Elisabeth Gänger

Biss oder Kuss?

 

 

 

 

 

Originalausgabe 2009
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40460 - 0 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 07616 - 6

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Typischer Fall von Sonnenmangel

Der Retter vom anderen Stern

Blaues Wunder

Liebe macht blöd

Vampirbraut Lily

Sonne und andere Unverträglichkeiten

Kino, Kurzschluss, Katastrophe

Cevapcici ohne Happy End

Tatort Sonnenstudio

Abstecher nach Transsylvanien

Grüße von Schloss Dracula

Geisterbahn und Zuckerwatte

Partyfieber

Tanz der Klaviere

Typischer Fall von Sonnenmangel

Fabs klappt den Deckel des Notebooks zu und gibt einen schweren Seufzer von sich. »So schlimm?«, frage ich.

Sie sagt: »Aussichtslos.«

»Oh Gott, Fabs. Und was schreiben die, wie lange noch?«

»Ich weiß nicht. Eine, vielleicht auch zwei Wochen.«

»Aber das ist ja furchtbar! Noch ZWEI WOCHEN Regen! Und das in den Sommerferien. Was machen wir denn jetzt?«

»Hm. Hast du noch eins von den Nougatherzen?«

»Klar, nimm. Bevor Benny uns wieder alle wegfuttert.«

Sie wirft erst eine Praline ein und dann einen trüben Blick nach draußen. In der Marktstraße, die wir von hier aus super überblicken, springen gerade vier Schirme gleichzeitig auf. Mistwetter. Und in Spanien haben sie seit Monaten Sonne.

»Sag mal, Fabs, dürfen Jugendliche eigentlich alleine fliegen? Ich meine, ohne Eltern?«

»Keine Ahnung. Warum fragst du nicht nachher mal im Reisebüro. Das liegt doch auf dem Weg.«

»Äh … Weg?«

Sie futtert noch eine Praline. »Zur Bücherei. Wir sollten unbedingt gucken, ob der neue Lamia-Thriller schon abgegeben wurde. Komm, Lily, was willst du sonst tun bei dem Wetter?«

So ist sie. Immer praktisch denken. Immer aus dem, was da ist, das Beste machen. Sperr Fabs mit dem Mathelehrer in einen Fahrstuhl und sie kommt, anstatt mit Brechreiz, mit den binomischen Formeln wieder raus.

»Du, Lily? Könnte ich vielleicht noch mal schnell unter euren Tiefenbräuner?«

Hab ich’s nicht gesagt? Immer aus allem das Beste machen. Oh Mann, dieses Sonnenstudio! Diese albernen Grillröhren, die aus der Hälfte der Frauen in unserem Nest schon verkokelte Brathähnchen gemacht haben, meine Mutter eingeschlossen. Fabs weiß genau, dass ich nicht Nein sagen kann. Obwohl Mama uns gerade den Tiefenbräuner ausdrücklich verboten hat. Wegen der Hautreizungen, meinte sie. Also, mir braucht sie da überhaupt nichts zu verbieten, ich verabscheue diesen ganzen Bräunungskrempel. Aber meine Freundin gehört leider zur Fraktion der Brathähnchen.

»Na gut, aber beeil dich. Und vergiss nicht, das Oberlicht aufzumachen.«

»Klar, kein Problem. Du-u-u, Lily? Nicht traurig sein. Wenn dieser verdammte Regen erst mal aufhört, dann kriegen wir schon noch unser …«

»… sag jetzt bitte nicht Abenteuer!«, falle ich ihr ins Wort, denn das haben wir im Frühjahr bereits geklärt: dass unsere Vorstellungen von optimaler Feriengestaltung weltenweit auseinanderliegen. Ich will was Außergewöhnliches, Spannendes, am liebsten mal einen richtig shocking Fantasyroman selbst erleben. Fabs dagegen möchte einfach nur lecker aussehen und Radtouren in die Umgebung machen.

»Wir könnten doch mal wieder zum alten Steinbruch fahren.«

»Großer Gott, und da? Wollen wir Superstar spielen, so wie mit acht oder neun?«

»Quatsch, Superstar. Aber weißt du nicht mehr, als da letztes Jahr dieses Wildschwein auftauchte? Hey, vielleicht sehen wir ja diesmal einen Werwolf. Speziell für dich!«

»Sicher«, nicke ich und zeige müde zur Tür. »Ich glaub, da kommt gerade einer.«

Lukas schließt sein Rad ab und streift sich die Kapuze vom Kopf. »Na ihr«, brummt er beim Reinkommen. »Auch wieder da?«

Sollte mir in dieser verregneten Kleinstadt jemals ein Junge über den Weg laufen, in den ich mich auch nur ansatzweise verlieben könnte, dann dürfte der zwei Dinge nicht tun: überflüssige Fragen stellen und dabei auf den Boden starren.

