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Jule Andersen • Theodor Buhl

Winterkorn

Die Lebenserinnerungen der Jule Andersen

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Jule Andersen / Theodor Buhl

Theodor Buhl, geboren 1936 in Bunzlau/Niederschlesien, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf und an der Universität Köln. Während seines Berufslebens als Lehrer arbeitete er an verschiedenen literarischen Werken, daraus erwuchsen Kontakte zu Heinrich Böll und Peter Rühmkorf. Sein von der Presse hoch gelobter Roman «Winnetou August» erschien 2010. Er hat Jule Andersen über 12 Jahre begleitet und ihre Erinnerungen aufgezeichnet. Theodor Buhl lebt mit seiner Frau in Düsseldorf.

Über dieses Buch

«Jule Andersen war 72 Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Für mich, den 45 Jahre Jüngeren, kam sie aus einer fremden Welt. Als fünftes von neun Kindern eines ungelernten Gelegenheitsarbeiters 1891 in Kiel geboren, entstammte sie der untersten sozialen Schicht, blieb – wie die meisten ihrer Geschwister – ohne jede Ausbildung und konnte niemals ein unabhängiges Leben führen. Das alles tat ihrem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. Ihr waches Interesse für die Schicksale anderer Menschen und die politischen Tagesereignisse, ihre tiefsitzende Abneigung gegen die Männer, ihre vitale, bildhafte Sprache – eine Mischung aus Hochsprache und norddeutscher Mundart – und die Lust am Reden und Lachen bestimmten die Gespräche mit ihr. Das Material, aus dem ‹Winterkorn› entstanden ist, stammt überwiegend von Tonbandaufzeichnungen alltäglicher Lebenssituationen und manchmal auch aus Interviews – der ‹Klöterkasten›, wie Jule Andersen das Aufnahmegerät nannte, lief, ohne dass sie das im Geringsten störte, meistens mit, wenn ich in ihren letzten 12 Lebensjahren mit ihr zusammen war.»

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung: any.way, Barbara Hanke und Cordula Schmidt

Umschlagabbildung: privat

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-463-40637-4 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-30821-3

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-30821-3

Ein Leben

«KÜMMST NICHT MIT, wo’n Goarn ist – de lütten Vogels singt schon so schön.»

«Wie künnt ja ook no’n Friedhof gohn –»

Ich hör sie noch.

 

Als meine Mutter starb, starb auch Hans Vogel. Wie sie im Sterben lag, sagt sie zu mir: «Kümmer dich um Hans Vogel – dass er sein Futter bekommt. Und die Blumen auf dem Balkon.»

Ableger waren das, die sie von Gräbern hatte – «Ist nicht so schlimm, Kuddel, sind ja man bloß Afleger.»

Hans Vogel lag schon tot im Bauer, der dachte: die Olsch geit kapeister, da muss ich auch in die Wurst. Das ist ein böses Vorzeichen gewesen. Sie holten sie abends ins Krankenhaus, morgens um fünf war sie tot.

1915 war das, als ich jeden Tag zum Pulverschuppen musste. Den Monat vorher merkte man ihr noch nichts an, da war ich noch jede freie Minute drüben bei ihr. Sie wohnte ein paar Häuser weiter längs von mir am Stadtfeldkamp – bin immer mal raufgesprungen:

«Kümmst nicht mit, wo’n Goarn ist – Wi künnt ja ook no’n Friedhof gohn.»

«Ist da nicht so’n lütten Afleger?»

Hat ihn mit Hühnerschiet auf dem Balkon großgezogen – das gedieh ihr alles.

 

Vater hatten wir nicht – das war nur ein Klotz. Mir war, als hätt ich nie einen Vater gehabt.

Mutter, die ist schon mit 54. Heinrich ist 73 geworden, der hat sich aufs Stinken gelegt.

Mutter hat immer gesagt: «Heinrich, du musst in die Sterbekasse. Wenn du mal dootbleiben deist, wir könn dich nicht beerdigen. Du kannst doch nicht für arm beerdigt werden. Von der Wohlfahrt? per arm? – ich goh nicht mit zu din Beerdigung, wenn das so ist.»

Aber sie ist vor ihm dootbleven. Das hat sie nicht erlebt mit Heinrich.

«Wat geit mi dat an?» segg Heinrich, «min Beerdigung – ich will di wat seggen: ich leg mich op Stinken.»

