opposition will oder was Steinmeier, Gabriel, Steinbrück oder Trittin von der Politik der Kanzlerin unterscheidet. Das Vertrauen in die Wirtschaft sinkt mehr und mehr, und der Finanzbranche traut ohnehin kaum noch jemand über den Weg. Auch die Glaubwürdigkeit der Medien schwindet. Da die herrschende Wirtschaftswissenschaft die Finanzkrise nicht einmal geahnt hat, geschweige denn danach Auswege aus der Krise aufgezeigt hat, hat sie ihren Vertrauenskredit verspielt. Fast 90 Prozent der Menschen sind der Ansicht, dass die Politiker die Wahrheit über die Krise verschleiern und drei Viertel fühlen sich in der Eurokrise mit ihren Interessen und Anliegen durch die Politik nicht mehr vertreten.

Wir verstehen die Reaktionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger nur zu gut und manchmal zweifeln auch wir, ob es überhaupt noch Sinn macht, sich jeden Tag neu mit Fakten und Argumenten gegen den scheinbar unaufhaltsamen Strom der Meinungsmache zu stemmen. Trotz dieser Selbstzweifel möchten wir unsere Leserinnen und Leser aufrütteln und anstiften, die Rätsel zu lösen, die uns die derzeitige Politik aufgibt, bevor sie sich einfach nur noch vom politischen Geschehen abwenden oder sich resignierend der herrschenden Meinung anschließen.

Vor allem auch für Menschen, die sich ihre Zweifel bewahrt haben und die auf der Suche nach Alternativen zu einer Politik sind, die erkennbar gegen die Wand fährt, schreiben wir. Wir wollen Ihnen allen helfen, das Rätselhafte zu verstehen und einzuordnen. Wir wollen Ihnen Material und Fakten an die Hand geben, sich ihre eigene Meinung zu bilden und zu bewahren.

Weil das Lesen im Netz für viele beschwerlicher ist als auf Papier und weil Sie vielleicht manche Texte aus dem letzten Jahr, die Sie für wichtig halten, lieber schwarz auf weiß in der Hand haben möchten, wollen wir Ihnen die NachDenkSeiten, die ja eigentlich ein Kind des Internets sind, nun schon im sechsten Jahr zumindest in Auszügen auch in einem Buch zur Verfügung stellen. Vielleicht können Sie das Jahrbuch 2012/2013 auch nutzen, um Freunden und Bekannten Argumente an die Hand zu geben, die Sie persönlich auch teilen, und möglicherweise können Sie ihr Umfeld davon überzeugen, dass skeptisch zu sein und Rätsel zu lösen sich für uns alle lohnt.

Weil dann – und nur dann, wenn immer mehr Menschen zu zweifeln beginnen und darauf drängen, dass über politische Alternativen nachgedacht wird – die Chance besteht, dass die politischen Entscheidungen besser werden. Weniger teuer. Weniger ungerecht. Weniger gefährlich für uns alle.

Außer von uns beiden Herausgebern finden Sie in diesem Rückblick vor allem auch Beiträge von Jens Berger. Wir freuen uns darüber, dass er bei den NachDenkSeiten mitmacht. Sie werden bei der Lektüre merken, dass er die Gabe hat, falsche ökonomische Entscheidungen zu durchleuchten und komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge verständlich darzustellen.

Dankbar sind wir darüber hinaus einer Vielzahl von engagierten Menschen, die uns unterstützen und täglich Fakten, Material und Kommentare für die NachDenkSeiten liefern. Ohne ihr Engagement und vor allem auch ohne die finanzielle Unterstützung unserer Förderer wären die NachDenkSeiten nicht zu einer wahrnehmbaren Stimme einer demokratischen Gegenöffentlichkeit geworden. Dieses Buch ist also ein Gemeinschaftswerk von vielen, die für eine bessere Politik eintreten und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgegeben haben. Die demokratische Gegenöffentlichkeit ist größer, als man denkt, und immer mehr Menschen empören sich.

Viele Nachdenkanstöße und viele Angebote zur Lösung der täglichen Rätsel, die uns die gegenwärtige Politik aufgibt, erhoffen sich die Herausgeber dieses Buches und der kritischen Website www.NachDenkSeiten.de.

Albrecht Müller und Wolfgang Lieb

Vorwort

Von Christoph Butterwegge

I

Als jahrzehntelang an Hochschulen tätiger Politikwissenschaftler, dessen Hauptforschungsgebiete der Sozialstaat, seine Umstrukturierung nach neoliberalen Konzepten, die dadurch vermehrte Armut sowie der auf diese Weise geförderte Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt sind, beobachte ich seit geraumer Zeit, dass die soziale Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten gleichermaßen zunehmen, aber im gesellschaftlichen Diskurs und in den Massenmedien entweder gar nicht oder nur als Randnotizen vorkommen. Inhalte, die der Mehrheitsgesellschaft und damit auch der etablierten Politik einen kritischen Spiegel vorhalten, werden ungern behandelt. Mehr noch, sie werden mit einem Tabu belegt und aus der öffentlichen Debatte verdrängt.

