Cover

Johannes Kneifel

Vom Saulus zum Paulus

Skinhead, Gewalttäter, Pastor – meine drei Leben

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Johannes Kneifel

Johannes Kneifel, Jahrgang 1982, wurde in Celle geboren und schloss sich als Jugendlicher der Skinhead-Szene an. Mit 17 wurde er wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu fünf Jahren Haft verurteilt. Zurzeit studiert Johannes Kneifel Theologie in der Nähe von Berlin.

 

Jörg Erb, Jahrgang 1960, arbeitet als Systemischer Berater (IFW), freier Lektor und Künstler (Wort, Bild, Ton) in Hamburg. Seit vielen Jahren setzt er sich mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus auseinander und bemüht sich um eine lebendige Erinnerungskultur; so arbeitet er u.a. mit dem Auschwitz-Überlebenden Noah Klieger zusammen. Für weitere Informationen siehe auch www.about.me/joerg_erb

Über dieses Buch

Johannes Kneifel ist 17, als er zusammen mit einem Freund einen Mann in seiner Wohnung aufsucht und ihn brutal verprügelt. Der Grund: Peter Deutschmann hatte die Jugendlichen kritisch auf ihre rechte Gesinnung angesprochen. Gewalt gehört zu deren Alltag ebenso wie rechte Musik, Alkoholexzesse und das Gefühl, kein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Einen Tag nach der Tat stirbt Peter Deutschmann im Krankenhaus. Johannes Kneifel wird verhaftet und muss für fünf Jahre ins Gefängnis. Er gilt als hochintelligent, aber auch hochgefährlich, mehrfach muss er in Isolationshaft. Die Wende beginnt, als er anfängt, den Gottesdienst zu besuchen, sich mit Seelsorgern auszutauschen. Johannes Kneifel erkennt, dass sein von Wut, Gewalt und Fremdenhass geprägter Weg in eine Sackgasse führt – und findet zum Glauben und zu Gott. Auf ihn vertraut er heute.

Nach seiner Entlassung beginnt Johannes Kneifel ein Theologiestudium, bald wird er Pastor sein. Die Tat und die Zeit im Gefängnis werden ihn sein Leben lang begleiten.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Unter Mitarbeit von Jörg Erb

Umschlaggestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

(Fotonachweis: Thorsten Wulff)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-8052-5035-1 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-21071-4

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-21071-4

Dieses Buch ist all denen gewidmet, die mich nicht aufgegeben haben, die einen Menschen in mir gesehen haben, als ich mich selbst nicht wie ein Mensch fühlen konnte.

Möge dieses Buch auch anderen Anlass zur Hoffnung und Anstoß zur Veränderung sein.

Prolog

Es ist der 8. August 1999, ein Sonntag. Die beiden Jugendlichen stehen am Kiosk, trinken ihr sechstes Bier an diesem Abend. Sie haben einen Ghettoblaster bei sich, aus dem Songs von Landser und Zyklon B dröhnen – allesamt indizierte Stücke.

Hier stehen sie oft, ihr Anblick ist nichts Besonderes für die Bürger von Eschede. Trotzdem, man geht den beiden Skinheads am liebsten aus dem Weg oder schaut zur Seite, wenn sie einem begegnen.

Normalerweise verbringen der achtzehnjährige Marco S. und der siebzehnjährige Johannes K. ihre Wochenenden mit anderen Kameraden aus der rechten Szene. Sie bleiben unter ihresgleichen, betrinken sich zu den Klängen lauter Musik, so sehr, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr wissen, was am Abend zuvor passiert ist. Gelegentlich gibt es Schlägereien.

Doch an diesem Sonntag sind die Partys bereits vorbei, und die beiden Jugendlichen wissen nichts mit sich anzufangen. Zu zweit will sich keine richtige Feierstimmung einstellen. Das Bier schmeckt zwar, soll aber vor allem betäuben. Die Wirkung des Alkohols lässt nicht lange auf sich warten. Sie kaufen noch ein paar Flaschen Bowle, um den Rausch zu beschleunigen, und lassen sich auf einem nahe gelegenen Spielplatz nieder. Bowle ist billig und knallt. Je mehr sie trinken, desto mehr verwandelt sich ihre Langeweile in Wut. Die Musik heizt ihre Stimmung an.

Marco S. berichtet seinem Kameraden erbost, dass der vierundvierzigjährige Peter D. ihn vor kurzem auf seine «braune Gesinnung» angesprochen und aufgefordert habe, doch endlich vernünftig zu werden. «Mensch, hör doch auf mit dem Scheiß», habe er gesagt. Im Ort nennen sie Peter D. nur den «Hippie».

Sie beschließen, dem Hippie einen Denkzettel zu verpassen. Wie dieser aussehen soll, darüber reden sie nicht. Sie wollen einfach ein Zeichen setzen – welches, bleibt unklar. Beim Reden soll es diesmal jedenfalls nicht bleiben, so viel steht fest. Heute wollen sie Taten sprechen lassen.

Marco S. weiß, wo der Hippie wohnt. Sie machen sich mit dem restlichen Alkohol auf den Weg. Die Musik dröhnt weiter.

Der Weg ist weit, aber die beiden Kameraden bestärken sich darin, die Sache durchziehen zu wollen. Sie besprechen nicht, was «die Sache» eigentlich sein soll.

 

Die Wohnung von Peter D. liegt am äußersten Rand Eschedes. Lediglich ein Feldweg führt zum Haus.

Einige Meter davor lassen die beiden den Kassettenrecorder und ihre Jacken am Wegrand zurück. Um handeln zu können, wollen sie sich von allem Überflüssigen befreien.

Am Haus angekommen, können sie durchs Fenster erkennen, dass drinnen der Fernseher läuft. Peter D. ist also zu Hause.

Marco S. geht zur Eingangstür, klingelt, klopft. Nichts rührt sich. Wenn der Hippie sie verarschen will, hat er sich die Falschen ausgesucht, reden sie sich in Rage. Immer wieder und immer lauter hämmern sie gegen das Holz. Keine Reaktion. Sie beschließen, die Tür einfach einzutreten. Marco S. versucht es einmal, ein zweites Mal, vergeblich. Johannes K. schiebt ihn zur Seite, er ist jetzt an der Reihe. Ein kräftiger Tritt, und die Tür fliegt auf.

Alles, was von nun an passiert, ergibt sich fast wie von selbst. Jetzt, da sie sich Zutritt verschafft haben, müssen sie auch weitermachen. Ihren Worten müssen Taten folgen. Die Wohnung ist klein und eng. Marco S. geht voraus, der Flur ist so schmal, dass sein Kamerad hinter ihm bleiben muss. Johannes K. schaut sich gar nicht erst im Haus um, ist nur darauf fixiert, dessen Bewohner zu finden. Sein Adrenalinpegel steigt, gleichzeitig trübt der Alkohol seine Sinne. Er hat sich immer noch keine Gedanken darüber gemacht, was genau er gleich tun will. Aber irgendetwas muss passieren.