«Wat?» segg Mutter. «Op Stinken, wieso?»

«Ja, denn sollt se mich wohl wegföhrn, wenn ich stinken do.»

Und wirklich – so ist das gewesen.

Er hatte Darmverschluss, ist operiert und kreeg sein ganzen Mors opreeten und erst so’n Schlauch und Beutel eingesetzt. Hat aber nicht lang dauert, da war Heinrich eingeschlafen. War nichts mit dem Schietbüdel – er ging in die Geschichte ein und ist von der Wohlfahrt per arm beerdigt worden. Und Ernst und ich, wir sollten zur Beerdigung – im heißen Sommer war das und die Brummers flogen.

Und da segg Enner denn, wie wir in die Kapelle: «Oh, Mensch», segg he, «komm! Das ist ja nicht auszu – ohh!»

Die ganze Darmgeschichte war wohl in der Kiste. Hein hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Ich sag zu Enner: «Ruut biit Loch!»

«Oh», segg he, «de Hein – he het immer seggt: ich leg mich op Stinken. Nun siehst du das.»

 

Das war Heinrichs Ende. Er war die letzte Zeit bei meinem Bruder Max, da lebte er mit seiner kleinen Rente – Neumünster, ne Stunde von Kiel mit der Bahn zu fahren. Aber ich hab ihn nie wiedergesehen. Ich hab mich nicht um ihn gekümmert. Hab mir das bloß erzählen lassen jedes Mal. Maxe kam manchmal Anna besuchen, der hat er das alles vertellt.

«Jo», het he seggt, «stell di mol vör: Heinrich, der ist noch jeden Sonntag im Tanzsaal. Langschäftig und nix in Liev», der hätte Reithosen an und Stiefel. Heinrich schwingt immer noch das Tanzbein – noch wie er 72 war. Der hat für Bewegung gesorgt. Aber es hat ihm doch den Arsch verschlossen.

Ja, das war Heinrich sein seliges Ende.

Enner het rohrt – «Ein Glück, dass unsre Mutter das nicht mehr erlebt hat», segg he.

 

Mutter war zuerst mit einem Bauernsohn verlobt und dadurch, dass sie den nun nicht gekriegt hat, war sie von der Familie ausgestoßen. All ihre Geschwister hatten eine Bauernstelle und Schweinemästereien und sie hatte den blöden Heinrich mit neun Gören und konnte achter und vörn nicht hoch. Hat ihr Leben lang bloß weent.

Da hab ich mal zu ihr gesagt: «Mutter, warum weinst du nur so viel, ich seh dich immer weinen.» – «Ja», segg se, «min Deern, für mich het noch nie in min ganzen Leben de Sünn mal schienen.»

Segg se.

Na.

Und da erzählte sie mir denn, sie war verlobt, war aber schwanger schon von ihm. Auf dem Lande bei den Buuren war das Mode. Wird überall gemacht. Ob bei den Buuren, den Proleten, bei den Bonzen oder bei den oberen Zehntausend – aber die lassen dann so verschwinden. Die wolln die Weiber nicht bloß sehn, die wolln auch was von haben.

Und nun war er vom Militär zurück. Und wie er frei wird, vier Wochen nachdem, bekommt er die galoppierende Schwindsucht und stirbt. Und Mutter, die war so ehrbar und meinte, wo sie das Kind hat, könnte sie doch keinen andern Mann mehr nehmen. Aber ein paar Wochen später hatte Heinrich schon sein Auge auf Elisabeth. Er wollte sie mit Gewalt heiraten und sie wollte nicht. Da hat er sie denn gezwungen, erzählte sie mir.

Mal sind sie einen Weg gegangen, auf einer Chaussee, wo Landbäume stehn – da hat er ihr seine Uhr in die Hand gedrückt und gesagt: Wenn sie ihn nicht heiraten wollte, würd er sich aufhängen – dort auf den Baum.

«Mutter», sag ich, «wie kannst du bloß! Ick hal em bumeln looten.»

«Ja», segg se, «min Deern, das konnt ich nun nicht mit mein Gewissen vereinbarn» – der eine war tot, nun sollt Heinrich bumeln? Sie meinte, das konnte nicht angehn.