Nicht bloß die Boulevardpresse macht gegen sozial Benachteiligte oft Stimmung auf Stammtischniveau. Manchmal ist selbst dann von »Parasiten« und »Sozialschmarotzern« die Rede, wenn verfassungsmäßig verbürgte Grundrechte in Anspruch genommen werden. In einer Gesellschaft, deren Leitbild bestimmt, dass »jeder seines Glückes Schmied« ist, werden die Benachteiligten zu Störenfrieden erklärt und aufgrund ihres persönlichen (Sucht-) Verhaltens selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht, wohingegen die gesellschaftlichen Eigentums-, Machtund Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet werden.

Da den gesellschaftlichen Eliten bzw. jenen Personengruppen, die sich dafür halten, zunehmend jedes Mitgefühl gegenüber den »Verlierern« der kapitalistischen Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft fehlt und ein Großteil der Mittelschicht lieber der »Radfahrermethode« folgend nach unten tritt und nach oben buckelt, als die Profiteure des bestehenden Wirtschafts- und Finanzsystems für die immensen Kosten seiner Krisen haftbar zu machen, breitet sich in unserem Land wie fast überall soziale Eiseskälte aus. Die Armen haben in unserer Gesellschaft keine Stimme, von einer mächtigen Interessenvertretung ganz zu schweigen. Umso notwendiger sind die NachDenkSeiten, mit deren Hilfe auch sie zu Wort kommen bzw. ihren Interessen beredt Ausdruck verliehen wird. Ein besonderes Verdienst der NachDenkSeiten besteht nämlich darin, dass sie sozialpolitische Themen aufgreifen und mit Daten, Fakten und Argumenten jene Forderungen untermauern, die Erwerbslosenbewegung, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände erheben. Für alle, die den Erhalt und den Ausbau des Sozialstaates (etwa zu einer solidarischen Bürgerversicherung) verlangen, sind die NachDenkSeiten unentbehrlich.

Obwohl Helmut Schmidt den Sozialstaat in einem Gespräch mit dem TV-Talkmaster Günther Jauch am 23. Oktober 2011 als »größte kulturelle Errungenschaft der europäischen Länder im Laufe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet hat, begann er gegen Mitte der 1970er-Jahre als Bundeskanzler, ihn »um-« beziehungsweise abzubauen. Während der 1980er-Jahre vollzog sich in Westdeutschland unter seinem Nachfolger Helmut Kohl eine tiefgreifende soziale Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen, deren materielle Schlechterstellung zuerst im Gewerkschaftsbereich registriert und als »neue Armut« etikettiert wurde. Durch den Zusammenschluss von BRD und DDR am 3. Oktober 1990 bekam die Armut in Deutschland ein anderes Gesicht. Das soziale Problemfeld der Arbeitslosigkeit wie der Armut veränderte sich in seiner Struktur und verlagerte sich stärker nach Osten, wohingegen im alten Bundesgebiet zumindest manche Bewohner von einem mehrjährigen »Vereinigungsboom« profitierten. Die neue Armut war weder vorübergehender Natur, noch trat sie nur vereinzelt auf, sie war vielmehr ein Strukturproblem, das (in seiner ganzen Schärfe) entweder nicht erkannt oder bewusst negiert wurde.

Wer gehofft hatte, die 1998 entstandene rot-grüne Koalition werde eine Sozialpolitik machen, von der die Armen profitieren würden, sah sich getäuscht. (Langzeit-)Arbeitslose, Rentner/innen und Asylbewerber/innen blieben die Stiefkinder der Sozialpolitik: Sie kamen in der ganz auf Produktivität ausgerichteten, leistungs- beziehungsweise konkurrenzorientierten und auf die Verbesserung der Weltmarktposition des heimischen Kapitals fixierten Regierungspraxis von SPD und Bündnis 90/Die Grünen nur als »Kostenfaktoren auf zwei Beinen« vor. Erwähnt seien die Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch den damaligen Arbeits- und Sozialminister Walter Riester und die nach dem damaligen VW-Manager Peter Hartz benannten Arbeitsmarktreformen.