Peter D. steht im Wohnzimmer. Nach drei, vier Schritten haben sie den Mann erreicht.

«Warum hast du die Tür nicht aufgemacht, du mieser Feigling?», brüllt Marco S. ihn an. Der Hippie geht nicht auf die Frage ein. Stattdessen versucht er, die beiden Eindringlinge zu beschwichtigen: Sie sollen wieder gehen, er wolle keinen Ärger.

Sie sollen wieder gehen? Er will ihnen sagen, was sie zu tun haben? Sie sind doch hergekommen, um ihm klarzumachen, dass er gar nichts zu melden hat.

Seine Aussage schürt ihre Aggressionen noch weiter.

In diesem Moment fällt den beiden Skinheads auf, dass Peter D. neben dem Telefon steht und der Hörer nicht auf dem Apparat liegt. War er gerade dabei, die Polizei zu rufen, als sie die Tür eingetreten haben? Dieser Gedanke sorgt für weitere Unruhe. So ist das also: Er nimmt sich das Recht heraus, Marcos S. und seine rechte Gesinnung zu tadeln, und jetzt, da ihn die beiden zur Rede stellen wollen, will er ihnen auch noch die Polizei auf den Hals hetzen. Er sagt, er will keinen Ärger – und ruft die Bullen?

Der Hippie behauptet, er habe die Polizei nicht rufen wollen. Marcos S. lässt sich auf eine Diskussion mit ihm ein. Doch Johannes K. reicht es jetzt. Wut und Aggression sind ins Unerträgliche gewachsen, er will nicht mehr diskutieren. Das ist nicht das, was er sich unter einem Denkzettel vorgestellt hat. Der Hippie will sie doch nur verarschen. Johannes K. drängt sich an seinem Kameraden vorbei. Ohne ein weiteres Wort verpasst er dem Hippie einen Faustschlag ins Gesicht. Die Wucht des Schlages wirft Peter D. zurück; er prallt gegen ein Regal. Gläser fallen zu Boden und zerbrechen. Sofort folgt ein weiterer Fausthieb. Johannes K. wartet die Wirkung seiner Schläge gar nicht erst ab. Peter D. verliert zwar das Gleichgewicht, fällt allerdings nicht gleich um, sondern rutscht langsam an der Schrankwand hinunter, um sich dann gleich wieder aufzurappeln.

Was, wenn er sich jetzt zu wehren beginnt? Peter D. ist deutlich schwerer als Johannes K., und er macht alles andere als einen schwächlichen Eindruck. Wenn er den Mann jetzt aufstehen lässt, muss der dann nicht denken, der Angreifer habe plötzlich Angst bekommen?

Bisher lief alles wie im Rausch ab. Jetzt wird Johannes K. plötzlich bewusst, dass es hier nicht mehr nur um Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung geht. Eine Gedankenspirale beginnt sich zu drehen. Was soll er tun? Peter D. wird wütend sein. Außerdem ist das hier seine Wohnung, er kennt sich aus, wahrscheinlich hat er irgendwo ein Messer, vielleicht sogar eine richtige Waffe. Er darf ihn jetzt nicht aufstehen lassen und das Risiko eingehen, dass der Angeschlagene sich mit all seiner Verzweiflung und Wut auf ihn stürzt. Er darf auf gar keinen Fall selbst zum Opfer werden. Er muss das verhindern, sofort.

Wenn er ihn bewusstlos schlägt, dann haben sie Zeit, um sicher die Wohnung verlassen zu können. Also tritt Johannes K. zu, zielt mit seinen Stahlkappenstiefeln auf das Kinn des Opfers. Peter D. fällt zurück, versucht allerdings sofort, wieder aufzustehen. Johannes K. tritt erneut zu. Auch dieser Tritt zeigt nicht die beabsichtigte Wirkung. Peter D. richtet sich wieder auf. Johannes K. gerät immer mehr in Panik, sieht seinen Gegner als unkalkulierbare Bedrohung. Der Mann blutet zwar, aber er bleibt nicht liegen. Wieder tritt Johannes K. zu. Er soll liegen bleiben, damit sie endlich abhauen können! Warum steht er immer wieder auf?

Johannes K. will ihn mit dem nächsten Tritt endgültig außer Gefecht setzen. Doch in diesem Moment reißt Marcos S. ihn zurück. Er hat während des einseitigen Kampfes, der nicht mal eine Minute gedauert hat, wortlos hinter seinem Kameraden gestanden.

«Spinnst du? Du bringst ihn ja um!», ruft er. Erst jetzt realisiert Johannes K., wie stark sein Opfer blutet. Er glaubt trotzdem nicht, dass die Verletzungen wirklich bedrohlich sind; schnell rennen die beiden Jugendlichen aus dem Haus. Doch Johannes K. befürchtet, Peter D. stelle weiter eine Gefahr für sie dar. Sie müssen auf jeden Fall verhindern, dass er die Polizei ruft. Sie müssen über die Hauptstraße, also genau da entlang, wo die Polizei herkommen wird. Sie brauchen einen Vorsprung. Sie müssen das Telefon zerstören. Marcos S. fürchtet, sein Kamerad könnte erneut auf den Hippie losgehen. Er geht also allein ins Haus zurück und reißt die Schnur vom Telefon.

Die beiden Jugendlichen nehmen denselben Weg, den sie gekommen sind. Im Vorbeigehen schnappen sie ihre Sachen, dann rennen sie los.

Marcos S. hat keinen Wohnungsschlüssel bei sich, also besprechen sie, dass er die Nacht im Elternhaus von Johannes K. verbringen wird. Der Weg dorthin dauert noch eine knappe halbe Stunde. Sie gehen ihn schweigend.

 

Am nächsten Morgen wird die Polizei die zwei Kameraden verhaften.

Einer dieser beiden war ich.

Eine Fahrt durch den Regen

Es fällt mir schwer, mich dem Siebzehnjährigen von damals wieder zu nähern. Aber ich bin daran gewöhnt, weil ich seit vielen Jahren immer wieder gefragt werde, was mich dazu gebracht hat, einen Menschen zu töten, und wie ich mit dieser Schuld leben kann. Darüber will ich Auskunft geben, soweit mir das möglich ist – und so gut ich es mittlerweile gelernt habe, über die Dinge zu sprechen, die jetzt schon viele Jahre hinter mir liegen, mir aber täglich bewusst sind.

Regen stürzt sintflutartig vom Himmel herab, prasselt aufs Wagendach. Trotzdem fahren wir mit hoher Geschwindigkeit. Es ist ein Nachmittag im August, am Himmel hängen dunkle Wolken, und draußen fliegt die Landschaft vorbei. Ich nehme alles nur verschwommen wahr, Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ich wünsche mir, dass ich aus diesem Albtraum aufwache, sehne mich nach einer heißen Dusche, unter der ich alles abwaschen kann, was an mir klebt. Aber ich werde diesen Schrecken nicht mehr los, er hält mich gefangen, wie die Handschellen, die in meine Handgelenke einschneiden. Mein Albtraum ist Wirklichkeit. Mich verfolgen die misstrauischen und geringschätzigen Blicke der Polizisten, die mich wie ein Stück Vieh wegfahren. Mich verfolgt dieses furchtbare Wort, das auf dem rosa Zettel in meiner Hosentasche steht und das ich mir unablässig vorbete: «Totschlag». Wer hat sich diesen Hohn ausgedacht, Haftbefehle auf rosa Papier zu drucken?