«Ja», sag ich, «du hast dafür ein bittres Los gehabt. Wenn der Mann noch danach wär – aber der mit sine grote Klöterklapp? überall das Maul weit offen, überall haut er in Sack …»

Er konnte alles, dumm war er nicht – aber er hatte solch gottloses Maulwerk. Die große Klappe und sein Lesen. Der las die ganzen Nächte durch und Mutter saß an der Maschine und nähte für die Gören all die Plünnen – schon morgens Klock vier beim Knütten.

Und Heinrich, das Biest – ich habe niemals das Gefühl gehabt, ich hätte einen Vater. Von Kind auf an schon hab ich ihn gehasst.

Er hatte gar nichts für uns übrig. Sich mal mit den Kindern beschäftigen irgendwie – nichts. Bloß mittags beim Essen, da rollte er mit den Augen und war mit dem Knüppel dabei. Und mit dem Stiefelknecht gab’s denn was, wenn wir nicht parierten. Aber Liebe und sich mit den Kindern unterhalten – das hat’s nie gegeben. Wir alle haben ihn nur verachtet, die ganzen neun Kinder.

Nachher, wie die Jungens größer waren, hatte er einen Hass auf sie. Er meinte immer, sie würden bevorzugt im Essen, und dabei hat Mutter immer für ihn gesorgt. Hat nur gekocht, was er zu essen haben wollte, ob wir das mochten, wurde nie gefragt. Sie hat für den Heinrich alles getan.

«Ja», segg se denn, «dat is ju Vadder un he mut dat Geld verdeen.»

So.

Das war ihr Lebenslos: der Kerl mit den neun Gören.

Ich hal em hängen looten und nicht neun Kinder kreegen mit dat Schwein, ich nicht.

*

Heinrich ging jeden Sommer in die Oarn. Feine Reitstiefel an – immer achter de Schoh und kein Geld. Kam hinten nicht hoch.

Heinrich war Kuckucksei, erblich belastet wahrscheinlich – wir haben nie was von seiner Verwandtschaft gehört. Nur dass er großgeworden ist in Segeberg in einer Mühle. Nachher ist er wohl auf Wanderschaft gegangen.

Jeden Sommer zog er in die Ernte und Mutter hat allein im Wald gewohnt in so ner Rumpelbude da. Sie hatte Deputat, hat sich zwei Schweine fett gemacht und Heinrich war den ganzen Sommer weg. Kartoffeln musste sie sich buddeln hinterm Pflug und Anna, die hat sie denn mitgenommen, die war erst ein halbes Jahr, die hat an der Erde gelegen, den Lutscher im Mund. Das Kleinzeug rutscht sich ja immer mit auf dem Sack.

So war sie denn ganz alleine den Sommer über und hat sich gegrault vor Ratten und Mäusen, was alles lief. «Oh, min Deern, sieh dich mal um, ich kann nicht sehn, ob da was kommt» – durch das düstere Holz schlieken. Sie hat so furchtbar immer gebangt.

Und denn kam Heinrich von der Ernte wieder – mit Stiefeln, langschäftig, Reithose, schicker Joppe: Heinrich hat sich eingekleidet.

«Ja», segg Heinrich, «das ist noch nicht ganz betoolt, Lisbeth.»

«Und wovon willst dat betoolen?»

«Ich geh zum Buurn, ich find schon was.»

Und sie saß wieder in der Spökelbude und Heinrich kam wieder mit Schulden für neue Reitbüxen an – bis der Excuter kam.

 

Manchmal hatten wir ne gute Deputatstelle. Wie sie mit mir schwanger ging, hatte sie ne schöne Kuh, drei Schweine und zwei Ziegen. Davon war ich ein kräftiges Kind – all die schöne warme Kuhmilch.

Das war auf dem Lande. Wenn es Heinrich aber in die Stadt zog im Herbst, ging’s wieder los: Hunger zieht durch mein Gemüte.

Haben wir nichts, tragen wir nichts, gehen wir umso leichter – Heinrich sein Wahlspruch.

Wenn wir umzogen, nahm er den Wagen voll Stroh, die Gören boven op, die fünf Sachen in Koffer und auf in die Stadt. Dann hockten wir alle auf dem Strohwagen und hatten graue Nebelkappen an und gingen auf Wohnungssuche in die Kellerlöcher. Rein in den Keller, Stroh in die Ecke – «So, denn legt euch mal, Kinner.»

Denn lagen wir da.

Max ist im Keller geboren, am Knooper Weg. Mutter hat Blutsturz gehabt. Das Balg, den hevt se erst mal in die Ecke schmeeten, der war ganz blau. Heinrich macht die Türe zu – Gut Nacht, Marie! – verduftet in die Stadt.