Die NachDenkSeiten haben die Riester-Rente sofort als gigantisches Subventionsprogramm für Finanzdienstleister, Banken und Versicherungskonzerne durchschaut. Eine kapitalgedeckte Altersvorsorge ist keine Lösung für das Problem der alternden Bevölkerung, sondern ähnlichen Risiken wie das bestehende Umlagesystem ausgesetzt, unterliegt jedoch – wie wir derzeit feststellen können – zusätzlich den Turbulenzen der Finanzmärkte und fördert sie. Pensionsfonds erhöhen das Anlagevolumen, wodurch die Gefahr zunimmt, dass sich Spekulationsblasen bilden. Wie der demografische Wandel, also die kollektive Alterung unserer Gesellschaft und die gleichfalls wenig dramatische Tendenz zum Bevölkerungsrückgang, instrumentalisiert wird, um die (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge beziehungsweise ihre Umstellung auf Kapitaldeckung durchsetzen zu können, und welche enorme Wirkungsmacht die Demografie als Mittel der sozialpolitischen Demagogie in weiten Kreisen der Öffentlichkeit entfaltete, haben die NachDenkSeiten herausgearbeitet.

Auch die sogenannten Hartz-Gesetze wurden als das entlarvt, was sie sind, nämlich ein gesellschaftspolitisches Großprojekt, welches das Versagen der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in ein persönliches Versagen umdefinierte und Erwerbslose in Arbeit zwingen sollte, egal zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis. Fälschlich als »Zusammenlegung mit der Sozialhilfe« bezeichnet, war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ein gravierender Rückschritt in der Entwicklung des Arbeits- und Sozialrechts. Im Unterschied zur früheren Arbeitslosenhilfe – einer den Lebensstandard sichernden und sich selbst Jahrzehnte später nach der Höhe des früheren Nettoverdienstes richtenden Lohnersatzleistung – soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende nur deren Existenz sichern. Das am 1. Januar 2005 eingeführte Arbeitslosengeld II würde besser »Sozialhilfe II« heißen, weil es nicht bloß Arbeitslose, sondern auch Geringverdiener/innen erhalten, und weil es genauso niedrig ist wie die Sozialhilfe. Hartz IV sollte durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, aber auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr »Beschäftigungsanreize« im untersten Lohnsegment schaffen und massiven Druck auf die Belegschaften ausüben, um das Lohnund Gehaltsniveau zu senken.

Mittlerweile ist der wachsende Niedriglohnsektor denn auch zum Haupteinfallstor für die Armut in Deutschland avanciert. Bis heute umstritten ist die Frage, ob die Grundsicherung für Arbeitsuchende nur vorher verdeckte Armut sichtbar gemacht oder neue Armut erzeugt hat. Vermutlich ist beides der Fall: Einerseits nahmen und nehmen das Arbeitslosengeld II auch viele Menschen, vor allem Geringverdiener/innen, sogenannte Freiberufler/innen und (Solo-)Selbstständige, in Anspruch, die aus Scham nicht zum Sozialamt gegangen wären, um »Stütze« zu beantragen, andererseits erhalten mehrere hunderttausend frühere Empfänger/innen von Arbeitslosenhilfe seither weniger oder gar kein Geld mehr, weil das Partnereinkommen (zum Beispiel gut verdienender Ehemänner und Lebenspartner) bei Hartz IV sehr viel strikter auf den Leistungsanspruch der Antragsteller/innen (überwiegend Frauen) angerechnet wird.

Nach Angela Merkels Wahl zur Bundeskanzlerin wurde Gerhard Schröders »Agenda«-Politik in einer Neuauflage der Großen Koalition in abgewandelter Form fortgesetzt. CDU, CSU und SPD wollten die Lebensarbeitszeit unter Hinweis auf den demografischen Wandel verlängern und 2007 – wie im Koalitionsvertrag angekündigt – die gesetzliche Grundlage für eine 2012 beginnende und für den ersten Jahrgang bis spätestens 2035 abgeschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre schaffen. Am 1. Februar 2006 preschte der damalige Arbeits- und Sozialminister Müntefering mit der Idee vor, das gesetzliche Renteneintrittsalter schneller anzuheben, als es die sogenannte Rürup-Kommission empfohlen und die Große Koalition vereinbart hatte: Nach dem auf Drängen des Vizekanzlers vom Bundeskabinett gefassten Beschluss erhöht sich das Regelrentenalter 2012 für den Geburtsjahrgang 1947 um einen und für Folgejahrgänge jedes Jahr um einen weiteren Monat, bis der Jahrgang 1958 im Alter von 66 Jahren eine abschlagsfreie Rente ab 2023 bezieht; für die Folgejahrgänge beschleunigt sich die Anhebung der Altersgrenze um jeweils zwei Monate pro Jahr, bis der Jahrgang 1964 bereits 2029 erst mit 67 Jahren in Rente gehen kann. Nur wenige Publikationsorgane, darunter die NachDenkSeiten, haben die neoliberale Standortlogik hinter der »Rente mit 67« erkannt und diese als verkappte Rentenkürzung und als Geschenk an die (Groß-) Unternehmen kritisiert.