Die letzten 48 Stunden waren das reine Chaos. Mir kommt das alles so absurd vor, ich finde keine Ordnung mehr. Ich stehe vor einem riesigen Scherbenhaufen, und ich bin der, der alles zerschlagen hat. Was ist eigentlich passiert? Ich versuche, die Ereignisse der letzten Tage zu sortieren.

Am Sonntag hatte mich mein Kumpel Marco angerufen; klar wollte ich ihn sehen, wie schon so viele Male zuvor trafen wir uns. Wir tranken, hörten rechte Musik, unterhielten uns über Neuigkeiten. Alles wie immer.

Dann gingen wir zu Peter Deutschmann. Und nichts mehr war wie zuvor.

 

Am nächsten Morgen war Marco schon früh wach; er hatte bei mir übernachtet. «Ich will nach Hause», sagte er. Wir vereinbarten noch, mit niemandem über die Sache zu reden. Dann ging er.

Ich stand ebenfalls auf, wollte duschen, schnell etwas essen und direkt zum Bahnhof gehen, denn dann würde es sich auf jeden Fall noch lohnen, zu Milena zu fahren. Der Gedanke daran stimmte mich fröhlicher. Ein seltsames Gefühl, nach dem vorigen Tag zu meiner Freundin zu fahren, zärtlich und liebevoll zu sein. Was sollte ich sagen, wenn sie fragen würde, was ich gestern gemacht hatte? Ich konnte ihr ja schlecht erzählen, dass ich mich mit meinem besten Freund betrunken und völlig grundlos einen Fremden in dessen Wohnung überfallen und zusammengeschlagen hatte. Wie konnte ich nur?

Ich suchte mir ein Handtuch und frische Klamotten heraus, als es an der Haustür klingelte. Dann hörte ich, wie eine Männerstimme nach mir fragte. Ich ging nach unten. Dort standen vier Männer in Zivil, sie waren bewaffnet, und an ihren Gürteln hingen Handschellen. Kripo. Ich war perplex – wie waren die so schnell auf mich gekommen? Ich hatte nie etwas mit dem Hippie zu tun gehabt, er konnte doch gar nicht wissen, wie ich heiße oder wo ich wohne. Oder etwa doch? Hatte mich jemand gesehen und erkannt?

«Wir würden gern mal Ihr Zimmer sehen», sagte einer der Beamten.

Meine Panik wurde immer größer. Neben meinem Bett lagen noch meine Klamotten von gestern.

«Wo ist denn Ihr Freund Marco?»

Woher wussten die, dass Marco bei mir war? Ich schaute aus dem Fenster, spielte kurz mit dem Gedanken, hinauszuspringen und wegzulaufen. Aber hinter dem Haus standen weitere Polizisten in Zivil. Nur in Unterhosen würde ich wohl nicht weit kommen. Warum waren die mit so vielen Leuten hier? Da stimmte doch etwas nicht.

In meinem Zimmer angekommen, entdeckten die Polizisten gleich den Klamottenhaufen auf dem Boden.

«Sind das die Kleidungsstücke, die Sie gestern Abend getragen haben?»

Ich log. Erzählte, dass ich meine Sachen gestern Abend noch in die Waschmaschine gesteckt hätte. Ich merkte selbst, wie lächerlich sich das anhörte. Man konnte ja deutlich die Blutflecken auf Hose und Stiefeln erkennen. Sie packten alles in Plastiktüten und nahmen es an sich.

«Ziehen Sie sich etwas über. Sie kommen mit uns nach Celle aufs Revier.»

Sie hatten mir immer noch nicht gesagt, was los ist, aber ich traute mich auch nicht, danach zu fragen. Es konnte sich ja nur um die Sache von gestern handeln. Meine Eltern waren genauso sprachlos wie ich.

Wie waren sie auf mich gekommen? Hatte der Hippie mich so gut beschrieben? Und wie blöd war ich eigentlich, die Klamotten neben meinem Bett liegen zu lassen? Jetzt hatte ich der Polizei die Beweise, dass ich den Hippie verprügelt hatte, frei Haus geliefert.

Aber woher hätte ich wissen sollen, dass die wegen der Sache so einen Aufwand betreiben? Ich wusste, dass ich Mist gebaut hatte, aber streng genommen war es doch nur Hausfriedensbruch und Körperverletzung. Prügeleien gab es schließlich öfter, auch ich war schon so zugerichtet worden, ohne dass deshalb die Polizei gleich einen Großeinsatz gestartet hätte. Hatten die nichts anderes zu tun?

Ich ärgerte mich über mich selbst. Hätte ich nur die Klamotten versteckt, wäre ich doch bloß früher aufgestanden und weggefahren! Dann hätten sie keine Beweise gefunden, Marco und ich hätten uns gegenseitig ein Alibi gegeben, und bei zwei Aussagen gegen eine hätten sie ohne Beweise gar nichts machen können. Jetzt musste ich meine Dummheit ausbaden.

Über Funk kam die Meldung, dass sie Marco jetzt auch hatten.

Auf dem Revier wurde ich in ein Büro gebracht. Zwei Beamte blieben bei mir im Zimmer, und das Verhör begann.

«Nun erzählen Sie uns doch mal, was die Sache mit Herrn Deutschmann sollte», fängt einer der beiden an.

Deutschmann hieß er also, der Hippie. Bis eben kannte ich nur seinen Spitznamen.

«Ich weiß nicht, was Sie meinen», gab ich zurück.

Da wurde der Beamte plötzlich wütend. «Ich habe keinen Bock, mir Ihre blöden Sprüche anzuhören», polterte er los. «Sie sind wegen versuchten Totschlags an Peter Deutschmann hier, Mann!»

Ich war vorher schon total durch den Wind, aber seine Worte schockten mich noch mehr. Der Beamte machte den Eindruck, als würde er meinen, was er sagt.

Ich fragte trotzdem nach: «Ist das Ihr Ernst?»

Er nickte.

Das musste ein ganz mieser Albtraum sein.

Mühsam brachte ich heraus: «Wenn das so ist, dann will ich mit einem Anwalt sprechen.»

«Haben Sie einen?»

«Nein.»

«Dann müssen wir erst mal einen finden, der Zeit hat. Das kann dauern. Bis dahin werden wir Sie in Gewahrsam behalten. Sie bringen alles sehr viel schneller hinter sich, wenn Sie uns einfach erzählen, was passiert ist. Was Sie getan haben, ist zwar heftig, aber Herr Deutschmann ist außer Lebensgefahr. Da Sie nicht auf Bewährung sind, können wir Sie nach dem Verhör sicher wieder nach Hause lassen. Es liegt bei Ihnen, ob Sie das Ganze unnötig verlängern oder nicht.»