Beim Essen standen jedes Mal die Kinder um den runden Tisch herum, Heinrich und Mutter hatten einen Stuhl – «Kannst du nicht grade stehen?» – Heinrich passte auf.

Mit dem runden Tisch sind wir immer umgezogen.

Am Anfang der Woche gab’s Vitello, am Ende nur noch Zucker auf dem Brot. Die einen aßen ihr Ei schon abends auf, die anderen morgens – dann weinten die einen: «Mutter, ich hab kein Ei mehr.»

«Musst nicht aufessen, hast noch eins.»

Blutpfannkuchen: Hefeteig mit Magermilch, Rosinen, ein Schuss Schweineblut und Zimt und Pfeffer – gebraten in der Pfanne. Am Ende der Woche, wenn’s knapper wurde, kam eine Kuhle in den Kartoffelbrei und Buttermilch rein. Buttermilchsuppe: geräucherter Schweinespeck, Suppenkraut, Reis und Porree und dicke Fipsklöße drin – Heinrich freet tein davon auf ein Abend.

 

Mit fünf wurde ich vermietet, einschließlich Kost, als Kinderketsche bei Mutter Pautke – da brauchte ich an die Holsteiner Kost nicht mehr ran.

Mit dem Handtuch unterm Arm das Kindergeschirr führen, das krummbeinige …

«Für’n beeten Gries, Mutter?»

«Aber das End Wurst, Kuddel!»

Frau Pautke war schon lahm und schief von dem rachitischen Geschirr – sie hatten alle krumme Beine. Die hab ich gehütet vier Wochen lang. Dann kriegten sie noch eins, das starb im Wochenbett, und ich sollt in dem Zimmer schlafen mit dem Kind im Sarg. Da hab ich geschrien … was wusste ich? Ich wusste überhaupt nicht, was da vor sich ging – mit fünf verstehst du nicht, was los ist.

Die andern sind nachher alle verbrannt, vier Stück. Wie ich später in der Schule war, stand das in der Zeitung: «Familie Pautke» – und die Wohnung war beschrieben. Ihr Mann war Meister auf der Werft, trank wohl auch gern mal einen und sie ging immer mit – dass er auf dem Leibe wiederkam. Die Kinder blieben denn allein. Und da hatte sie so viel Wäsche, am Ofen getrocknet – die Plünnen sind angefangen zu brennen – wie das nun auch gewesen ist: die Kinder sind alle verbrannt.

Als Frau Pautke mich zurückgebracht hat, hat sie einen ganzen Ballen Schürzenstoff gekauft, lauter bunte Karos waren drin. Mutter hat uns, all den Mädchen, Schürzen draus genäht. Das hatte ich mit fünf verdient, das Schürzenzeug.

«Jetzt habt ihr ja alle ne schöne Schürze», sagt Mutter. Aber ich hatte den Kopf voll Läuse von Pautke und hab gebrüllt. Da ging das Waschen mit der grünen Seife los – und dann musst ich zu Heinrich an die Mauken.

Zwei Löcher hatten wird damals – in dem einen schliefen die Alten, in dem anderen standen vier Betten. Und immer jedes Bett zwei Gören, manchmal auch vier in einem, je nach Wohnung – «So, Kinner, legt euch mal hin.»

Wenn aber einer krank geworden war, der musste an die Füße bei den Alten. Wie ich die Masern hatte, hab ich dort auch gelegen. Hab immer gejault, wollt da nicht hin. Da hab ich mir die Masern auskuriert – bei Heinrich an den Mauken.

 

Heinrich konnte fast alles – aber er hatte dies grässliche Maul. Deswegen blieb er nirgendwo länger, schmiss alle acht Tage die Arbeit hin, erzürnte sich mit jedem. Wenn der eine Hü segg und der andre Hott, da haute er gleich ab, da war er fertig – kurz entschlossen schmiss er alles runter.

Er konnte alles, was im Leben anfällt: Schlosser war er, Landarbeiter – was so kam. Mutter saß und knüttete und Heinrich war vielseitig.

Einmal war er auf der großen Mühle, die heut noch steht in Wellingdorf bei Kiel – da ist er Maschinist gewesen. Dann war er Maschinist für Straßenbahnen und einmal war er Fahrer bei der Straßenbahn.