Die nach der Bundestagswahl 2009 gebildete CDU/CSU/FDP-Regierung, von ihren Wegbereitern als »Wunschkoalition der bürgerlichen Mitte« tituliert, macht mehr denn je eine Politik nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben, und wer kaum etwas hat, dem wird auch das noch genommen. Einerseits sollten angeblich der »Wachstumsbeschleunigung« dienende »Korrekturen« der Unternehmen- und Erbschaftsteuerreform (zum Beispiel Rücknahme der »Zinsschranke«, der Mindestbesteuerung der Schlechterstellung von Geschwistern, Nichten und Neffen beim Erbschaftsteuersatz) sowie Entlastungen der Erben von Familienunternehmen (Verkürzung der Behaltensfrist und Absenkung der Lohnsumme, die zur Befreiung von der betrieblichen Erbschaftsteuer führt) die »Leistungsträger« belohnen und ihnen zusätzliche Profite ermöglichen. Andererseits wurde der Sozialabbau durch das im Sommer 2010 geschnürte »Zukunftspaket« (zum Beispiel Beschleunigung des Sturzes in die Armut durch Streichung des Zuschlages beim Übergang vom Bezug des Arbeitslosengeldes zum Bezug des Arbeitslosengeldes II, Anrechnung des Elterngeldes auf die Transferleistung und Ausschluss der Langzeitarbeitslosen aus der gesetzlichen Rentenversicherung) sowie die Hartz-IV-Neuregelung im Frühjahr 2011 (zum Beispiel Verschärfung der Sanktionen, Verzicht auf Regelsatzerhöhungen bei Kindern beziehungsweise Jugendlichen und Schaffung der Möglichkeit einer Pauschalierung von Miet- und Heizkosten) vorangetrieben.

II

Bei den kritischen Geistern unseres Landes haben sich die NachDenkSeiten nicht zuletzt durch ihre fundierte Kritik des Neoliberalismus einen Namen gemacht. Während sich der »klassische« Liberalismus als fortschrittliche Bewegung des Bürgertums in erster Linie gegen den Feudalstaat beziehungsweise seine Überreste richtete, bekämpft der Neoliberalismus – verstanden als eine Wirtschaftstheorie, Ideologie und politische Zivilreligion, die den Staatsinterventionismus zurückdrängen und den Markt zum universalen, alle Gesellschaftsbereiche übergreifenden Regulierungsmechanismus erheben möchte – vorrangig den Sozialstaat. Die NachDenkSeiten haben den sozialen Klimawandel, der durch die neoliberale Reformpolitik, die »Agenda 2010« und die Hartz-Gesetze eingeleitet wurde, früh als tiefe gesellschaftliche Zäsur erkannt und seine negativen Folgen für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland aufgedeckt.

Was gegenwärtig stattfindet, ist keineswegs der Nieder- oder Untergang des Neoliberalismus, seinem öffentlichen Abgesang zum Trotz. Kaum hatte die Finanzmarktkrise das neoliberale Projekt in der Praxis widerlegt und seine Vorherrschaft in der öffentlichen Meinung zumindest erschüttert, wehrten sich führende Repräsentanten dieser Richtung gegen angebliche Verteufelungsbemühungen und gingen zum argumentativen Entlastungsangriff beziehungsweise zur ideologischen Gegenoffensive über. Statt nachhaltig Lehren aus dem Krisenfiasko zu ziehen, tun neoliberale Professoren, Publizisten und Politiker/innen gern so, als hätten sie immer schon prophezeit, dass die Blase an den Finanzmärkten irgendwann platzen werde. Die meisten Hohepriester der Marktfreiheit weisen jede Mitschuld am Banken- und Börsenkrach von sich, sprechen in Anlehnung an John Maynard Keynes heute zum Teil selbst vom »Kasinokapitalismus« und erwecken damit den Eindruck, sie hätten womöglich eher als Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker/innen vor dessen schlimmen Auswüchsen gewarnt. Sehr geschickt nutzen prominente Neoliberale auch die TV-Talkshows und andere öffentliche Bühnen, um »der Politik« den Schwarzen Peter zuzuschieben. Entweder wird das Desaster auf die Fehlentscheidungen einzelner Personen (Spitzenmanager, Investmentbanker) oder auf das Versagen des Staates und seiner Kontrollorgane (Politiker, Finanzaufsicht) reduziert.

All das unterstreicht nur die fehlende Bereitschaft der verantwortlichen Politiker/innen wie Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, einen Kurswechsel zu wagen, und die Notwendigkeit für deren Kritiker/innen wie die NachDenkSeiten, inhaltliche und programmatische Alternativen zu erzwingen. Zwar befindet sich der Neoliberalismus in einer Legitimationskrise, seinen dominierenden Einfluss auf die Massenmedien und die öffentliche Meinung sowie die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse hat er bisher jedoch weder hierzulande noch im Weltmaßstab eingebüßt. Obwohl die Finanzmarktkrise von den angelsächsischen Musterländern einer »freien Marktwirtschaft« ausging, ist die neoliberale Vorherrschaft in der Bundesrepublik, der Europäischen Union und den USA vielmehr ungebrochen.