Der nächste Schock. Jetzt sprach er auch noch von Lebensgefahr! Wie konnte das sein? Deutschmann war doch noch bei Bewusstsein gewesen, als wir gegangen sind. Und jetzt schwebte er in Lebensgefahr?

Ich wollte nur noch weg. Dennoch, was der Beamte gesagt hatte, leuchtete mir ein. Ich machte also meine Aussage, erzählte, was passiert war. Aber ich verstand die Rückfragen nicht, die sie mir stellten. Redeten wir von derselben Tat?

«Woher kommen die Schnittwunden des Opfers? Und wer ist der Dicke, der zugetreten hat?»

Welche Schnittwunden? Und ja, ich hatte zugetreten, aber ich war doch nicht dick. Für mich ergaben diese Vorwürfe keinen Sinn. Wie kamen sie darauf? Ob vielleicht noch jemand in der Wohnung war, nachdem wir schon weg waren? Konnte ja sein, dass der Hippie noch andere Feinde hatte, die die Situation ausgenutzt und ihm den Rest gegeben hatten.

Das Verhör dauerte lange, und am Ende hatte ich selbst mehr Fragen als Antworten. Was sollte das Ganze? Ich fühlte mich furchtbar. Nur noch unterschreiben, und dann nichts wie weg, endlich raus aus diesem Irrsinn.

«Sie bleiben erst mal hier sitzen», bekam ich zu hören.

Einer der Beamten telefonierte.

«Darf ich jetzt endlich gehen?», fragte ich wieder.

Kopfschütteln. «Nein, Sie werden morgen dem Haftrichter vorgeführt. Heute Nacht bleiben Sie hier.»

«Das kann doch nicht wahr sein!», entfuhr es mir. «Sie haben mir doch versprochen, dass ich nach meiner Aussage gehen darf!»

«Nein», widersprach er. «Ich habe Ihnen gar nichts versprochen!»

Resigniert ließ ich mich in die Zelle führen.

Ich versuchte, es nüchtern zu betrachten. Wahrscheinlich war das alles nur ein Trick, eine pädagogische Maßnahme. Die versuchten, mich einzuschüchtern, damit ich merke, was passieren kann, wenn ich in der Szene bleibe. Am Ende würde der Haftrichter mich morgen doch wieder gehen lassen müssen. Es war nur Körperverletzung. Mehr wollte ich nicht, und mehr war es auch nicht. Okay, weil ich die Stiefel anhatte, würden sie es mir als gefährliche Körperverletzung auslegen, Springerstiefel gelten wegen der Stahlkappen als Waffen. Aber versuchter Totschlag? Warum hätte ich ihn denn töten sollen?

Die Nacht schien endlos, ich verlor jedes Zeitgefühl. Es gab in der Zelle keine Fenster, und das Licht brannte durchgängig. Irgendwann fand ich Ruhe und schlief. Ich war mir sicher: Mit dem neuen Tag würde alles besser werden.

Als mich die Polizisten zum Haftrichter brachten, war ich felsenfest davon überzeugt, das Gerichtsgebäude frei und unendlich erleichtert wieder verlassen zu können. Ich hatte mir genau überlegt, was ich dem Richter sagen würde, um ihn zu überzeugen, dass ich den Ernst der Lage tatsächlich begriffen hatte. Ich würde ihm sagen, dass ich mit dem Trinken aufhören und mich ab sofort von der rechten Szene fernhalten wollte. Ich war fest entschlossen, mein Leben zu ändern.

Erst beim Gang in den Saal traf ich wieder mit Marco zusammen, aber wir hatten keine Zeit, miteinander zu reden.

Drinnen las der Richter uns vor, warum wir vor ihm standen: «Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, versuchter Totschlag. Handgeschrieben steht noch dahinter …»

Er machte eine Pause, um zu lesen, und ich war erleichtert: Bestimmt stand dort, dass die Anklage nur noch auf gefährliche Körperverletzung lautete. Umso härter trafen mich die folgenden Worte: «… Totschlag. Das Opfer ist heute Morgen verstorben.»

Jetzt brach alles in mir zusammen. Lähmendes Entsetzen machte sich breit. Ich konnte gar nicht mehr hören, was der Richter sonst noch sagte, ob er überhaupt etwas sagte. Alles, was ich selbst hatte sagen wollen, war mit einem Schlag sinnlos geworden. Ich wusste, was jetzt passieren würde. Und ich wusste, dass ich nichts mehr tun konnte, um es zu verhindern. Für mich ging es jetzt nach Hameln, ab in den Jugendstrafvollzug.

 

Und dann sitze ich mit dröhnendem Kopf in einem Gefangenentransport ins Untersuchungsgefängnis. Wenn wir jetzt nur einen Unfall hätten, der meinem beschissenen Leben ein Ende setzen würde! Eine letzte große Katastrophe. Aber auch dieser heimliche Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen. Diese Fahrt wird mein Leben nicht beenden. Ein Betonsarg erwartet mich jetzt: der Jugendknast. Mir ist klar, jetzt habe ich die Grenze endgültig überschritten, es gibt kein Zurück mehr. Keine Ermahnungen und keine Warnungen mehr. Keine Rücksicht auf günstige Sozialprognosen. Kein Mitleid mehr, nur noch Verachtung und Bestrafung. Ab jetzt wird jeder in mir nur noch den brutalen Mörder sehen.

Einer der Bullen sagt: «Lasst uns auf dem Rückweg noch schnell einen Hamburger essen gehen.» Mit Blick auf mich fügt er hinzu: «Bei dem wird es bestimmt noch ein paar Jährchen dauern, bis er wieder was Leckeres vorgesetzt kriegt.»

Diese Schweine! Aber ich halte die Klappe. Es wäre sinnlos, einen Streit vom Zaun zu brechen. Andererseits käme es auf eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung jetzt auch nicht mehr an.

Ich beiße die Zähne zusammen, Wut steigt in mir hoch. Diese Maulhelden sind zu dritt und bewaffnet, da können sie leicht ihre Sprüche reißen. Ich dagegen bin an Händen und Füßen gefesselt. Reine Schikane. Das kenn ich schon, so läuft das immer: Wenn ich sie nur schief angucke, kriege ich eine Anzeige. Und sie sitzen dann als Zeugen vor Gericht und behaupten, sie hätten sich strikt an die Vorschriften gehalten, aber ich hätte gepöbelt und gewaltsam versucht, mich der Festnahme zu entziehen. Klarer Fall: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Arschlöcher! Die stecken doch alle unter einer Decke, die Bullen, die Staatsanwälte und die Richter. Von wegen, neutrale Justiz. Auf dem linken Auge blind, aber wenn die Haare kurz geschoren und die Stiefel stahlkappenverstärkt sind, gilt man gleich als Staatsfeind und ist schutzlos der amtlichen Willkür ausgeliefert. Noch während ich das denke, kippt meine Wut in Scham um: Ich bin nur noch Abschaum!