Ich seh ihn noch: er hatte im Winter die langen Filzstiefel an – die Wagen waren offen früher und er hatte Rheuma. Und Uniform und Kaiser-Wilhelm-Bart. So stand er immer vor dem Spiegel.

«Oh, was dreht er sich!» sagt Mutter.

Wenn wir mitfahren wollten, schubbert er uns in die Ecke rin und denn mussten wir an der nächsten Station wieder raus. Kost ja Geld, nicht – kannst ja nicht umsonst mitfahren. Und Heinrich war pflichteifrig in der Weise, das musste alles reell sein – «So, uutsteigen, Kinner, wenn der Kontrolleur kümmt …»

Aber nun fuhr die Straßenbahn auch des Nachts, da kam er erst spät nach Hause und Mutter, die hat die ganze Nacht an der Nähmaschine geprünt für uns Gören und denn wollt Heinrich was zu essen haben: Erbsensuppe mit handfesten Klößen – ordentlich Speck drin, Bauchspeck. Das war sein Leibgericht.

Wenn er sein Essen intus hatte, fing er an zu lesen. Heinrich las nachts im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das hat er all die Jahre mitgeschleppt. In der Küche hingen die Pi-Lappen noch auf der Leine – da hat er sich druntergesetzt und gelesen nachts.

Später zogen wir nach dem Sophienblatt. Dort kamen jeden Morgen die Milchwagen von der Meierei Eichenhain durch die Straße. Die hatten denn so norsche Sachen auf dem Wagen, Dickmilch – dicke, schwere Klumpen und goldgelb. Mutter konnte uns ja kaum was kaufen: einen Teller – kriegte jeder einen Löffel voll. Er hatte eine große Schüssel hinten und dann wurde das so abgetan mit einer Kelle, weiß ich noch.

Die Meierei Eichenhain lag im Wald – ein großes Grundstück und da war ne Schaukel bei. Und sonntags, wenn ich mal wegflitzen konnte, war ich zugange auf der Schaukel – stundenlang. Das war mein schönstes Sonntagsvergnügen, da ging ich noch nicht zur Schule.

Gewöhnlich musste ich bei meiner Mutter auf der Bank sitzen, Strümpfe stricken, Decken häkeln – «Komm, mein Deern, du musst was tun, de Görn heft nix an de Föß» – und dann erzählt sie mir von ihren Jugendzeiten.

Die Bank stand auf dem Hof bei uns und hinten, anschließend an den Hof, lag ein riesiger Garten mit hohen Bäumen. Wir hatten Kellerwohnung bloß, aber fast zu ebener Erde.

Es waren viele Gören rundherum, da hatte jeder zehn, zwölf Gören, das gehörte sich. Aber es war alles so gemütlich mit den Kindern und den Müttern – meine Jugendjahre in der Zeit, das war was Schönes. Wenn die Laternenzeit kam, gingen all die ganzen Gören von dem Hof … es war ein Hinterhaus und ein Vorderhaus und Missfeld hieß die Hauswirtin. Nette Leute, wie es heute nicht mehr gibt.

«Na, Fru Steen, wie geit dat hüt?» kam sie morgens immer an, mit der Hand im Nacken. Sie machte so gern einen Klönschnack mit Mutter. Ihre Tochter war verheiratet, der ging das derart gut, die schickte all ihr abgelegtes Zeug nach Mutter Missfeld hin und die brachte uns das dann.

Der Garten war eingezäunt für die Kinder und hinten war ein langes Haus, das mit dem Garten denn so unterging. Die Birnbäume, glaub ich, sind heute noch da. Die Häuser waren alle kaputt nach dem Kriege, aber die Bäume sind scheinbar geblieben. Ich bin schon lange auf der Ecke nicht gewesen, ich möchte immer noch mal sehn, ob die wohl stehngeblieben sind.

Ein großes Grundstück war das und in dem Garten, direkt vor dem Haus, vor unserem Fenster, war ein Fliederbaum, der blühte – und die Bauernrosen blühten und die großen Birnbäume, die blühten – das hatten wir alles vor Augen.

Die Winter waren hart und eines Abends hab ich mal einen Schlittschuh gefunden. Ich mochte so gerne hackern und rüschern – da war nur einer. Ich war wie besessen, den ganzen Abend über – bis mir der Arsch lahm war.

«Wat schood di?» segg Mutter.