Ursächlich für die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg sind nicht bloß der Kapitalismus als solcher und die ihm eigene Tendenz zur Überakkumulation beziehungsweise Überproduktion im Rahmen »normaler« Konjunkturzyklen, sondern auch seine jüngsten Strukturveränderungen. Um die globale Finanz-, Weltwirtschafts- und Währungskrise der Jahre 2007 folgende erklären sowie ihre Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen begreifen zu können, muss man das Wesen und die spezifischen Charakterzüge des Gegenwartskapitalismus berücksichtigen. Zutreffend ist meist von »Finanzmarktkapitalismus« die Rede, für den nicht auf geregelten Märkten gehandelte Kapitalbeteiligungen (Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften) und Spekulationsblasen unterschiedlicher Art kennzeichnend sind.

Die meisten Debattenbeiträge zu möglichen Krisenursachen bleiben allerdings an der Oberfläche, statt bis zu den Wurzeln der Krisenhaftigkeit vorzustoßen. Wenn die globale Finanz-, Weltwirtschafts- und Währungskrise nicht einfach ignoriert oder in ihrer zentralen Bedeutung für das gesellschaftliche Leben relativiert wird, begreift man sie meistens entweder als eine Art Naturkatastrophe, die wie eine Sturmflut über die Weltwirtschaft hinweggefegt ist, oder als Folge des Versagens einzelner Personen, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden, sondern der »Verlockung des Geldes« erlegen sind. In diesem Zusammenhang werden vor allem der Größenwahn des Spitzenmanagements, die Gier der Boni in Millionenhöhe kassierenden Investmentbanker und der Börsenspekulanten sowie der Geiz von Großinvestoren für die Misere verantwortlich gemacht.

Die sogenannte Euro- beziehungsweise »Staatsschuldenkrise« ist eine mittelbare Folge und die Fortsetzung der Finanzmarktkrise

2007/08 auf einer anderen Ebene. Den eigentlichen Ausgangspunkt dieses Krisengeflechts bildete die staatlicherseits geförderte Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung. Da die Reichen immer reicher und die Armen zahlreicher geworden sind, haben einerseits die spekulativen Anlagen auf den Finanzmärkten neue Rekordhöhen erreicht, während andererseits die zur Stärkung der Binnenkonjunktur in Krisenphasen nötige Massenkaufkraft fehlt. Ähnliches gilt für die Krisenerscheinungen und Schuldenprobleme im Euro-Raum: Da die Bundesrepublik durch jahrzehntelange Reallohnsenkungen noch exportstärker geworden ist, haben andere EU-Länder, besonders die an der südlichen Peripherie gelegenen, ihr gegenüber so drastisch an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, dass sie ihre wachsenden Importe über Kredite finanzieren mussten.

Entscheidend ist letztlich immer, wer am Ende die Zeche zahlt: Während die das Krisendebakel wesentlich mit verursachenden Hasardeure und Spekulanten mittels des beim Bund angesiedelten »Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung« (SoFFin) und der »Euro-Rettungsschirme« (EFSF und ESM) aufgefangen werden, müssen die Arbeitnehmer/innen, Erwerbslosen und Rentner/innen der EU-Staaten jene Suppe, die Banker, Broker und Börsianer der gesamten Bevölkerung eingebrockt haben, einmal mehr auslöffeln.

Versagt haben in der jüngsten Bankenkrise nicht allein das Spitzenmanagement, die Aufsichtsräte und ihre politischen Kontrolleure in Regierung und Verwaltung, sondern auch die Medien als öffentliches Korrektiv, weil sie eng damit verquickt und fast ausnahmslos von der neoliberalen Pseudophilosophie und der alles beherrschenden Marktmythologie beseelt sind. Den am Krisenmanagement von Bundeskanzlerin Angela Merkel zweifelnden Menschen stehen nur wenige Informationsquellen zur Verfügung, die das Interessengeflecht zwischen Staat und Finanzwirtschaft durchdringen, Zusammenhänge herstellen und Hintergründe ausleuchten. Zweifellos gehören die NachDenkSeiten zu den Organen, die unabhängig über das Zeitgeschehen berichten, es kritisch beurteilen und es bissig kommentieren. Sie konnten allerdings nicht verhindern, dass Marktradikale, die nach dem Bankrott ihrer Liberalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte in Sack und Asche hätten gehen müssen, schnell wieder Oberwasser bekamen.

Selbst massive Staatseingriffe wie das im Oktober 2008 unter maßgeblicher Beteiligung von Spitzenvertretern des Bankenverbandes und der betroffenen Finanzinstitute geschnürte 480-Milliarden-Euro-Paket zur Rettung maroder Banken waren nunmehr erwünscht, weil hierdurch die Börsen stabilisiert und die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessert wurden. Dabei handelte es sich um einen »marktkonformen« Staatsinterventionismus im Sinne der Monopolwirtschaft und der privaten Großbanken, die entsprechende Konzepte selbst vorgeschlagen und teilweise gemeinsam mit den zuständigen Ministerien entwickelt haben. Kann man sich vorstellen, dass Ursula von der Leyen die erwähnte Hartz-IV-Neuregelung unter Mitwirkung von Arbeitslosenforen und Armutskonferenzen, also Initiativen direkt Betroffener, auf den Weg gebracht hätte?

