Haupttitel

Mechthild von Magdeburg

 

„Das fließende Licht der Gottheit“
Textauswahl und Kommentar von Gerhard Wehr
marixverlag
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Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz
Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2
 
ISBN: 978-3-8438-0061-7
 
www.marixverlag.de

Inhalt

Einführung

Frauen im Stromgebiet mystischer Erfahrung

Vom lateinischen zum volkssprachlichen Glaubenszeugnis

Mechthild, eine Troubadoura der Gottesminne

Eine unbekannte Begine

Mechthilds Buch

Zu den vorliegenden Texten

»Das Fließende Licht der Gottheit« gibt sich kund

Das umstrittene Buch

Vom Ursprung her

Auf dem Weg zur mystischen Hochzeit

Zur Hofreise der Seele

Wie die Seele Gott rühmt

Die aus Lust und Schmerz gebildete Seele

Innere Zwiesprache

Wundersame Vorbereitung

Mit der Engelchöre Hochgesang

In der Sphäre der Vereinigung

Nachspiel der Minneflut

Von Sankt Mariens Botschaft

Unterwegs zu dem Einen

Worte des Geleits und der Weisheit

Die Christenheit in Licht und Schatten

Zeugnisse der letzten Lebenszeit

Allezeit mit Gott vereint sein

Wie ein Mensch Gott suchen soll

Gotteslob mit allen Kreaturen

Gleichnis vom Arbeiter

Einem Pilger gleich

Zu den sieben Tagzeiten

Mariengruß

In demütiger Gesinnung

Wesenszüge der Liebe

Das Herz des geistlichen Menschen

Sieben Dinge zu Gottes Ehre

Unter die Hand Gottes gebeugt

Epilog:

Literatur

Fußnoten

Kontakt zum Verlag

Einführung

Frauen im Stromgebiet mystischer Erfahrung

Von ungezählten Rinnsalen religiösen Verlangens und einer lebendigen Gottessehnsucht begleitet, durchzieht ein in seiner Art machtvoller Strom die geistig-geistliche Landschaft Europas in den Jahrhunderten um die und vor allem nach der ersten Jahrtausendwende. Man spricht von der Blüte- und Hoch-Zeit der christlichen Mystik, das heißt einer Sehnsucht und eines Strebens nach unmittelbarer Gottes- und Selbsterfahrung, die die Formen und Grenzen der allgemeinen Frömmigkeit überschreiten. Gemäß ihren besonderen Seelenmöglichkeiten und auch ihrer unterschiedlichen Stellung in Kirche und Staat nehmen Männer wie Frauen je auf ihre Weise daran teil, innerhalb wie außerhalb der Klöster: Jahrhundertelang haben die Ordenshäuser als die maßgeblichen Zentren des religiösen wie des allgemeinen kulturellen Lebens gedient. Obwohl die Frau jener Epoche aufgrund ihrer mangelnden Wertschätzung innerhalb der Gesellschaft von der Wissenschaft und vom Kultusvollzug als Priesterin ausgeschlossen blieb, konnte sie jedoch niemand von den unmittelbaren Quellen der Spiritualität abschneiden.

Mit guten Gründen spricht man von einer breiten und starken weiblichen Frömmigkeitsbewegung, auch wenn es dieser Strömung noch nicht beschieden war, sich als eine bürgerliche, mit politischen Zielen verbundene Freiheitsbewegung zu formieren.1 Religiöse Frauen, offensichtlich nicht nur Nonnen, vermochten gemäß ihrer jeweiligen individuellen Aufnahmefähigkeit aus dem von der Gottheit herabstrahlenden Licht zu schöpfen. Es geschah in allerlei inneren Eingebungen (Auditionen) und (nicht-optischen) Gesichten (Visionen).2 Manchen war es gegeben, bald auf Anregung, bald trotz Verbots ihrer geistlichen Führer, das Empfangene auch schriftlich festzuhalten. Und die dafür erforderliche geistig-geistliche Kompetenz mussten sie von keiner der irdischen Autoritäten in Staat oder Kirche entlehnen. »Der Geist weht wo er will«.