«Oh, ich kann das Bein nicht heben –»

Im Sommer lagen Mutter Missfeld und die Alten abends in den Fenstern und guckten auf die Gören, wenn die beim Dunkelwerden spielten. Hin und her gingen alle angefasst und spielten Kopf und Schwanz –

Wo bist du gewesen, mein ziegender Bock?

In der Mühle, in der Mühle, mein gnädigster Herr.

Das war ein Gaudium für die Alten, wenn der Letzte immer auf die Nase fiel.

Aber abends Klock sieben – die Steenschen Gören, die müssen zu Bett, rin in die Kiste – denn wollte Mutter Ruhe haben und alles musste verschwinden. Dann standen wir und lungerten am Fenster, was die anderen noch machten draußen.

«Wüllt ju nu sehn», segg Heinrich, «dass jie Ös zu Loch kommt!»

Wenn wir im Bett lagen auf dem Stroh, wollte jeder den besten Platz. Von der Küche zum Schlafzimmer hin war ein kleines Fenster, da guckte Heinrich abends durch: «Ick war ju lüstern!» – und knallt mit der neunschwänzigen Katze. Denn sagte keiner mehr was.

 

Mutter, die hat nix gelernt – ist auf den Lande großgeworden, Buurentochter – aber immer die feine, vornehme Frau. Sie war kein richtiges Proletenweib. Wenn die Jungens die Treppe raufgingen, stand sie wie ein Schießhund am Geländer: dass ihr mir sachte geht! – Wär alles bloß Faulheit, sagte sie immer, wenn die Leute die Kinder zerrissen und schlampig ließen. Wir sind nicht in Plundern gegangen. Sie kriegte so viel altes Zeug geschenkt und da hat sie, aus Alt mach Neu, immer alles genäht und vernäht.

Die Maschine hatte Onkel Jochen ihr geschenkt. Und das Gebiss, denn sie hatte oft Magengeschwüre, weil sie nicht kauen konnte. Da hat sie die Nächte genäht, wie eine Schneiderin alles mit Litzen und Schlitzen, alles so’n bisschen benäht und betan. Immer den Knüttelkram in der Hand, saß sie morgens Klock vier, wenn Heinrich schon in der Wüste war. Der arbeitete damals auf der Ziegelei – Lehmhingst wär he – der musste morgens um vier schon los. Ich hörte das immer: Mutter lässt den Alten raus zur Tür, hat seinen Kaffee ihm gekocht und in so’n rotes Tuch das Brot geknotet – das kriegte Heinrich denn mit.

Und einmal, sagte sie, wäre sie beinah verbrannt. Sie hatte eine Lampe stehn auf ihrer Nähmaschine, Petroleumlampe war das – die hat das Poltern kreegen bi dat Rattern. Da fiel die Lampe runter und sie stand in Flammen. Im Hof war eine große Wasserpumpe. Da hat sie geschrien, sind die Nachbarn gekommen und haben sie in das Pumpenbecken gesteckt. Um Haaresbreite wäre sie verbrannt.

«Mein Herrgott hat mir wieder mal geholfen», sagte sie den nächsten Morgen.

 

Zu Weihnachten hat Heinrich wieder in den Sack gehaun. Wer in Sack haut, der kriegte drei Tage kein Geld. So war das früher. Nix zu freeten. Mutter macht den Kachelofen an, legt sich ins Bett: «Kinner, ich bin krank». Drei Tage durften wir nicht raus, um uns an den Geschenken der anderen nicht zu ergötzen. Die andern zeigten ihre vor dem Fenster.

Mutter Missfeld schickte einen Tannenbaum – «Na, Fru Steen, wie geit uns das denn hüt? Wat ist mit de Görn?» Dann hat sie uns ein 5-Mark-Stück geschenkt und Mutter ging zur Stadt: die Jungens einen Baukasten für 25 Penning, die Mädchen jede eine Puppe – mit Porzellankopf und Haaren aus Glas. Lines war aus Pappmaschee. Die spielte Mutter und Kind damit und füllte ihr Wasserkakao in Kopp und heulte, weil das so weich wurd – «Bist ja wohl unklog», segg Mutter.

 

Im Winter, wenn wir nichts zu brennen hatten, gingen wir Kinder hinter den Kokswagen her, wenn am Kai die Kohlendampfer löschten – jeder einen Büdel in der Hand. So brauchten wir nicht zu frieren. Hunger hatten wir genug.