Das für den Gegenwartskapitalismus kennzeichnende Kasino im Finanzmarktbereich wird derzeit nicht etwa – wie es zum Beispiel die globalisierungskritische Organisation attac verlangt – geschlossen, sondern mit Steuergeldern saniert und modernisiert. Enttäuscht wurde nicht bloß die Hoffnung auf einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, sondern auch die Hoffnung auf das Ende der neoliberalen Hegemonie im Geistesleben. Schließlich wäre die Vorstellung naiv, der Neoliberalismus hätte seine Macht über das Bewusstsein von Millionen Menschen verloren, nur weil sie um ihr Erspartes fürchten und mit ihren Steuergeldern für Spekulanten und Finanzjongleure einspringen müssen. Da die ökonomische, soziale und politische Krise als Drohkulisse beziehungsweise als Disziplinierungsinstrument benutzt wird, herrscht derzeit ein größerer Konformismus als je zuvor seit den späten 1960er-Jahren.

Der neoliberale Dreiklang von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung ist zwar durch die globale Finanz-, Wirtschaftsund Währungskrise in Verruf geraten, wird aber eine Renaissance erleben, wenn sich kein Protest dagegen regt. Die öffentliche Meinungsführerschaft derjenigen, die den Markt, Konkurrenz und privates Profitstreben ins Zentrum der Gesellschaftsentwicklung rücken, bleibt so lange ungebrochen, wie kaum konkrete und wissenschaftlich fundierte Gegenmodelle existieren. Umso notwendiger erscheint die intensive Beschäftigung mit den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzepten, die auf eine umfassende Deregulierung sowie eine weitgehende Privatisierung staatlicher (Groß-)Unternehmen, öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Risiken abzielen. Die NachDenkSeiten haben dem betriebswirtschaftlichen Tunnelblick, wie er für Neoliberale in allen Gesellschaftsbereichen typisch ist, stets eine klare Absage erteilt und vor dem Irrweg des angebotsorientierten Wirtschaftsdogmas gewarnt. Sie gehören zu den wenigen Stimmen in Deutschland, die trotz der Übermacht neoliberalen Denkens die Bedeutung der Nachfrage im Wirtschaftskreislauf nie aus dem Auge verloren haben.

III

Die soziale Frage ist zuletzt umso mehr auf der Strecke geblieben, je stärker »Rettungsschirme« für die Banken und den Euro (genauer: die Kapitalanleger) ins Zentrum der Politik gerückt sind. Mittlerweile beherrscht die Sorge um die Stabilität der europäischen Währung den öffentlichen Diskurs so einseitig, dass die Polarisierung in Arm und Reich aus dem Blick und die soziale Gerechtigkeit unter die Räder zu geraten droht. Zwar sind die Verelendungstendenzen hierzulande viel weniger dramatisch als etwa in Athen, wo 25 000 Obdachlose durch die Stadt irren und die Suppenküchen wie Pilze aus dem Boden sprießen. Aber auch die deutsche Gesellschaft zerfällt immer mehr. Beispielsweise beläuft sich das Vermögen der Familie Albrecht, Eigentümerin der Aldi-Ketten Nord und Süd, nach Angaben des US-Wirtschaftsmagazins Forbes mittlerweile auf 43,2 Milliarden US-Dollar. Die Familie Quandt-Klatten, zweitreichste der Bundesrepublik, hat 2012 allein aus BMW-Aktien 650 Millionen Euro an Dividenden erlöst. Gleichzeitig frisst sich die Armut immer mehr in die Mitte der Gesellschaft hinein. Knapp ein Viertel der Beschäftigten arbeiten mittlerweile im Niedriglohnsektor, verdienen also weniger als zwei Drittel des Durchschnitts. Dass circa 600 000 Haushalten pro Jahr der Strom und/oder das Gas abgestellt wird, zeigt zur Genüge, dass es auch in einem so reichen Land wie dem unseren Not und Elend gibt.

Ebenso wie die EU-Gipfeldiplomatie hinter verschlossenen Türen ist der Sozialabbau eine akute Gefahr für die Demokratie. Diese beinhaltet nämlich mehr als die Möglichkeit, alle vier oder fünf Jahre eine Wahlurne aufsuchen zu dürfen. Sie impliziert darüber hinaus, dass alle Wohnbürger/innen eines Landes über dessen Schicksal mitbestimmen können, also in die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Aber wie soll eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug, die am 20. des Monats für sich und ihre Kinder selbst dann kein warmes Essen mehr auf den Tisch bringt, wenn sie keiner Stromsperre der Stadtwerke unterworfen ist, Einfluss auf Regierungsbeschlüsse und Gesetzgebungsprozesse nehmen?