Geistlich ist der Mensch letztlich autonom, auch wenn sich der Betreffende oder die Betreffende je nach der allgemeinen Situation von Fall zu Fall bald einer kirchlichen, bald einer psychiatrischen Prüfung unterziehen lassen muss, um gegenüber dem inkompetenten Urteil Außenstehender gewappnet zu sein. Eine von den aus der Menge herausragenden religiösen Frauen, Mechthild von Magdeburg, und viele andere Ihresgleichen waren oft selbstbewusst genug, um zu wissen, dass dieses ihr innerlich zuströmendes »Fließendes Licht« höheren Ursprungs ist, weil sie davon überzeugt waren, ihr Erleben unmittelbar von Gott selbst inspirativ empfangen zu haben. Diese Überzeugung bestärkte sie darin, berechtigt, ja beauftragt zu sein, ihre göttlichen Eingebungen in das jeweils verfügbare Gefäß der dichterischen Sprache zu gießen, um anderen daran Anteil haben zu lassen.

Die Forschung (B. McGinn) hat gezeigt, inwiefern mit dem Beginn des 13. Jahrhunderts, also etwa ab 1200, ein epochaler Einschnitt erfolgt ist, für den es mancherlei soziale, religiöse wie bewusstseinsgeschichtliche Ursachen gibt. Gemeint sind die ebenso tiefgreifenden wie folgenreichen Veränderungen in der abendländischen Gesellschaft und in den von Umbrüchen durchsetzten Vorgängen im kirchlichen Leben. Auf die Religiosität bezogen handelt es sich um das Bestreben, zu einem möglichst unmittelbaren Erleben der Gottesgegenwart zu gelangen, wobei die Bezeichnung Gotteserfahrung nicht selten überdimensioniert erscheint. Darf denn alles, was religiös getönt ist, was als einzigartig und außerordentlich empfunden wird, bereits dem Grund der Gottheit zugeschrieben werden? Gilt da nicht Parzivals sehnsüchtig fragender Ausruf: Owe muoter, waz ist got? Differenzierungen sind angebracht: »Diese Entwicklungen lassen sich unter drei Überschriften ordnen: 1. Neue Vorstellungen, wie das Verhältnis zwischen Welt und Kloster auszusehen habe; 2. Eine neue Beziehung zwischen Männern und Frauen auf dem mystischen Weg und 3. Neue Formen der Sprache und Darstellungsweise des mystischen Bewusstseins.«3

Zu den Kontexten der Zeitsituation gehört auf dem religiösen und Bildungsbereich, dass zu den herkömmlichen Klosterschulen nach und nach Stadtschulen treten. Das Jahr 1215 gilt als Datum der Gründung der Universität Paris, an der alsbald so profilierte Dominikanermönche wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Meister Eckhart studierten beziehungsweise lehrten. Die geistigen Söhne des Franz von Assisi trugen auf ihre Weise dazu bei, die mit Frömmigkeit durchsetzte Gelehrsamkeit jener Jahrhunderte zu profilieren. Das im Spätmittelalter sich auf verschiedenen Ebenen erneuernde evangelische Armutsideal der Vita apostolica, das Bestreben, in der Weise Jesu und der Apostel zu leben, vermittelte in der Gesellschaft wichtige Impulse für eine Imitatio Jesu Christi.

Diese ins praktische Leben umgesetzte Gesinnung forderte gleichzeitig die mit Reichtum und Macht verflochtene Kirche heraus. Der Himmel schien den Reichen, den Mächtigen vorbehalten zu sein. Der Himmel war käuflich geworden − ein immer wieder sich manifestierendes Krebsgeschwür eben dieser Kirche! Was nicht durch die der Armut verpflichteten, zur fraglichen Zeit geschichtlich bedeutsam werdenden Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner zu ordnen war, alarmierte die die sogenannte Ketzerei bekämpfende, von Dominikanern getragene Inquisition. Wie sich zeigen sollte, waren viele gefährdet, eben auch solche Gestalten aus den eigenen Kreisen, die wie der Dominikaner Meister Eckhart oder seine Zeitgenossin, die Begine Marguerite Porete, dem Urteilsspruch der Ketzerrichter verfielen. Als Irrlehrer verfemt und auf ein halbes Jahrtausend der öffentlichen Anerkennung entzogen wurde der berühmte Denker und Mystiker; Marguerite Porete wurde am 1. Juni 1210 in Paris öffentlich verbrannt.4