 

Wir haben die Autobahn verlassen und fahren durch einen Ort, in dem ich mich früher öfter mit Jungs aus meiner Schule getroffen habe. Das ist jetzt Vergangenheit. Wie lange werde ich nicht mehr hierherkommen können? Spätestens morgen werden alle wissen, was passiert ist. Das wird ein gefundenes Fressen für die, die es schon immer wussten: «Hab ich’s nicht gleich gesagt? Das wird noch mal schlimm enden mit dem. Der ist ein Nichtsnutz, ein Psychopath. Nichts als Nazi-Parolen und Saufen im Kopf.»

Einige Mitschüler werden sich bestimmt freuen, mich nicht wiedersehen zu müssen. Ihre Eltern werden dankbar sein, dass man ihren Kindern meine Anwesenheit nicht mehr zumutet. «Endlich ist er weg, dieser Nazi. Endlich bekommt er, was er verdient. Viel zu spät natürlich. Die Richter hätten gar nicht so lange zögern dürfen. Allein für seine braunen Gedanken hätte man ihn einsperren müssen!»

Ich scheiße darauf, was sie denken und sagen! Sie verachten mich, aber das beruht auf Gegenseitigkeit. All diese Privilegierten, die sich mit diesem miesen System arrangiert haben, begreifen gar nichts. Was wissen die schon von meinem Leben, von meinem aussichtslosen Kampf für eine bessere Zukunft, von den Werten und Idealen, für die ich einzutreten versuche? Was sie denken, ist mir vollkommen egal. Und die Presse? Sollen sie doch schreiben, was sie wollen. Dann haben sie endlich wieder etwas Spektakuläres zu berichten. Dann können sie ihren Lesern, deren eigenes Leben nichts hergibt, mal wieder etwas Aufregendes bieten. Und die können sich aus der Ferne an Mord und Totschlag ergötzen und sich mit ihrer kleinbürgerlichen Moral brüsten.

Aber nicht alle sind mir egal. Was wird Milena denken? Wir waren gestern verabredet, und sie hat noch immer nichts von mir gehört. Vielleicht hat sie schon mit meinen Eltern telefoniert. Aber wissen die mehr, als dass ich von der Polizei verhaftet worden bin? Wer weiß, was man ihnen erzählt hat. Es ist zum Kotzen, dass ich sie nicht selbst anrufen kann. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich Milena das alles erklären soll, aber die Schlagzeilen würde ich schon gern relativieren. Ich möchte einfach nur ihre Stimme hören und ihr sagen, wie leid es mir tut.

Ich bin doch kein Mörder! Wie konnte das nur passieren? Ich weiß überhaupt nicht, woran Peter Deutschmann gestorben sein soll. Das waren doch nur ein paar Schläge und Tritte, die einen Mann seiner Statur nicht wirklich gefährden konnten. Keine Waffe, kein Messer, kein Knüppel. Er war nicht mal bewusstlos, er hat sich doch noch bewegt, als wir abgehauen sind. Wäre es anders gelaufen, wenn ich nüchtern gewesen wäre? Scheiß Alkohol! Ich wollte doch aufhören zu saufen. Immer passiert etwas Schlimmes, wenn ich besoffen bin.

In der Nacht, in der ich mit Stefan und seinen Freunden in meinen vierzehnten Geburtstag hineinfeierte, war ich das erste Mal richtig betrunken. Von da an nutzte ich jede Gelegenheit, um dieses miese Gefühl loswerden zu können, das mich beherrschte, seit ich denken konnte: eine Mischung aus Angst, Ohnmacht und Scham. Ich sehnte mich nach Betäubung. Wenn ich betrunken war, verlor ich all meine Hemmungen, fühlte mich endlich leicht. Ich genoss den Rausch, wuchs über mich selbst hinaus, fühlte mich stark und unangreifbar. Alkohol war genau meine Droge, ich war schnell psychisch abhängig von ihr. Es dauerte nicht lange, bis ich regelmäßig Filmrisse hatte.

Stefan war ein Junge aus der Nachbarschaft. Meine Eltern hatten ihn wohl gebeten, sich ein wenig um mich zu kümmern, da sie selbst mich nicht mehr erreichen konnten und ich immer verstockter auf sie reagierte. Stefan war ein paar Jahre älter als ich und machte bereits eine Ausbildung. Mit ihm und seinen Freunden fuhr ich morgens gemeinsam im Bus nach Celle ins Gymnasium. Ich fühlte mich wohl im Kreis der Älteren, sie schienen mich ernst zu nehmen, sie beachteten mich. Wenn sie sich abends nach der Arbeit oder der Berufsschule trafen, schloss ich mich ihnen wieder an. Sie waren allesamt nicht besonders gut auf Ausländer zu sprechen.

In unserer Gegend gab es viele Kurden. Mit dem Bus fuhren wir an den Häusern vorbei, in denen sie in meist großen Familien lebten. «Asylanten, Kanaken» – diese Worte wurden mir schnell vertraut, und bald kamen sie mir genauso leicht über die Lippen wie Stefan und seinen Kumpanen.

Wir sind in Hameln angekommen, aber der Fahrer kennt den Weg zum Gefängnis nicht. Wir fahren am besten wieder zurück, denke ich. Und am besten drehen wir dabei auch gleich die Uhr zurück. Man müsste die letzten beiden Tage einfach ungeschehen machen. Diese Erfahrung ist mir doch Lektion genug, um mein Leben endlich zu ändern. Diesmal wirklich. Ich war doch schon unterwegs in ein ganz anderes Leben. Ich hatte doch schon beschlossen, mich ganz aufs Internat zu konzentrieren, mit dem exzessiven Trinken aufzuhören. Was bringt es denn jetzt, wenn ich für die nächsten Jahre weggesperrt werde?

Außerdem bin ich doch nicht der Einzige, der Scheiße gebaut hat. Es gibt genug andere, die für mich verantwortlich waren und die es immer wieder verpfuscht haben. Mit welchen Konsequenzen müssen die eigentlich rechnen?

Irgendwann fühlte ich mich nur noch allein. Ich kam mir wie ein Fremder vor, egal wo ich war. Auch zu Hause. Einmal kam mir sogar der Gedanke, als Baby im Krankenhaus vertauscht worden zu sein, so wenig zugehörig fühlte ich mich meiner Familie, so fremd fühlte ich mich in Eschede. Ich war erst sechs gewesen, als wir Ende der achtziger Jahre von Celle nach Eschede gezogen waren, in eine neue, ganz fremde Umgebung.

