Jeanette Øbro | Ole Tornbjerg
Schrei unter Wasser
Kriminalroman
Aus dem Dänischen von Patrick Zöller
Fischer e-books
Das Autorenduo Øbro & Tornbjerg gehört zu den international erfolgreichen Shootingstars der dänischen Kriminalszene. Jeanette Øbro, geboren 1969, machte eine Ausbildung zur Hebamme und später zur Mediendesignerin und war als Projektleiterin und Beraterin tätig. Ole Tornbjerg, geboren 1967, hat Kommunikationswissenschaften studiert und arbeitete als Produzent und Regisseur für Film und Fernsehen. Die beiden Autoren sind verheiratet und leben mit ihren drei Kindern in Hillerød. Øbro & Tornbjerg schreiben zurzeit an den nächsten Fällen für Katrine Wraa.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coveridee und Umschlagfoto: PeterStoltze / www.stoltzedesign.dk
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel ›Skrig under vand‹
im Verlag JP/Politikens, Kopenhagen
© Jeanette Øbro Gerlow, Ole Tornbjerg & JP/Politikens Forlagshus A/S, København 2010
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402092-1
Das Kind im Badewasser schreit nicht mehr.
Sie genießt die Stille.
Aber das Schreien hallt nach. Kreischt und dröhnt in ihrem Kopf. Sie sehnt sich so sehr nach etwas Frieden. Ist das zu viel verlangt? Nur etwas Frieden. Und Schlaf.
Tagsüber sitzt sie auf dem Sofa und presst die Hände auf die Ohren.
Das Kind schreit rund um die Uhr. Sie wird allmählich wahnsinnig. Es ist wie eine ewige Anklage, eine Anklage gegen sie; du bist nicht gut genug, du machst es nicht gut genug, du kümmerst dich nicht gut genug um mich.
Das Kind hat sich gegen sie gewandt.
Anfangs hat sie noch versucht, es zu trösten, es sanft an ihren Körper gedrückt. Aber es hat sie zurückgewiesen. Es ist ihr feindlich gesinnt. Das spürt sie deutlich. Wie soll sie sich um ein Kind kümmern, das ihr so feindlich gesinnt ist? Wie soll sie so ein Kind lieben können?
Die Mitarbeiterin im Gesundheitsamt hat gesagt, es sei gut für das Kind, wenn es draußen im Kinderwagen schlafen könne, das sei schon in Ordnung. Im Kinderwagen weint es zwar auch, aber ihre Ohren bekommen doch eine Pause.
Sie sehnt sich so sehr nach Ruhe.
Ihre Gedanken geraten immer weiter außer Kontrolle. Sie will sie aufhalten, aber sie lassen sich nicht zähmen. Und sie will diese Niederlage nicht erleiden, ihrem Mann eingestehen zu müssen, wie schlimm das Ganze steht.
Das hat alles nicht so kommen sollen. Aber sie kann nichts dagegen tun. Sie hat nichts, was sie diesem Kind geben könnte. Nicht einmal Milch. Es ist, als würde ihr Körper sich weigern, ihm noch mehr zu opfern. Und sie hat ja wohl auch schon genug Opfer gebracht! Aber da ist dieses kleine Ungeheuer anderer Meinung.
Sie spürt die Wut in sich aufsteigen. Dieser kleine Egoist. Fordert und fordert immerzu nur von ihr. Wie hat sie nur so ein kleines egoistisches Geschöpf zur Welt bringen können?
Wäre sie ein Mann, wäre ihr höchstwahrscheinlich der Gedanke gekommen, dass dieser Nachwuchs nicht von ihr sein kann. Aber sie hat es in sich getragen und geboren.
Ihre Gedanken kreisen beinahe nur noch um eine Sache, eine Möglichkeit nur, mehr nicht, die man aber keinesfalls laut aussprechen darf. Es ist zu schändlich. Aber davon gehen sie nicht weg, die Gedanken.