Mit dem Namen dieser Frau ist eine Gruppe von Frauen (religiosae mulieres) verbunden, die sich eben dieser Frömmigkeitsrichtung der Vita apostolica verschrieben hatten, nämlich die Beginen. Es handelt sich um »die mittelalterliche Bezeichnung für Frauen, die seit dem späten 12. Jahrhundert die üblichen Frauenrollen, Gattin und Mutter beziehungsweise Nonne, wenigstens zeitweise ablehnten, um eine neue Lebensform zu wählen: Beginen wohnten meist gemeinsam in Häusern und Konventen, später in eigenen Siedlungen innerhalb von Städten (Beginenhöfen) oder zogen trotz vieler Verbote vagierend umher. Sie verzichteten besonders anfangs freiwillig auf jeden Wohlstand und ernährten sich durch Bettelei oder Handarbeit. Ziel dieser Lebensform war es, für ein intensives Frömmigkeitsleben frei zu sein, ohne lebenslänglich durch die monastischen Gelübde gebunden zu sein. Im Spätmittelalter waren die Beginen und ihr zahlenmäßig geringeres männliches Pendent, die Begarden, oft Verfolgungen ausgesetzt, da sie vielfach unbegründet als Angehörige der Sekte des Freien Geistes betrachtet wurden …«5

Aber nicht nur Menschen, die sich wie jene übel beschimpften freien Geister6 mitunter in euphorischer Weise über die geltenden Formen von Dogma und Moral hinwegzusetzen versuchten und dadurch die rigorose Ablehnung der kirchlichen Oberen auf sich zogen, stellten eine Herausforderung dar. Die Armut als solche bedeutete für breite Volkskreise, ähnlich wie die Geißel der Pest, eine ständige existenzielle Bedrohung. Ungezählten stand nur der Weg ins Elend offen.7 Es war eine nicht zuletzt durch soziale Umbrüche mitbedingte, dabei nicht weniger eine geistlich motivierte Armutsbewegung, die sich Bahn brach. Ihr Exponent Franz von Assisi (gestorben 1226) hatte sie mitinitiiert. »Nackt dem nackten Christus folgend« hatte er sich mit »Frau Armut« (donna povertá) vermählt. Quer durch Europa hatte er Männer wie Frauen dazu angeregt, dieses Armutsideal in alltägliche Lebenspraxis umzusetzen: für eine saturierte Christenheit, vor allem für ihre einem ungeistlichen Leben hingegebenen Prälaten, ein außerordentliches Ärgernis. Dem suchten sie mit dem Vorwurf der schändlichen Ketzerei und durch allerlei Gewaltmaßnahmen zu begegnen.

Auch und gerade die Beginen hatten sich dieser teils von persönlicher Not diktierten, teils freiwillig aufgenommenen Armut verschrieben, und zwar, wie mancherlei Beispiele zeigen, in Verbindung mit einer flammenden »Gottesminne«. Arme als Gottes geliebte Freunde und Freundinnen verdienen bedenkenlose Zuwendung und Sympathie. Das ließ diese mulieres religiosae als beispielgebende Zeitgenossinnen zeit- und gesellschaftskonform erscheinen, sofern sie nicht predigend und lehrend auftraten. Sie verbreiteten sich zunächst im niederdeutschen Raum. Bis Mitte des 13. Jahrhunderts hatte die Beginenbewegung in nordeuropäische Provinzen Einzug gehalten.8 Erste urkundliche Zeugnisse über diese klösterlich nicht reglementierten, doch bald in konventartigen, wenngleich in sozial verschieden strukturierten Gebilden lebenden religiösen Frauen liegen (1223) für Köln vor. Nach und nach siedelten sich auch in süddeutschen Städten Beginen an. Sie fanden vonseiten der kirchlichen Allgemeinheit eine gewisse Anerkennung, zumal neben handwerklicher Betätigung auch die Krankenfürsorge sowie die Unterstützung Schwacher und Hilfsbedürftiger zu ihren praktischen Aufgaben gehörte.

Erste Beginenhäuser werden erwähnt, geistlich betreut von Priestern aus den beiden Bettelorden, namentlich von Dominikanern. Ihnen, den Predigerbrüdern (ordo praedicatorum, OP), war im Rahmen ihrer Ordensverpflichtungen unter anderem die Nonnenseelsorge (cura monialium) aufgetragen.9 Aber auch das asketische, zugleich schöpfungsnahe Vorbild samt dem glaubwürdigen Zeugnis des Franziskus von Assisi (1181/82 – 1226) übte Ländergrenzen übergreifend auf Männer und Frauen eine gewaltige Anziehungskraft aus. So entfaltete sich eine von beiden Geschlechtern praktizierte franziskanische wie eine dominikanische Mystik mit einer je eigenen Note. Darunter sind Lebens- und Frömmigkeitsformen zu verstehen, die an der Nachfolge Christi und an der Verehrung des leidenden und gekreuzigten Jesus ausgerichtet waren. Es galt, die Conformitas Christi zu erlangen, das heißt: Man war bestrebt, Jesus und seinen Aposteln in Bedürfnislosigkeit und gläubiger Hingabe gleichförmig zu werden, und zwar oft genug zum Ärger der kirchlichen Obrigkeit.