Meine Eltern konnten mich nicht auffangen, sie hatten genug mit sich selbst zu tun, spätestens seit die Krankheit meiner Mutter sich so verschlimmert hatte, dass es unser ganzes Leben betraf. Ich kann mich kaum an die Zeit erinnern, als meine Mutter noch gesund war. Ich weiß aber, dass wir in Celle noch gemeinsam Ausflüge unternommen haben. Meine Mutter saß dabei immer am Steuer, bis sie aufgrund einer motorischen Störung einen Unfall verursachte. Die Multiple Sklerose brach schon vor meiner Schulzeit bei ihr aus, und als ich eingeschult wurde, war meine Mutter nicht einmal mehr in der Lage, uns morgens zu wecken. Zunächst ging sie noch am Stock, aber dann kam sie nicht mehr die Treppe zu den Kinderzimmern hoch, weil sie plötzlich an den Rollstuhl gefesselt war.

Mein Vater, der seit einem Fahrradunfall als Kind fast blind ist, verlor gleichzeitig mit unserem Umzug seine Arbeit beim Schwarzen Kreuz. Ich konnte damals noch nicht realisieren, was das für unsere Familie bedeutete, aber ich war plötzlich von Scham umgeben.

Ich wurde nie heimisch in Eschede. Aber es blieb bis zu meiner Inhaftierung mein einziges Zuhause.

Der Fahrer weiß immer noch nicht, wohin. Dann findet er ein Hinweisschild. Sein Problem ist damit gelöst, mein nächstes wartet dagegen schon auf mich: die Jugendanstalt. Wie sich das anhört … Dort werde ich also den Rest meiner Jugend verbringen. Die U-Haft soll noch schlimmer sein als die anschließende Strafhaft, hat mir mal ein Kamerad erzählt. Aber was genau heißt das? Wie lange wird es bis zur Verhandlung dauern? Die Mühlen der Justiz mahlen ja nicht gerade schnell. Und dann? Wie viele Jahre werden sie mir aufbrummen? Zehn Jahre ist die Höchststrafe für Jugendliche, das haben mir die Kripobeamten bereits angedroht. Wenn ich so lange sitzen muss, werde ich für immer gebrandmarkt sein. Zehn Jahre, was für ein gewaltiger Zeitraum – vor zehn Jahren war ich gerade mal sieben Jahre alt.

Meine Schwester war zwei Jahre älter als ich, konnte sich auf dem Schulhof gegen den Mitschüler, der sie drangsalierte, nicht wehren. Ich prügelte mich mit dem Jungen, der einen Kopf größer war als ich, bis er mit blutender Nase aufgab. Für einen Moment lernte ich das Gegenteil von Scham kennen: Ich war stolz darauf, meiner Schwester geholfen zu haben.

Es war das erste Mal, dass ich zuschlug. Für einen Augenblick fühlte es sich gut an. Zum ersten Mal war ich stärker als meine Angst.

Wir fahren auf die Anstalt zu. Groß und hässlich liegt sie da, umgeben von hohen Betonmauern, die mit Stacheldraht und Kameras gesichert sind. Graue Gebäude mit vergitterten Fenstern. Wir halten auf dem Parkplatz. Es regnet immer noch. Die Beamten öffnen mir die Autotür, eine Hand immer gut sichtbar an der Dienstwaffe.

«Endstation! Aussteigen, Freundchen!», herrscht mich der Fahrer an.

Wie recht er hat. Hier endet mein Leben in Freiheit. Was hat mich hierher gebracht? Wenn ich gewusst hätte, dass es hier enden würde. Wäre ich doch vorher ausgestiegen …

Untersuchungshaft

Einer meiner Begleiter läuft zur Pforte und redet über die Sprechanlage mit den Wärtern. Es geht schnell, wir sind angemeldet. Natürlich. Meine Bewacher bringen mich hinein. Ich werfe einen letzten Blick nach draußen, bevor sich die Tür hinter mir schließt.

Die Polizeibeamten erledigen ihren Papierkram und nehmen mir dann die Handschellen ab. Sie übergeben mich den Justizbeamten: «Passt bloß gut auf den auf!»

Natürlich höre ich es. Die Wärter wissen, weshalb ich hier bin, und geben sich alle Mühe, mir klarzumachen, dass ich gegen sie keine Chance habe. Ich werde durch diverse Türen geführt, die vor mir auf- und hinter mir wieder zugeschlossen werden. Dann muss ich meine Taschen ausleeren. Außer Portemonnaie und Haftbefehl habe ich nichts dabei. Den Haftbefehl darf ich behalten. Der Inhalt meines Geldbeutels dagegen wird akribisch geprüft, anschließend muss ich die Übergabe meiner Habseligkeiten per Unterschrift bestätigen.

«Sie bekommen Ihre Sachen bei der Entlassung wieder», sagt einer der Wachleute mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht.

Einen Ausweis habe ich nun nicht mehr, stattdessen teilt man mir eine Nummer zu.

«Die Zahl merken Sie sich besser», heißt es. «Die wird für lange Zeit wichtiger als Ihr Name sein.»

So läuft das hier also. Ich bin jetzt eine Nummer.

Durch die nächste Tür werde ich in einen kahlen Raum geführt. Die Beamten streifen sich Plastikhandschuhe über. «Ausziehen!»

Ich lege Schuhe, Hose und T-Shirt ab.

«Den Rest auch!»

Die Bullen haben mich doch schon durchsucht, was für eine Schikane! Aber ich will es nicht gleich zum Streit kommen lassen und füge mich. Die Beamten suchen mich von oben bis unten ab, lassen keine Körperöffnung aus. Was erhoffen sie sich, bei mir zu finden? Was für ein frustrierendes Leben sie wohl führen, dass sie sich an meiner Nacktheit ergötzen müssen. Aber bitte, den Anblick meines durchtrainierten Körpers könnt ihr gratis haben. Davon könnt ihr doch nur träumen! Reglos stehe ich da und warte darauf, dass ich mich wieder anziehen darf.

Der nächste fensterlose Raum, eine Bank und ein Tisch, an dem ich auf den Arzt warten soll. Allein in dieser scheußlichen Umgebung warten zu müssen, quält mich. Lange Zeiten, in denen rein gar nichts passiert, in denen ich einfach nur da bin ohne die geringste Möglichkeit, irgendetwas tun zu können – ich kann nicht einmal mehr weglaufen. Ich bin allein mit meinen Gedanken, die immer lauter in meinem Kopf dröhnen. Ich fühle mich vollkommen ausgeliefert, nicht nur denjenigen, die irgendwann durch diese Tür kommen werden – auch mir selbst.

In meiner Erinnerung gab es zu Hause kaum Spielzeug für uns Kinder. Das Geld war äußerst knapp. In Celle hatten meine Eltern beide noch Arbeit, dann, als wir nach Eschede umzogen, waren sie beide fast gleichzeitig ohne Verdienst. Bis heute weiß ich aber nichts Genaues über unsere damaligen Verhältnisse, wir haben nie darüber gesprochen. Ich empfand uns immer als arm, obwohl wir ein Haus besaßen und meine Eltern immer wieder Geld spendeten, wenn in den Medien über akute Not irgendwo in der Welt berichtet wurde. Meine Familie war nicht nur finanziell in Not geraten. Die Sorge darum, wie es weitergehen soll, die Sorge um unser aller Wohl muss für meine Eltern so schlimm gewesen sein, dass sie den Mangel an Zuwendung, an Austausch gar nicht bemerkten. Auch nicht die Bedürfnisse ihrer eigenen Kinder.