Mit jeder Faser ihres Körpers wünscht sie sich, dieses Kind wäre nie geboren worden.
Jetzt erwacht sie allmählich aus ihrem dösigen Schlummer.
Es ist, als wäre sie aus sich herausgetreten und würde sich nun selbst betrachten. Als schwebte sie über sich selbst im Zimmer. Sie sieht ihren Körper auf dem Boden neben der kleinen Badewanne sitzen. Etwas stimmt nicht. Erst versteht sie nicht, was es ist. Dann wird es ihr klar.
Das Kind im Wasser liegt schlaff und leblos da.
Was ist passiert? Sie versteht es nicht. Sie reißt es aus dem Wasser, legt es auf den Boden. Da ist kein Atem. Sie beginnt mit Herzdruckmassage und bläst Luft in den kleinen Mund.
O Gott …
Gerade als sie glaubt, es sei hoffnungslos, dem schlaffen Körper das Leben zurückzugeben, hustet das Mädchen, und das Wasser platzt aus seinen Lungen und läuft aus seiner Nase und seinem Mund.
Den Rest des Tages beobachtet sie das Kind genau. Es schreit wie immer.
Als ihr Mann aus der Augenklinik nach Hause kommt, erzählt sie ihm nichts. Und er sieht nichts. Die Sehfähigkeit des Augenarztes ist bemerkenswert begrenzt.
Noch lange Zeit danach wagt sie nicht, das Kind zu baden.
KATRINE WRAA WAR AM BODEN, und das im doppelten Sinne.
Am Boden des Roten Meeres. Und am Boden ihrer Karriere.
Sie zog es vor, sich nur mit dem ersten Zustand zu beschäftigen, und versuchte, den zweiten so weit wie möglich zu verdrängen.
Sie hatte gerade noch so viel Luft, um exakt eine Minute und dreißig Sekunden in dieser Farbenorgie verbringen zu können, bevor sie an die Wasseroberfläche schwimmen und Atem holen musste.
Sie saugte die Eindrücke auf. Das konstante Nagen der Papageifische war hier unten im Korallenriff ein beständiges Hintergrundgeräusch. Die Korallen sahen allen möglichen Dingen ähnlich, von menschlichen Gehirnen bis hin zu abstrakten Kunstwerken. Ein Clownfisch zog träge an ihr vorüber. Sie hatte Lust, die Hand auszustrecken und seinen molligen orangeweißgestreiften Körper zu berühren.
Der Zeitpunkt kam näher. Langsam glitt sie durch das Wasser nach oben und zog ihn ein wenig hinaus.
Noch immer hatte sie es nicht geschafft, die Panikschübe zu überwinden, die sie jedes Mal befielen, wenn sie versuchte, mit Sauerstoff zu tauchen und den ersten, grenzüberschreitenden Atemzug unter Wasser zu tun. Ihre Enttäuschung darüber war maßlos. Deshalb schnorchelte sie und tauchte ohne Sauerstoff, und in dieser Disziplin hatte sie es zumindest schon ziemlich weit gebracht. Sie versuchte jedes Mal, ihren Rekord ein wenig zu verbessern. Momentan stand er bei drei Minuten und fünf Sekunden.
Noch ein Meter bis zur Wasseroberfläche. Der Drang zu atmen wurde jetzt sehr stark. Da. Luft traf auf ihr Gesicht, und Katrine füllte ihre Lungen.
Sie hatte es versucht. Das hatte sie wirklich. Und Ian, ihr australischer Taucher, mit dem sie zusammen war, war unfassbar geduldig mit ihr gewesen. Aber sie hatte sich nicht überwinden können. Jedenfalls noch nicht. Sie, die sich vorgestellt hatte, ihren Aussteigerphantasien nachzugeben, Tauchlehrerin zu werden und nie wieder das akademische Schlachtfeld zu betreten, das sie in England hinter sich gelassen hatte.