»Ja, seit letzter Woche«, höre ich Fabs jetzt aber. »An der Nordsee war’s eklig. Und bei euch?«

»Heiß«, stöhnt Lukas. »Wisst ihr was, ich hab mir grad einen Kabelauslöser gekauft.«

»Wozu das denn?«, frage ich, aber Fabs: »Ehrlich? Du fotografierst?«

»Jupp«, sagt er stolz und zieht ein Tütchen vom Fotoladen aus der Tasche. »Und ab heute sogar im Dunkeln.«

»Krass!«, schwärmt meine Freundin. »Wo wir die ganze Zeit schon grübeln, was man mal unternehmen könnte.«

Als Lukas geht, ist der Auftakt zu meinen Abenteuerferien besiegelt: um 20 Uhr am Wäldchen, Höhe kleiner Poststeg. »Und sprüht euch bloß gut gegen die Mücken ein!«, warnt er uns beim Weggehen.

Grunz. Eine Fotosafari mit meinem Nachbarn. Ich glaube, die brauche ich noch weniger als dieses Sonnenstudio. Aber Fabs ist so begeistert, dass sie in Gedanken schon ihr Survival-Case gepackt hat.

»Auweia, jetzt wird’s aber Zeit«, hechelt sie und stürmt wie ein geölter Blitz auf Kabine eins zu. »Denkst du, ich hab noch zwanzig Minuten?«

Glaub schon, will ich eigentlich antworten, doch da geht erneut die Tür auf und Frau Meyerdierks, Mamas beste Kundin, tänzelt herein. »Hallo, die Damen! Du, Lily, ich bin doch heute mit Tiefenbräuner dran. Ist der gerade frei?«

Ich sehe zu Fabs rüber. Die zuckt enttäuscht mit den Achseln.

»Klar, Frau Meyerdierks. Die Eins ist frei. Gehen Sie nur rein, Sie kennen sich ja aus.«

Kurz darauf stehen wir augenrollend am Tresen und lutschen die beiden letzten Nougatherzen.

»Wieso ist denn der Deckel unten?«, tönt es aus der Kabine herüber. »Den macht ihr doch sonst nie zu.«

»Ich weiß auch nicht. Soll ich ihn für Sie öffnen?«

»Nee, lass mal«, ruft die wahrscheinlich schon splitternackte Frau Meyerdierks. Dann kommt ein Schrei: »Ahhhhhh!«

Großer Gott! Ich habe noch nicht viele Menschen in dieser Herzattackenfrequenz kreischen hören, aber immer wenn sie es taten, hatte es denselben Grund: Benny.

Wie ein Tornado fege ich jetzt in die Kabine, sehe Frau Meyerdierks notdürftig ein paar Stellen ihres gerösteten Körpers bedecken und auf der Liege meinen elfjährigen Bruder, der sich vorsichtshalber schon mal eingerollt hat und mit beiden Händen den Kopf hält.

»Scheiße, ich wollte Fabs erschrecken! Was quatscht ihr denn so lange?«

»Hau ab!«, brülle ich und würde am liebsten noch nach ihm treten. Bloß klarstellen, dass ich mit der Sache hier nichts zu tun habe.

Aber das sieht Frau Meyerdierks anders. »Eine Unverschämtheit ist das!«, zetert sie mit einem Berg Klamotten im Arm. »Euch Rotznasen sollte man anzeigen! Los, raus hier!«

Ich fürchte, es ist zwecklos, sie zu fragen, ob wir das Missgeschick eventuell vor Mama verheimlichen können.

 

Natürlich ließ sich gar nichts vor Mama verheimlichen. Daher schleichen wir jetzt wie zwei Kleinkriminelle durch die Marktstraße.

Der Drogeriemarkt, in dem wir uns Mückenspray besorgen wollen, liegt auf der anderen Straßenseite. »Schnell, rüber!«, zieht Fabs an meinem Ärmel, doch ich bleibe stehen, denn in der Ladentür von Fleisch & heiß bei Olli’s hängt ein Plakat, das mich auf wundersame Weise anzieht.