Wenn selbst Teile der gehobenen Mittelschicht die Angst vor dem sozialen Abstieg oder Absturz ergreift, wächst die Gefahr, dass sich Ausgrenzungsideologien wie Rassismus, Nationalismus und Sozialdarwinismus innerhalb einer Gesellschaft durchsetzen. Es war immer schon ein Kernbestandteil des deutschen Nationalismus, sich von aller Welt ausgenutzt zu fühlen. Obwohl es sich bei den »Euro-Rettungsschirmen« um Kredite beziehungsweise Bürgschaften handelt und sich die Bundesrepublik mittlerweile Geld auf den Finanzmärkten leihen kann, ohne dafür Zinsen entrichten zu müssen, fühlt sich Deutschland teilweise als Zahlmeister der EU und spielt sich dort als Zuchtmeister auf. Thilo Sarrazins neuester Bestseller Deutschland braucht den Euro nicht vermittelt den Eindruck, dass alle Völker nur unsere »harte« Währung wollen. Sarrazin knüpft einmal mehr geschickt an bestehende Ressentiments an und verbreitet Stammtischparolen. War es in seinem Buch Deutschland schafft sich ab das Klischee vom Hartz-IV-Empfänger, der nicht mit Geld umgehen kann, und vom Migranten muslimischen Glaubens, der faul in der Hängematte des Sozialstaates liegt, so fügt ihnen Sarrazin nun das Klischee vom faul in der Sonne liegenden und »unser sauer erarbeitetes Steuergeld« verprassenden Südländer hinzu. Er setzt seinen Feldzug fort, der in Richtung rechtspopulistischer Parteien weist, die ja in mehreren europäischen Ländern Aufsehen erregende Wahlerfolge feiern. Ein »seriöser Rechtspopulismus«, wie ihn Marine Le Pen in Frankreich zu verkörpern sucht, hat bei uns bislang keine Chance gehabt. Am ehesten kann wohl ein früherer Berliner Finanzsenator und Ex-Bundesbanker die Quarantäne durchbrechen, in der sich die extreme Rechte in Deutschland seit 1945 befindet. Sarrazin bereitet womöglich publizistisch vor, was später auch parteipolitisch mehr Erfolg haben und sich zu einer Gefahr für die Demokratie entwickeln kann.

Solche dunklen Seiten der Gesellschaftsentwicklung leuchten die NachDenkSeiten aus, ohne in Resignation oder in Pessimismus zu verfallen, machen vielmehr Mut zu politischem Engagement, indem sie zum Zweifel und zum eigenständigen Denken gegenüber dem gängigen Meinungsstrom anregen. Sie machen nachvollziehbar, warum es zu Strukturbrüchen etwa in der Rentenoder der Arbeitslosenversicherung gekommen ist, wie das Lohndumping zu den Leistungsbilanzüberschüssen geführt hat, durch die unsere europäischen Nachbarn in die Schuldenfalle gerieten, während ihre Volkswirtschaften gezielt »niederkonkurriert« wurden. Besonders rühmlich ist, dass sich die NachDenkSeiten nicht scheuen, in einem ideologisch verminten Gelände klar und deutlich Position zu beziehen, obwohl kritische Überlegungen angesichts des neoliberalen Mainstreams in Politik und (Fach-)Publizistik bisher noch auf zu wenig Resonanz stoßen.

Das neue Jahrbuch bietet einen kompakten Rückblick auf jene Fehler, die unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesregierung zur Eurokrise, zur Verelendung einiger südeuropäischer Staaten und hier wie dort zur Ausschaltung demokratischer Entscheidungsmechanismen geführt haben. Was von einem Krisengipfel zum anderen führen musste, zeichnen mehrere Beiträge nach. Sie enthüllen, wie das europäische Sozialmodell durch eine rücksichtslose Austeritätspolitik, die Parallelen zu den Notverordnungen des Reichskanzlers Heinrich Brüning im Endstadium der Weimarer Republik aufweist, ramponiert und die Demokratie in den EU-Mitgliedstaaten durch die strikten Vorgaben des Fiskalvertrages (»Schuldenbremse«) stranguliert wird.