Sie holte Luft für einen neuen Tauchgang, hatte die Techniken der besten Freitaucher studiert und eingeübt. Aber sie wusste, dass sie das Meditative des Tauchens so nicht erleben konnte. Tief unten im Wasser einfach zu sein, zwischen Fischen und Korallen.
Doch sie genoss es, ihren Körper zu spüren, der kräftig und geschmeidig in hohem Tempo durch das Wasser glitt, beschleunigt von den großen Schwimmflossen.
Bald war sie wieder auf dem Grund.
Ian zog verständnislos die Augenbrauen zusammen, und seine braune, ledrige Stirn runzelte sich. Katrine betrachtete seinen ferienträgen Taucherkörper, der behaglich ausgestreckt zwischen den Kissen lag, die zu etwas arrangiert waren, das man im Westen Loungestil nennen würde, das den Beduinen aber bereits seit Jahrtausenden als Wohnzimmer unter den Sternen diente, wenn sie ihr Lager aufschlugen. Das Feuer knisterte.
»Ich versteh einfach nicht, wie solche Leute im normalen Leben überhaupt funktionieren können.«
Sie hatten ein romantisches Gesprächsthema: Psychopathen. Katrine hatte längst eingesehen, dass sie solche ungewöhnlichen Gesprächsthemen als Begleiterscheinung ihres Berufs akzeptieren musste, nachdem sie das Grenzland zwischen Psychologie und Kriminalität zu ihrem Arbeitsfeld gemacht hatte.
Sie hatten sich in eine lange Diskussion über Soziopathen und Menschen mit psychopathischen Zügen verstrickt. Schon jetzt konnte sich keiner mehr erinnern, wie ihr Gespräch überhaupt bis hierhin gekommen war.
»Und was ist ein normales Leben?«, fragte sie neckisch zurück.
»Na, so was wie … du weißt schon: eine Familie haben und sie versorgen und so. Wie normale Menschen eben, oder?«
»Dann sind wir beide nicht die Spur normal?«, fuhr sie fort.
»Jetzt komm schon, du weißt, was ich meine.«
»Ja, das weiß ich«, sagte sie. »Okay, aber meistens funktionieren sie ja auch unter ›normalen‹ Bedingungen nicht. Das ist der Grund, weshalb sie in den Gefängnissen … sagen wir mal, überrepräsentiert sind. Soziopathen haben typischerweise extrem viele Brüche in ihrem Lebenslauf. Sowohl was Partnerschaften als auch was Jobs angeht. Es fällt ihnen einfach schwer, sich an feste Abläufe zu halten. Aber es gibt natürlich Ausnahmen. Etwas vereinfacht kann man sagen, es hängt von ihrer Fähigkeit zur Impulskontrolle ab; ob sie in der Lage sind, einen Handlungsimpuls zu unterdrücken oder nicht.«
»Und was ist dafür entscheidend?«
»Tja, weißt du, da begeben wir uns jetzt in die Neuropsychologie und müssen uns den präfrontalen Cortex etwas näher –«
»Jaja, schon gut, lass mal.« Nachdenklich schwieg er für einen Moment. »Es ist nur ganz einfach so … faszinierend, oder? Kein Wunder, dass es so viele Bücher und Filme über Psychopathen gibt«, sagte Ian.
»Ich glaube, was uns Angst macht, ist die Tatsache, dass sie kein Gewissen haben«, antwortete sie. »Sie sind zu allem fähig. Sie können uns hemmungslos manipulieren und sich eine enorme Macht über ihre Umgebung verschaffen. Sie lügen, ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ob das, was sie tun, falsch ist. Für sie zählt nur eins: ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.«
»Hm«, sagte er.