Vom lateinischen zum volkssprachlichen Glaubenszeugnis

Eine bedeutende Veränderung, die insbesondere das geistliche Leben dieser in der Regel – jedoch nicht ausschließlich – ungebildeten Frauen betraf, ergab sich aus der Tatsache, dass zu der für Kirche und Wissenschaft bislang ausschließlich obligatorischen lateinischen Sprache die volkssprachliche Artikulation hinzutrat, um innere Erlebnisse zu bezeugen und in anschaulicher, oft in poetischer Weise darzustellen. Dass dem kirchlich-klösterlichen Leben und dem wissenschaftlichen Disput das Lateinische vorbehalten war, verstand sich von selbst. Das war für die präzise Formulierung theologisch-dogmatischer Gedankengänge unerlässlich. In dem Maße aber, in dem sich das Bedürfnis verstärkte, das eigene innere Erleben, die individuelle Frömmigkeit samt den damit verbundenen Erfahrungen in anrührender Weise zu schildern und individuell gestaltet auszudrücken, legte sich die Volkssprache nahe. Sie ermöglichte, was dem anders strukturierten Latein verschlossen blieb, emotionale Äußerungen, und ließ ein frommes Fühlen zu seinem Recht kommen. Sehr viel stärker als das vornehmlich an den Kopf der Denkenden, Forschenden, Lehrenden appellierende Latein, kann nunmehr das Herz seine eigentümliche Stimme erheben. »Da muss (und kann) man mit der Seele sprechen«, heißt es einmal in einer der Aufzeichnungen aus der Feder jener religiösen Frauen.

Sie verfügten in der Regel nur über so viel Kenntnis der Kirchen- und Gelehrtensprache, wie es ihnen vom Messgottesdienst sowie von den Psalmen- oder Stundengebeten her geläufig war. Die Sprache von Theologie und Philosophie blieb ihnen – von Ausnahmen abgesehen – für sehr lange Zeit verschlossen. Versprach das von ihnen innerlich Empfangene für die Theologie bedeutsam zu sein, veranstaltete man, nicht zuletzt aus kirchlichem Interesse heraus, Übersetzungen ihrer Verlautbarungen. Denn nur so war eine nähere intellektuelle Beschäftigung in Klerikerkreisen auch auf überregionaler Ebene erleichtert. Aber es gab noch andere Fernwirkungen. Eine Spur führt – möglicherweise – zu einer »Donna Matelda«, die in Dantes Göttlicher Komödie auftaucht.10 Doch gemessen an der spirituellen Bedeutung und dem poetischen Zauber blieb Das fließende Licht der Gottheit der Mechthild von Magdeburg lange Zeit nahezu unbeachtet.

Was die Volkssprache an Kreativität und Erlebnisgehalt zu vermitteln vermochte, das mangelte ihr hinsichtlich der begrifflichen Genauigkeit, wie sie von den an der »reinen Lehre« orientierten, lateinisch argumentierenden Theologen verlangt wurde. Religiöser Überschwang und dogmatisch gewagte Äußerungen erweckten nicht selten den Argwohn der alsbald auf den Plan tretenden Ketzerrichter. Das bekamen all jene zu spüren, die ihre Erlebnisse und deren Deutung in ihrer Muttersprache zu Gehör oder zu Papier brachten. Zu den von Verdacht und Verfolgung Betroffenen gehörten naturgemäß immer wieder die mulieres religiosae, unter ihnen nicht wenige Beginen, wie das Schicksal von Marguerite Porete zeigt. Ihnen und ihren nichtklerikalen, von den Kirchenoberen ebenfalls argwöhnisch betrachteten Befürwortern, den Begarden, war die prophetische, vor allem die dogmatische Vorstellungen tangierende öffentliche Äußerung untersagt. Das entsprach einem generellen Predigtverbot. Die von klerikaler Seite entfachte Kritik ließ daher nicht auf sich warten. Auf dem Konzil von Vienne (1311), in dem man unter anderem über Leben und Lehre von Marguerite Porete auch noch nachträglich zu Gericht saß, ging es generell darum, unabhängige Beginen samt den mit ihnen assoziierten männlichen Begarden hinsichtlich solcher Äußerungen einzuschränken.