Wer – wie ich – ein beinahe sinnliches Verhältnis zu Büchern hat und schon deshalb eher »Offliner« ist, bekommt durch das Jahrbuch wenigstens ausschnittsweise in gedruckter Form nachgeliefert, was die Besucher der NachDenkSeiten tagesaktuell aus dem Netz ziehen. Übersichtlich strukturiert und nach Themenbereichen gebündelt lässt sich eine kritische Chronik der Fehlentwicklungen des vergangenen Jahres in Ruhe nachlesen. Hier wird auch fündig, wer sich nicht auf Suchmaschinen (allein) verlassen und nicht endlos durch Texte »scrollen« möchte. Man kann dem Jahrbuch nur eine möglichst weite Verbreitung wünschen, damit seine Informationen und die damit verbundenen kritischen Positionen die Debatte um die Zukunft von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft befruchten.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft und ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) an der Universität zu Köln. 2012 sind von ihm die Bücher »Armut in einem reichen Land« sowie »Krise und Zukunft des Sozialstaates« erschienen.

1 Vertrocknende Landschaften: Wie die EU zugrundegerichtet wird

Glaubt man Politik und Medien, so befindet sich die EU in einem fast schicksalhaften Strudel kaum zu kontrollierender Ereignisse. Dabei ist weder die Verschuldung einzelner Staaten quasi vom Himmel gefallen, noch müsste sich die Politik zum Handlanger von Spekulanten machen. Die Analysen der NachDenkSeiten weisen nach, wie eine verfehlte Politik den Karren erst in den Dreck gefahren hat, in dem er nun steckt.

Die Eurokrise in Zahlen (I) – Wie Musterschüler zu Problemkindern wurden

1. September 2011 / Rubrik: Europäische Union, Finanzkrise, Schulden / von Jens Berger

Mit steter Regelmäßigkeit behaupten die deutsche Regierung und viele deutsche Medien, dass die Eurokrise eine direkte Folge des finanzpolitischen Schlendrians einiger Eurostaaten sei. Eine unwahre Aussage wird jedoch nicht wahrer, wenn man sie regelmäßig wiederholt. Ein Blick auf die OECD-Daten reicht aus, um diese Aussage zu widerlegen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall – am Vorabend der Finanzkrise galten die heutigen Problemkinder noch als finanzpolitische Musterschüler.

»Eigentlich ist es unter Ökonomen weltweit unbestritten, dass eine der Hauptursachen – wenn nicht sogar die Hauptursache – der Krise – nicht nur jetzt, sondern schon 2008 – die zu hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte auf der ganzen Welt ist.« So Wolfgang Schäuble gegenüber der ARD-Sendung »Plusminus«.

Anteil des BIP zur Bedienung der Zinsen zum jeweiligen Zinssatz in Prozent

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Quelle: OECD und Japanisches Finanzministerium – Bezug: Schulden der jeweiligen Zentralregierung – eigene Berechnung

Spekulanten und »Märkte«

Die Griechenlandkrise hat gezeigt, dass Staatsschulden sich in ein Damoklesschwert verwandeln, wenn Spekulanten sich gegen ein Land verschwören. Nicht die Höhe der Schulden, sondern die Zinskosten sind es, die ein Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit treiben. Diese Zinslast setzt sich aus der Höhe der Verschuldung und dem Zinssatz zusammen. Während die Höhe der Schulden von der Politik bestimmt wird, bestimmen die Akteure auf den Finanzmärkten den Zinssatz.

Finanzmärkte funktionieren nach dem Prinzip des Herdentriebs. Volkswirtschaftliche Rahmendaten gelten dort bestenfalls als ein Faktor von vielen, der die Herde in eine bestimmte Richtung treibt. Oft genügt bereits ein Gerücht oder eine Pressemeldung, um die Spekulanten zu vordergründig logisch nicht nachvollziehbaren Aktionen zu treiben. Es ist auch keinesfalls auszuschließen, dass diese »Märkte« von einigen wenigen Großspekulanten manipuliert werden, die ihr Spiel mit der Politik treiben und diese am Nasenring durchs Kasino führen.

Wenn Wolfgang Schäuble den Eindruck erweckt, dass die Krise durch volkswirtschaftliche Gründe ausgelöst wurde, so ist dies bereits – unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Aussage – eine Manipulation, mit der unterstellt wird, dass die Akteure auf den Finanzmärkten rational agieren. Doch auch der volkswirtschaftliche Kern von Schäubles Aussage ist falsch.

Wer die Ursachen der heutigen Eurokrise herausfinden will, sollte bei seinen Beobachtungen zwei Perioden unterscheiden – die Zeit vor und die Zeit nach dem bisherigen Höhepunkt der Finanzkrise im September 2008. Betrachtet man die finanzpolitischen Rahmendaten nahezu aller OECD-Staaten, so erkennt man zwischen den Jahren 2007 und 2008 eine deutliche Zäsur. Die »hohe Verschuldung«, die Wolfgang Schäuble für die Krise verantwortlich macht, entstand (mit Ausnahme der Japans) erst in der Periode nach dem September 2008. Am Vorabend der Krise hatte Europa kein Schuldenproblem – im Gegenteil. Vor allem die Staaten, die heute Probleme mit ihrer Refinanzierung haben, galten noch im September 2008 als wahre Musterknaben.

Irland – der keltische Tiger endet als Bettvorleger