Sie lehnte sich wieder in die Kissen zurück, nahm einen Zug aus der mit Apfeltabak gefüllten Wasserpfeife und sah hinauf zum Wüstenhimmel, an dem ein Sternenmeer explodiert war, wie sie es nicht einmal annähernd je zuvor gesehen hatte. Hier in der Wüste gab es im Umkreis von mehreren Kilometern kein Licht, abgesehen von dem, das von den Sternen und ihrem Feuer kam, über dem sie früher am Abend Lammfleisch gegrillt hatten.
Sie hatten eine Tour die Ostküste der Sinai-Halbinsel hinauf in Ians altem Jeep unternommen. Nachts schlugen sie ihr Lager in der Wüste bei den Beduinen auf oder nahmen ein Zimmer in einem der Badehotels draußen an der Küste. Tagsüber schnorchelten sie gemeinsam.
»Wie vielen bist du begegnet?«, fragte er neugierig, richtete sich halb auf und stützte sich auf einen braungebrannten Ellenbogen. »Also so ganz reinrassigen Exemplaren?«
»Hm, mal sehen, da wäre als Erstes meine Chefin«, sagte sie und lachte leise. »Nein, das stimmt nicht ganz, sie hat allenfalls leicht psychopathische Züge. Also, ein paar habe ich schon getroffen.« Sie dachte kurz nach. »Und eine hat wirklich Eindruck auf mich gemacht.«
»Wer?«
»Ein Gefängnisinsassin, die ich einmal verhört habe.«
»Was hatte sie getan?«
»Sie hatte ihre beiden kleinen Kinder ermordet.«
»Du lieber Gott.«
»Tja, also der hatte an diesem Tag offenbar anderswo zu tun«, sagte sie und nahm einen großen Schluck von dem ägyptischen Stella-Bier. »Sie sagte, sie hätten so einen Lärm gemacht. Und da hat sie sie in der Badewanne ertränkt.«
Sie schwiegen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass er sie intensiv ansah.
»Denkst du, du wirst hierbleiben, Darling? Bei mir?«, fragte er.
»Das nenn ich mal einen Themenwechsel.«
»Ja, aber was glaubst du?«
»Auch wenn du mich immer Darling nennst, obwohl du genau weißt, dass ich meinen zweiten Familiennamen hasse, und obwohl du mir bei der Passkontrolle heimlich über die Schulter geschaut und ihn dir so unerlaubt ergaunert hast«, sagte sie und versetzte ihm einen leichten Schlag auf den Arm. »Trotzdem bin ich immer noch total verrückt nach dir. Und«, fügte sie hinzu, »ich bin bereit, dir das mit dem Namen zu verzeihen, weil er sich bei dir immer anhört wie eine australische Version von James Bond; elegant und wirklich, wirklich komisch.«
»Und was ist nun die Moral von der Geschicht’?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin dabei es herauszufinden, während ich rede.«
»Dummerchen!«
»Ja!«, sagte sie entschieden, »genau das bin ich. Und ich bin außerdem ziemlich betrunken. In diesem Zustand darfst du mir so gewichtige Fragen überhaupt nicht stellen.«
»Du bist unwiderstehlich, Darling.«
»Ein Glück!«
Sie lachten, legten sich dicht nebeneinander und sahen zum Sternenhimmel hinauf. Zum Schutz vor der kühlen Wüstenluft zog Ian eine Decke über sie.
Ian war von ihrer Arbeit fasziniert – im Gegensatz zu vielen anderen, die ihr leidenschaftliches Interesse für Menschen, die zu grausamsten Verbrechen fähig waren, abschreckte. Natürlich hatte sie ihn in den ersten Wochen durch ihren persönlichen TÜV geschickt, bevor sie ihm Zugang zu ihrer Intimsphäre gewährt hatte. Zur Checkliste gehörte unter anderem ein Robert-Hares-Screening, eine international anerkannte Methode zur Diagnose von dissozialer Persönlichkeitsstörung, oder mit anderen Worten: War jemand ein Psychopath oder nicht? Ian hatte bestanden – oder war durchgefallen, ganz wie man es betrachtete.