Mechthild, eine Troubadoura der Gottesminne

Aus der nicht geringen Zahl der durch ihre Schriften und Lebenszeugnisse bekannt gewordenen Beginen ragt sie heraus – neben der aus Brabant stammenden Schwester Hadewijch, und zeitlich vor der Nordfranzösin Marguerite Porete (gestorben 1310): Mechthild von Magdeburg. Ihr Charisma ist dadurch geprägt, dass es ihr gegeben war, erzählend, dichtend, singend ihr inneres Liebeserleben mit Gott in der Gestalt Christi und der Heiligen Dreifaltigkeit kundzumachen. In einem geradezu ekstatischen Jubilus bekennt sie in ihrem Buch, betitelt Das fließende Licht der Gottheit, welcher rückhaltlosen Innigkeit der Gotteshingabe sie fähig gewesen ist. Wohl hatte die Hebräische Bibel, das Alte Testament, mit dem Hohen Lied Salomonis, dem Lied der Lieder, der mann-weiblichen Liebe in den heiligen Schriften längst Heimatrecht erstritten. Aber es blieb der Auslegungskunst der frühen, der vorwiegend leibfeindlichen Askese verpflichteten Kirchenväter (Origenes, Gregor von Nyssa, Gregor der Große), auch der Mystik des Zisterziensers Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153) vorbehalten, die glühende Liebessprache jener biblischen Dichtung zu mäßigen, dogmatisch zu vereinnahmen und gleichsam kirchlich zu domestizieren. In Gestalt der besungenen Schönen des Hohen Liedes ist es die Kirche, die als Braut Christi auftritt und in Gehorsam ihm dient. Der einzelne Christenmensch, der durch die Taufe mit Christus verbunden ist, wird als die Seele verstanden, die ihrem Herrn zugeführt wird wie eine geschmückte Braut ihrem Bräutigam. Doch bei und durch Mechthild kommt es zu einer deutlichen geistlich-sinnlichen Neuintonierung dieses großen Themas. Bei ihr bricht etwas von dem kaum zu bändigenden elementaren Liebesdrang durch und gewinnt die ergreifende Sprachgestalt einer reifen empfindungsfähigen Frau. Dazu bemerkt Hildegund Keul, indem sie eine für Mechthilds Eros-Verständnis wichtige Klarstellung trifft:

»Mechthild stimmt in ihren Schriften das Hohelied der Liebe an. Sie preist die Kraft der Minne in allen Farben und Tönen, mit allen Bildern und Metaphern, die ihr der Wortschatz der Erotik zur Verfügung stellt. Aber es geht ihr nicht darum, die Sexualität und Erotik menschlicher Beziehungen zu beschreiben. Sie ringt vielmehr um eine Sprache, mit der sie von Gott sprechen kann, und zwar so, dass seine verborgene Präsenz sichtbar wird. Sie fühlt sich überwältigt von einer Macht, die ihr widerfährt und die darauf drängt, benannt zu werden … Das Erotische ihrer Sprache verweist nicht auf eine heimliche Liebesbeziehung, sondern auf einen inneren Zusammenhang von Transzendenz und Ekstase, Religion und Erotik.«11

Aber wer kann oder will ausschließen, dass Mechthild tatsächlich eine beglückende Liebesbeziehung gelebt hat, die sie schließlich befähigte, Selbsterfahrenes in spiritueller Vertiefung so zur Sprache zu bringen, dass sie innige Gottesminne und feuriges Liebeserleben als Ergriffene ganzheitlich zu begreifen vermochte? Mit Recht heißt es von Mechthilds Werk, es sei die »vielleicht kühnste erotische Dichtung, die wir aus dem Mittelalter besitzen«12. Das gilt jedenfalls im Vergleich mit anderen religiösen Ausformungen, in denen die Gottesliebe der zwischenmenschlichen Liebe gleichnishaft gegenübergestellt, ja mit ihr verschmolzen wird. Vom angeblichen »Skandalon Mechthilds« wird gelegentlich gesprochen, als seien die dem erotischen Bereich entnommenen Metaphern der spirituellen Erlebniswelt einer Ordensfrau nicht angemessen, ganz zu schweigen von einer Reduzierung ihrer Aussagen auf die psychologische Ebene.13

Davon abgesehen ist uns die ursprüngliche niederdeutsche Fassung des Fließenden Lichts der Gottheit nicht erhalten geblieben. Aber wir besitzen den Text in einer oberdeutschen (alemannischen) Übersetzung, wie sie (wahrscheinlich) der Basler Weltpriester Heinrich von Nördlingen14