Ich schämte mich für unsere billige Kleidung, das billige Essen, das nicht vorhandene Spielzeug. Aber vor allem schämte ich mich für meine behinderten Eltern. Für ihre Hilfsbedürftigkeit, ihre Abhängigkeit, dafür, dass sie nicht so waren wie die anderen Eltern. Nie habe ich Schulkameraden zu uns nach Hause eingeladen.

Unser neues Zuhause war wie ein Versteck.

Zwischenzeitlich hatte ich mir immer wieder vorgeworfen, mich meinen Eltern nicht anvertraut zu haben. Ich ließ sie nie wissen, wie leer, einsam und arm ich mich fühlte. Aber wie hätte ich davon erzählen können? Ich war ein Kind und hatte es nie gelernt, über Gefühle zu sprechen. Natürlich hatten meine Eltern genug Sorgen und Ängste, das weiß ich heute, aber als Kind konnte ich all das nur ahnen – darüber geredet haben wir nie.

Ich habe jetzt schon keinen Bock mehr. Ich will nur noch weg. Irgendeinen Weg muss es doch geben. In Filmen klappt das doch auch immer mit dem Ausbrechen. Aber nicht einmal aus diesem Raum gibt es für mich einen Ausweg. Wände und Türen aus Beton und Stahl, außerdem habe ich keinerlei Werkzeug. Ein Entkommen aus diesem Gefängnis ist absolut unmöglich. Ich muss das ertragen, muss versuchen, meine Anspannung in den Griff zu bekommen. Meine Muskeln verkrampfen sich allein bei dem Gedanken, weiter hier ausharren zu müssen. Wo bleibt denn dieser Arzt?

Mir wird heiß, und ich habe Durst. Ich fühle mich dreckig und klebrig. Ich bin jetzt schon zwei Tage inhaftiert, konnte mich seitdem nicht waschen, mir nicht die Zähne putzen, trage immer noch die gleichen Klamotten.

Endlich geht die Tür auf.

Ich erschrecke, als ich den Arzt sehe. Dieses Gesicht, der Körperbau – für einen Augenblick erkenne ich in ihm den Hippie, mein Opfer, den Mann, der doch angeblich tot sein soll. Mein Gehirn muss mir gerade einen bösen Streich spielen.

Der Schrecken währt nicht lange. Nach einer kurzen Untersuchung verlässt der Arzt den Raum wieder. Beamte kommen und führen mich zur Kleiderkammer. Ich werde fotografiert, mir werden Bettwäsche, Geschirr, Handtücher und ein paar schäbige Klamotten ausgehändigt, dann werde ich weitergeschoben. Wir betreten den Innenhof des Gefängnisses. Ich bekomme eine Ahnung, wie groß die Anstalt ist. Um den Hof herum befinden sich die Gebäude mit den vergitterten Zellenfenstern. Es ist ziemlich laut. An zahlreichen Fenstern stehen Insassen und unterhalten sich in allen möglichen Sprachen. Es gibt offenbar jede Menge Ausländer hier.

Wir gehen nur ein kurzes Stück über den Hof bis zum benachbarten Haus. Das also ist das Gebäude für die U-Haft. Im Eingangsbereich sitzen zwei Beamte hinter Panzerglasscheiben. Außer ihnen ist auf dem Flur niemand zu sehen. Sie nehmen mich in Empfang.

«Legen Sie Ihre Sachen erst einmal auf den Boden und kommen Sie mit. Der Hausleiter will Sie kennenlernen.»

Wir gelangen in einen Nebenflur, auf dem sich offenbar nur Büros befinden. Zellen gibt es hier im Erdgeschoss wohl nicht. Der Beamte klopft an eine Tür: «Herein!», ruft jemand von drinnen.

Wir folgen der Aufforderung. Der Hausleiter – er trägt Zivilkleidung – blickt mich kurz an, bleibt aber hinter seinem Schreibtisch sitzen, gibt mir nicht die Hand. Ich soll auf der anderen Seite Platz nehmen, während der Beamte in der Tür stehen bleibt. Meine Akte liegt auf seinem Schreibtisch, der Hausleiter will aber auch meinen Haftbefehl sehen.

«Das ist ein krasses Verbrechen, das Sie da begangen haben», sagt er. «Kommen Sie damit halbwegs klar? Oder muss ich mir Sorgen machen, dass Sie sich hier etwas antun?»

«Nein, müssen Sie nicht», antworte ich. Ich habe absolut keine Lust, mich jetzt hier auf irgendein Gespräch einzulassen. Ich will einfach nur so bald wie möglich allein sein.

«Ich empfehle Ihnen, den anderen Insassen nicht zu erzählen, dass Sie jemanden getötet haben. Das könnte für Probleme sorgen.»

Ich verstehe nicht, was er damit meint, frage aber nicht nach. Glaubt er etwa, ich wollte mit meiner Tat angeben?

Jetzt spricht er mich auch noch auf meine politische Einstellung an. «Es gibt hier zahlreiche ausländische Gefangene – können Sie mir garantieren, dass es da keine Auseinandersetzungen gibt?»

«Es wäre auf jeden Fall besser, wenn ich nicht so viel Kontakt mit Ausländern hätte», erwidere ich.

Er kommentiert das nicht weiter. Ich habe keine Ahnung, ob ihm meine Aussage passt oder nicht. Er hat mich schließlich gefragt, also musste er mit dieser Antwort rechnen.

«Damit haben wir für das Aufnahmegespräch alles geklärt. Die anderen Insassen haben schon Einschluss, und Sie werden jetzt auch in Ihren Haftraum gebracht. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich an die Beamten wenden.»

Der für mich zuständige Aufseher hilft mir, meine «Haftausstattung» in die zweite Etage zu bringen. Genau wie im ersten Stockwerk befinden sich dort vier Stahltüren. Er schließt eine auf, und wir betreten einen Flur. Auch dort: ein Büro hinter Panzerglas. Nach ein paar Schritten erreichen wir meine Zelle. Der Raum ist winzig, neben der Tür befindet sich ein abgetrennter Bereich mit Toilette und Waschbecken, sonst sehe ich ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, einen Schrank und ein kleines Regal über dem Bett.

Der Beamte weist mich auf einen kleinen Alarmknopf an der Wand hin. «Das ist die Ampel. In Notfällen – aber wirklich nur in Notfällen – können Sie den Knopf drücken, dann kommt Hilfe. Gleich bringt Ihnen meine Kollegin Ihr Abendbrot. Morgen ist Aufschluss um sechs Uhr. Gute Nacht.»