»Ich will morgen nicht zurück«, stöhnte sie und fühlte sich mit einem Mal nüchterner. Eilig nahm sie einen Schluck von ihrem Bier.
»Ich auch nicht«, sagte er, seufzte und zog sie noch enger an sich.
Sie waren seit zwei Wochen unterwegs, der Urlaub war vorbei. Ian musste zurück nach Scharm El-Scheich, in die Touristenhochburg, wo er als Tauchlehrer arbeitete. Katrine musste herausfinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Herausfinden, ob es einen Weg aus der Sackgasse gab, in der ihre Karriere festgefahren war.
»Ich habe beschlossen, diesen Tauchschein zu machen«, sagte sie. Sie träumte davon, so zu leben wie er, ein Leben, in dem die großen Entscheidungen darin bestanden, ob Scharm, Koh Tao in Thailand, Costa Rica, das Great Barrier Reef … Wenn Ian von all den Orten erzählte, an denen er gewesen war, wurde ihr bei dem Gedanken daran ganz glückselig zumute.
»Du musst ja nicht Tauchlehrerin werden, um hier unten zu bleiben«, sagte er einmal mehr vorsichtig, und sie konnte hören, wie er im Dunkeln lächelte. »Es gibt ja auch hier jede Menge Schurken, und du kannst helfen, sie zu fangen. Glaub mir, in Scharm …«
»Ich muss mich einfach nur überwinden.«
»Katrine, Darling, du hast dich ganz schön festgebissen an dieser …«
»Ich kann es überwinden!«
Sie sah ihn entschieden an. So gut kannten sie sich nach den drei Monaten, die sie jetzt zusammen waren, natürlich auch wieder nicht. Sie war ihm begegnet, kurz nachdem sie in Scharm angekommen war, und nach einer Woche bei ihm eingezogen. Was er noch nicht über sie wusste, dachte sie, war, dass sie einen unerschütterlichen Glauben daran besaß, alles erreichen zu können, was sie sich vorgenommen hatte.
Hatte sie es bisher vielleicht nicht immer geschafft?
Das Psychologiestudium an der University of London, trotz der mäßigen Noten am Gymnasium in Dänemark. Ihren Doktor in forensischer Psychologie. Assistentin und Nachfolgerin in Wartestellung von Professorin Caroline Stone, der hochrenommierten Wissenschaftlerin und Beraterin der englischen Polizei. Der Frau, die ihr Leben dem Ziel gewidmet hatte, Criminal Profiling zu einem anerkannten Feld innerhalb der Psychologie und nicht zuletzt bei Polizei und Justiz zu machen. Der Frau, mit der Katrine eine so heftige Auseinandersetzung gehabt hatte, dass sie vor drei Monaten aus England abgereist war, um sich eine Denkpause zu nehmen. Seitdem hatte sie sich schwerelos und freischwebend durchs Rote Meer geschnorchelt.
Befreiend und erschreckend zugleich.
Sie waren zurück in Scharm.
Katrine setzte sich auf Ians kleinen Balkon und drehte sich eine Zigarette. Unglaublich, wie stark ihre Sinne auf warme, süßliche Luft reagierten und fast unmittelbar ein Verlangen nach Tabak erzeugten. Sie hatte seit Jahren nicht geraucht, aber nur ein paar Tage, nachdem sie in Scharm El-Scheich angekommen war, wieder angefangen.
Man konnte so eben noch das Meer erahnen, wenn man sich in der einen Ecke des Balkons auf die Zehenspitzen stellte. Ihr von der Sonne gebleichtes, dichtes schulterlanges Haar ließ etwas Salz über ihre nackten braunen Schultern tropfen. Normalerweise war es rotblond, aber die lange Zeit unter der hellen Sonne und das Salz hatten ihm eine orangegoldene Farbe verliehen, die selbst für Katrine neu war. Ihre Haut duftete nach Meer und Sonne. Zu Hause in England – und in Dänemark – waren die Weihnachtstage vorbei. Das neue Jahr wartete. Die Leute verdauten. Aber sie saß hier mit Sand zwischen den Zehen, gerade erst zurück von einer phantastischen Schnorcheltour die Küste hinauf.