»Pool-Dancing im alten Waldbad?«, wird jetzt auch meine Freundin darauf aufmerksam. »Klingt super!«

»Fabs, da MÜSSEN wir hin.« Ich bin ganz aus dem Häuschen.

»Klar!« Dann stutzt sie. »Oh, aber es ist heute. Da sind wir doch mit Lukas zum Fotografieren verabredet.«

»Ja und? Bei dem Regen ist es praktisch egal, ob du in den Wald gehst oder ins alte Schwimmbad.«

»Ich weiß nicht«, zögert Fabs.

»Aber ich«, beschließe ich und wundere mich über mich selbst.

Vergessen ist der ganze Ärger mit Mama. Und sogar die Frustlaune über das Wetter und die nichtsnutzigen Ferien ist mit einem Mal wie weggeblasen. Als ob hier irgendwelche positiven Kräfte herumschwirren würden, die mich 

»Oh, Entschuldigung!« Ich sollte besser von der Tür weggehen. Der Kunde gerade kann sie kaum so weit öffnen, dass er rauskommt.

Ich setze also meinen süßesten Braves-Mädchen-Blick auf. Aber die Miene des Typen ist wie aus Stein. Er ist überraschend jung; zwei, höchstens drei Jahre älter als ich – was macht denn so einer beim Fleischer? Und wieso geht er jetzt nicht weiter? Scannt mich wie eine Banknote und zuckt dabei nicht mal mit der Wimper. Aber Augen hat der! Wie goldfarbene Glitzersteine.

Ich weiß nicht, wie lange wir so stehen und uns anstarren. Eine Minute, eine Zehntelsekunde? Mein Lächeln ist längst eingefroren. Weil der Typ guckt, wie er guckt. So intensiv. Aber nicht abstoßend. Sonst würde ich mich ja wegdrehen. Und nicht wie Kleister an seinen Goldaugen kleben.

Zuck, machen seine Mundwinkel. Ich hab’s kaum bemerkt, doch für einen ultrakurzen Moment war da was total Faszinierendes. Dann geht er weiter und ich schnappe nach Luft.

»Na gut«, sagt jemand direkt hinter mir – stimmt ja, Fabs! Sie wirft einen besorgten Blick nach oben und fragt: »Aber wie kommen wir da hin, ohne dass uns unterwegs Schwimmhäute wachsen?«

»Sag mal, hast du den Typen eben gesehen?«

»Wen meinst du? Den blassen da?«

»Wieso blass?«

»Ist mir gleich aufgefallen, der Arme. Echt, wer dieses Jahr nicht verreist, dem siehst du das total an.«

Sein Haar ist glatt und reicht bis über den Kragen, deshalb schwingt es beim Gehen lässig mit.

Ich sage: »Vielleicht war er ja in Alaska.«

»Bestimmt. Bären jagen.«

»Komisch, wie der geguckt hat.«

Mir fällt erst jetzt die lange schwarze Cordjacke an ihm auf. Gar nicht wie im Sommer. Aber sie steht ihm. Irgendwie macht sie ihn besonders.

Fabs sieht die ganze Zeit nur mich an. »Hey, Lily, was guckst du so? Du findest doch so einen nicht GUT!«

Ganz ehrlich, ich weiß selbst nicht mehr, was ich finde. Kaum bin ich mal zehn Minuten aus Mamas Grillstübchen raus, da schmiede ich bereits Partypläne. Und dann begegnet mir auch noch ein Junge, der direkt aus Hogwarts zu kommen scheint. Oder was soll man sonst von einem denken, der dich anlächelt, so kurz, dass du es kaum wahrnimmst, aber mit einem Mal ist ein Schalter in dir umgesprungen. So einer muss doch zaubern können!

»Dann versuche ich gleich mal, Lukas zu erreichen«, höre ich Fabs jetzt.

»Wieso denn Lukas?«

»Weil wir eigentlich am kleinen Poststeg mit ihm verabredet sind. Das wirst du doch nicht vergessen haben.«

»Nee, klar«, murmele ich und sehe, wie der Zauberer in die Bahnhofstraße einbiegt. Er ist groß und auffallend schmal und die Plastiktüte, die er trägt, scheint so schwer zu sein, als habe er die halbe Fleischtheke leer gekauft.