Dann geht er und verriegelt von außen die Tür.

Jetzt bin ich mit mir selbst allein. Es ist immer noch nicht still in meinem Kopf, dieser Tag hat mir keinen einzigen Moment Ruhe gegönnt. Von jetzt auf gleich habe ich den Boden unter den Füßen verloren. Ich bin kein Skinhead mehr, ich bin ein Verbrecher in Anstaltslumpen. Dieses eine Wort aus dem Mund des Richters pocht wie ein böses Mantra gegen meine Schädeldecke: «Totschlag, Totschlag, Totschlag!»

Der Tag ging so schnell vorbei, dass ich gar keine Zeit hatte, irgendwelche von diesen furchtbaren Dingen zu verarbeiten, vor denen ich nun nicht mehr flüchten kann. Wie konnte alles so gründlich danebengehen? Vor 48 Stunden sah mein Leben noch ganz anders aus. Ich war zum ersten Mal glücklich und freute mich auf meine Zukunft! Und jetzt? Mein Leben ist in diesem Jetzt gefangen. Und dieses Jetzt ist ein Riesenproblem, größer als alle Probleme, die ich jemals hatte. Meine kleine kaputte Welt, der ich irgendwie zu entkommen versuchte, so lange ich denken kann, ist zur Hölle geworden. Aber diese Hölle auf Erden habe ich mir selbst geschaffen, also muss ich sie ertragen. Auch wenn ich jetzt lieber tot wäre.

Marco war bereits ein Skinhead, als ich ihn wiedersah. Nach der Grundschule hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich war nach Celle aufs Gymnasium gekommen, schon wieder in eine fremde Umgebung. Auch da fand ich keinen Anschluss, blieb ohne Freunde, fühlte mich noch mehr als Außenseiter, verloren in meinen Angst- und Schamgefühlen, die stärker, bedrohlicher und schließlich immer konkreter wurden.

Meine Noten waren schon in der Grundschule gut gewesen, lediglich die Mitarbeit im Unterricht ließ immer wieder zu wünschen übrig. Ich befürchtete einerseits, als Streber zu gelten, und andererseits, mit meinen Leistungen abzurutschen. Meine Eltern erwarteten von mir immer gute Noten, sie waren der Meinung, mir fiele einfach alles zu. Eine Anerkennung meiner Ergebnisse bekam ich von ihnen nie.

Als ich aufs Gymnasium wechselte, hatte ich meine Mutter eigentlich schon verloren. Seit der Urinbeutel an ihrem Rollstuhl hing, gab es keine Umarmungen mehr.

Ich bin ein Totschläger. Wie denken die Leute jetzt über mich? Meine Freundin, meine Eltern, Kameraden und Mitschüler, meine Lehrer? Ich frage mich das immer wieder und will doch die Antwort darauf gar nicht hören. Ich bin durcheinander, schäme mich, fühle mich schuldig. Doch ich kann mich dabei gar nicht spüren, ich weiß nur, dass dieser Zustand mich wahnsinnig macht. Ich bin traurig, wütend und verzweifelt zugleich, aber ich kann nicht, ich darf nicht weinen. Mir gehen tausend Dinge durch den Kopf, die ich mir immer und immer wieder vorwerfe: Alles hätte nur ein klein wenig anders laufen müssen, dann säße ich jetzt nicht hier.

Draußen nehme ich jetzt Stimmen wahr. Ich gehe zum Fenster. Aus irgendeiner Zelle dringt laute Musik, an den meisten Fenstern, die ich sehen kann, stehen Häftlinge; oder sie sitzen auf den Fensterbänken. Sie unterhalten sich in verschiedenen Sprachen. Ich will es nicht hören, lasse mein Fenster zu. Von meinen Kameraden sitzt niemand hier ein. Marco haben sie in eine andere Anstalt gebracht. Seit unserer Festnahme konnten wir nicht mehr miteinander reden, «Tätertrennung» heißt das in der Justizsprache.

Obwohl es hier so viele Insassen gibt, fühle ich mich allein. Was verbindet mich schon mit ihnen? Man wird ein Auge auf mich haben, allein aufgrund meiner politischen Einstellung. Ich muss höllisch aufpassen, ich weiß ja noch gar nicht, wie hier der Hase läuft. Ich weiß nur, dass ich hier offensichtlich meine Zeit nicht als Deutscher unter Deutschen verbringen werde.

Ich kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Das muss aufhören, ich habe ganz andere Probleme. Meine Wut hält dagegen: «Lass dich nicht verbiegen», zischt sie. «Erst recht nicht hier.»

Ich höre, wie die Gruppentür aufgeschlossen wird, das Klimpern der Schlüssel kommt näher. Mein Türschloss wird geöffnet. Eine Frau in Justizuniform steht in der Tür. Sie gibt mir eine Tüte mit Brot und etwas Wurst, außerdem eine Packung Margarine und ein Glas Marmelade.

«Das ist die Ration fürs Abendessen und das morgige Frühstück. Ich lasse Ihnen noch einen Stift und ein paar Blätter Papier hier. Damit können Sie Briefe schreiben, aber auch, was Ihnen so durch den Kopf geht. Vielleicht hilft Ihnen das. Für Ihren ersten Brief können Sie eine Briefmarke bekommen, weitere Briefmarken müssten Sie dann allerdings kaufen. Wie das mit dem Einkaufen geht, werden wir Ihnen später erklären. Das dauert eh noch ein paar Tage.»

Ich bin froh über das Essen. Es ist zwar nichts Besonderes, aber besser als trockenes Brot und Wasser, außerdem habe ich seit dem Frühstück nichts gegessen.

Ich sehne mich nach Milena. Mir ist sofort klar, dass ich hier drin Sport treiben muss, um nicht durchzudrehen. Ob das wohl geht? Worauf habe ich überhaupt noch Anspruch, nachdem ich einen Menschen getötet habe?

Es ist zum Kotzen, mit diesen Gedanken und diesen beschissenen Empfindungen allein zu sein. Ich würde gern mit jemandem darüber reden. Mit wem, wenn nicht mit Milena? Warum haben sie mich nicht mit ihr telefonieren lassen? Aber selbst sie könnte mir jetzt kaum etwas anderes sagen, als dass ich richtig Mist gebaut habe. Und das weiß ich längst selbst.

Wenn Marco hier wäre, könnten wir über die Sache reden. Die ganze Aktion war total unnötig und sinnlos. So etwas haben wir doch noch nie gemacht. Warum sind wir nicht einfach auf dem Spielplatz sitzen geblieben und haben uns weiter volllaufen lassen? Wie es Marco wohl gerade geht?

Mein Stolz, meine alte Wut kommt hoch. Wenn wir verprügelt worden sind, hat man die Angreifer nie verhaftet oder verurteilt. Als Nazis waren wir von vornherein immer die Schuldigen. Dabei wollte ich doch nur das Beste für mein Land. Ordnung und Gerechtigkeit, Sicherheit. Und jetzt bin ich hier.