Ian war den ganzen Tag lang weg, unterwegs mit Touristen. Sie würden ein Stück weit die Küste entlangschnorcheln bis runter nach Blue Hole, dem abschließenden Höhepunkt der Tour. Hier schwamm man über eine 80 Meter tiefe Höhle im Korallenriff hinweg. Viele Male hatte sie ihn auf dieser Tour begleitet. Es war gleichzeitig beängstigend und unvergleichlich schön, in so tiefem Wasser zu schwimmen. Im Laufe der Zeit hatte so mancher waghalsige Taucher versucht, einen unterseeischen Tunnel weit unten in der Tiefe zu durchschwimmen, und war dabei ertrunken. An den Klippen an Land hatte man Gedenkplatten für die Toten angebracht.
Sie nahm ihr Telefon und seufzte. Konnte es auch gleich hinter sich bringen. Als sie losgezogen waren, hatte sie es in Ians Wohnung versteckt. Und das war gut gewesen, immerhin war sie so dem ewigen Klingeln und Vibrieren entkommen.
Drei Nachrichten von einer Nummer, die sie nicht kannte. Außerdem zehn von Caroline, ganz wie erwartet. Sie hörte die erste Nachricht der unbekannten Nummer ab.
»Guten Tag, Frau Doktor Wraa. Hier ist Per Kragh, Leiter der Mordkommission, Kripo Kopenhagen.«
Der neue Chef der Mordkommission der Kopenhagener Kripo auf ihrem Telefon? Eine undefinierbare Spannung breitete sich in ihrem Körper aus.
Letztes oder vorletztes Jahr war sie ihm einmal begegnet, bei einer Konferenz in Schweden. Er war auf sie zugekommen und hatte sich vorgestellt, nachdem sie einen kurzen Vortrag über kognitive Verhörtechniken und die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses gehalten hatte. Sie erinnerte sich an ihn, korrekte Erscheinung, diplomatisch, Anfang vierzig. Von seiner Ernennung hatte sie vor ein paar Monaten in einer der dänischen Internetzeitungen gelesen, die sie regelmäßig überflog, und war ein wenig überrascht gewesen. Für den Posten des Leiters einer Mordkommission hatte er etwas zu viel von einem Beamten an sich, hatte sie gedacht. Jetzt hatte er nicht weniger als drei Nachrichten auf ihrer Mailbox hinterlassen.
»Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen. Wenn Sie mich also so schnell wie möglich zurückrufen würden.« Es war keine Frage, eher eine Feststellung. Er nannte seine Nummer. »Danke.«
Lange starrte sie ihr Telefon an. Sehr lange.
Dann hörte sie die nächste Nachricht ab. Und die dritte, die vor vier Tagen aufgesprochen worden war.
»Ja, hier ist noch mal Per Kragh.« Er klang inzwischen leicht gestresst. »Offensichtlich ist es zurzeit sehr schwierig, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Ich hoffe aber doch, noch vor Neujahr mit Ihnen sprechen zu können, andernfalls bin ich gezwungen, nach einem anderen Kandidaten zu suchen.«
Einem anderen Kandidaten? War das hier etwa ein Jobangebot vom Leiter der Mordkommission der Kopenhagener Polizei?
Vor vier Tagen. Ihr Puls beschleunigte sich deutlich spürbar. Sie sah auf das Datum ihres Telefons. Morgen war Silvester.
Sie hörte die erste Nachricht von Caroline ab. »Ruf mich zurück, wenn du genug davon hast, Tauchertussi zu spielen und mit hässlicher Taucherbrille vorm Gesicht und albernen Flossen an den Füßen im Wasser rumzuplanschen. Aber noch vor Neujahr, sonst übernimmt Diana deinen Job. Ich glaube, du weißt sehr genau, was das bedeutet.« Sie löschte Carolines übrige Nachrichten, ohne sie abzuhören. Es würde nur schlimmer und schlimmer werden.