Wenn ich nicht meine Laufstellen gehabt hätte und Enner auch … Enner, der hatte den Bauch voller Pfannkuchen, hat die rohen Eier aus dem Stroh gesüppt – «Sind leicht verdaulich», segg Enner. Dann war er im Kolonialwarenladen, hat Käse und Butter gefahren und hat sich gemästet. Die das nicht konnten von uns mit den Stellen, sind alle schon eingegangen.

Anna war zu schwach dazu, der mussten sie die Beine wickeln, damit sie stehen konnte. Die Frau, die aufpassen sollte auf sie, wenn Mutter zur Arbeit war, trank ihr jedes Mal die Milch aus. Davon ist Anna so mickrig geblieben als Kind. Mutter hatte zweimal schon das Totenhemd genäht für sie.

 

Nachher, wie ich größer war und meine Stelle hatte bei Frau Hagedorn – die hat mich dermaßen gefüttert, dass ich abends meine schönen dicken Bauernbrote mit nach Haus genommen habe für die andern Kinder. Ich war satt, ich konnte nicht mehr essen.

Für den Hagedorn war ich, als ob ich die eigene Tochter gewesen wäre. Er hat mich übers Haar gestriegelt und als der Kanarienvogel gestorben ist, haben wir ihn zusammen begraben. Nur sein Jagdhund schmiss mich immer um, wenn er an mir hochsprang.

Bei Hagedorns musste ich die Treppe machen und den Fußboden und die Ecke von dem Hund. In der Küche war sie eigen, hat mir alles beigebracht – die Feudel jedes Mal in warmes Wasser. Für die Fenster kam ja eine Frau, da konnte ich nicht ran. Nur an die Kellerfenster.

Was ich bei denen an Essen gekriegt hab – ganz große Bälge. Und abends sechs dicke Rappen dazu, die anderen warteten schon.

Als ich später auf dem Friedhof dort spazieren ging, seh ich einen großen Grabstein: HAGEDORN. Ich traf dann auch die Waschfrau noch von damals, die hat mir das erzählt. Er hatte sich erschossen, hatte Zucker und wollte wohl das letzte Ende nicht mehr mitmachen. Das letzte Ende ist schlimm. Die Zehen fangen an zu rotten, der Zucker frisst weiter, den kriegst du nicht weg. Stückweise wird alles abgenommen.

 

Für Mutter Brocks und Mutter Gaage hab ich auch gearbeitet. Für Mutter Brocks häkelte ich Litzenrand – für die offenen Hosen. Die alten Weiber standen ja und pinkelten im Stehen. Für Mutter Gaage Tütenkleben: ganze Berge musste man. Da gab’s fünf Pfennig für den Nachmittag.

Bei Mutter Kohlmorgen Papiergirlanden. Kleine Schnitzel, jedes Blatt so drehn, bis das ein Schneeball war, und dann auf Draht aufziehn. Für die Tanzsäle oder wenn Schützenfest war oder irgendein Kram mit Girlanden. Künstliche Blätter kamen noch dazwischen, die waren aber schon fertig, die wurden bloß eingedreht. Da gab’s denn auch fünf Pfennig für den Nachmittag.

Am liebsten saß ich und nähte. Sitzen und prünen, all so was – das war meine Seligkeit. Uns gegenüber war ein alter Friedhof – Sankt-Jürgens-Friedhof hieß der. Daneben stand die Kirche, wo ich nachher konfirmiert war. Wenn ich die lütten Gören hüten musste, saß ich immer auf der Friedhofsbank und häkelte.

Ich ging noch nicht zur Schule, da hat mir Mutter beigebracht, wie man Sofadecken häkelt. War mehr so’n grobes Wollgarn, wie man für Topflappen hat heute.

Und nachher war ich dann so weit: da hab ich Schultaschen gehäkelt. Es gab einen Bügel, den konnte man kaufen für ein paar Pfennige. Dann wurde das durch die Löcher gezogen und unten kam ein Beutel dran, dass ordentlich Bücher reingingen.

*

Als ich im zweiten Schuljahr meine Stelle hatte, rieb Mutter mir morgens die Füße mit Talg ein, damit ich laufen konnte. Schindern und rennen die ganzen Jahre – ich möchte mein Scheißleben nicht noch einmal leben.

Bei Heinrich waren wir auch bloß Sklaven – beten und arbeiten, dass er die Brotfressers los wär.