Ian betrachtete Katrine mit melancholischem Blick. Natürlich wollte er nicht, dass sie sich in irgendeiner Weise schuldig fühlte. Er war nur einfach traurig darüber, dass sie weg sein würde. Das war Katrine für ihren Teil auch. Aber in der Sackgasse vor ihr hatte ein Scheinwerfer aufgeblendet und einen Ausweg beleuchtet. Ihre Aussteigerphantasien waren verschwunden wie Raureif unter der ägyptischen Sonne.
Sie war in Kopenhagen gewesen und hatte eine Art Vorstellungsgespräch geführt. Anschließend hatte man ihr die Stelle sofort angeboten.
Sie legte die letzten Sachen in ihren Koffer und sah Ian lange an. Sie war kurz und intensiv gewesen, ihre Begegnung.
»Wo wirst du wohnen?«, fragte Ian.
»Meine Mutter hat mir ihr Ferienhaus hinterlassen.« Katrine hatte ihm von ihren Eltern erzählt. Dass ihre Mutter tot und ihr Vater, ein Engländer, zurück nach London gegangen war. »Von Kopenhagen ist es eine Stunde mit dem Auto.«
Diese Entfernung machte auf einen Australier keinen besonderen Eindruck. Das tat hingegen die winterliche Kälte, von der sie ihm erzählt hatte.
»Aber jetzt ist doch Winter in Dänemark, oder?«, sagte er, und in sein Gesicht stand ein Ausdruck des Schreckens geschrieben, der ihn offenbar schon allein bei der Vorstellung der furchteinflößenden Kälte ergriff.
»Ja, aber es gibt ja Kaminöfen.«
»Trotzdem …« Ein Kälteschauer schien Ian von Kopf bis Fuß zu durchlaufen.
»Ich muss erst mal sehen, was ich damit anfange. Und das kann ich am besten, wenn ich eine Zeitlang dort bin.«
»Willst du es verkaufen?«
»Das weiß ich eben noch nicht«, antwortete sie.
»Hat es denn leergestanden, seit deine Mutter gestorben ist?«
»Nein, man kann es mieten, über eine Ferienhausagentur. Deshalb habe ich es bisher auch immer vor mir hergeschoben, irgendwas zu entscheiden, was das Haus angeht. Und außerdem wäre das hier ohne die Mieteinnahmen gar nicht möglich gewesen«, sagte sie und machte eine ausladende Handbewegung. »Meine Mutter hat das Geld jahrelang auf einem Konto für mich angespart.«
»Aber es wäre einfacher für dich, wenn du in der Stadt wohnst.«
Sie sah ihn an.
»Ich liebe das Gefühl, auf dem Weg heraus aus der Stadt zu sein, wenn ich freihabe. Und im Sommer ist es einfach phantastisch – es liegt direkt am Strand. Heutzutage könnte ich mir so ein Haus überhaupt nicht leisten.«
Ian zog die Augenbrauen zusammen. »Entschuldige, aber weshalb überlegst du noch mal, ob du es vielleicht verkaufst?«
Sie wandte den Blick ab. Schaute hinunter in ihren Koffer und wünschte sich weit weg von der Frage, die er gerade gestellt hatte.
»Ich … Es sind einige Dinge da draußen passiert, als ich noch ziemlich jung war«, setzte sie an, konnte aber die richtigen Worte nicht finden. »Jemand ist gestorben«, begann sie endlich und erzählte ihm die Geschichte.
Schweigend hörte er ihr zu.
»Und du bist all die Jahre damit herumgelaufen und hast dir Vorwürfe gemacht?«, fragte er verwundert.
Sie nickte.
»Du armes Mädchen«, sagte er sanft. »Du musst zurück und deinen Frieden mit der Vergangenheit machen.«
»Es ist ja überhaupt nicht sicher, ob ich da draußen zurechtkomme«, sagte sie und sah wieder weg. »Und vielleicht kann ich in Dänemark gar nicht mehr Fuß fassen. Es ist ja hundert Jahre her, dass ich da gewohnt habe. Ich kenne keine Menschenseele.« Von einem Augenblick auf den anderen packte sie ein Reuegefühl und rief ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend hervor. Was zum Teufel tat sie hier eigentlich? Sie war dabei, ihre gerade erst gefasste, wenn vielleicht auch verfrühte Entscheidung für ein phantastisches, einfaches Leben wieder umzustoßen. Sie war auf dem Weg, das Paradies zu verlassen. »Und es ist auch noch lausig kalt!«, klagte sie. »Trotz Klimawandel.«
»Dann kommst du eben einfach zurück«, sagte er.
Sie setzte sich neben ihn auf das Bett. »Ja, dann komme ich einfach zurück«, sagte sie.
Er küsste sie lange und tief, die Haut um seinen Mund schmeckte wie immer salzig. Eine angenehme Wärme durchzog ihr Inneres, und der dumpfe Sog des Bereuens wurde zu einer Lust, die sich in die äußersten Winkel ihres Körpers ausbreitete.
Katrine nahm einen großen Schluck von ihrem zweiten Gin Tonic. Eine jähe, fiebrige Gier nach Nikotin überfiel sie. Schnell leerte sie die Tüte mit den gesalzenen Cashewnüssen, gab der Stewardess ein Zeichen und bestellte noch einen Drink.
»Man hat uns eine Stelle für einen Psychologen bewilligt, einen Profiling-Experten mit breitem Erfahrungsspektrum«, hatte Per Kragh am Telefon gesagt, als sie ihn zurückrief. Sie hatte ihren eigenen Ohren nicht getraut. Das war zu schön, um wahr zu sein.
»Es geht um eine Tätigkeit innerhalb einer neueingerichteten Task Force zur Bekämpfung von Bandenkriminalität.«
Okay, die Zeit der Wunder war ganz offensichtlich begrenzt und schon wieder vorbei. Von organisierter Kriminalität verstand sie in etwa so viel wie die Kuh vom Sonntag. Es war also doch nicht das, worauf sie gehofft hatte.
»Wir müssen die Entwicklung, die da gerade vor sich geht, aufhalten«, hatte er gesagt. »Die Rekrutierungstechniken werden immer erfinderischer. Wir müssen uns Wissen über das Milieu verschaffen, damit wir die Entwicklungen früh erkennen und ihnen zuvorkommen können, ein De-Ganging etablieren – die Jugendlichen vom Bandenmilieu fernhalten. Und wir müssen neue Methoden für unsere Ermittlungsarbeit und die Überwachung der Banden konzipieren. Deshalb sind Ihr Hintergrund und Ihre Erfahrung ungeheuer interessant für uns, zum Teil natürlich, weil Sie Dänin sind …«
»Halb Dänin, halb Engländerin.«
»Ja, äh … richtig, aber ganz entscheidend für uns ist natürlich Ihre Erfahrung sowohl in der Forschung als auch in der Praxis. Soviel ich weiß, gibt es keinen anderen Dänen, der Ihre Qualifikationen vorweisen könnte.«
Katrine hatte tief durchgeatmet. Es war nicht leicht, das zu sagen.
»Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich bin nicht die Richtige für den Job. Bandenkrieg ist nicht gerade mein Spezialgebiet«, hatte sie mit einer Stimme gesagt, aus der die Enttäuschung in so dicken Rauchschwaden aufstieg, dass sie sich nicht einmal Mühe gab, sie zu verbergen.
»Unter uns gesagt«, hatte Kragh in vertraulichem und eindringlichem Ton den Faden wieder aufgenommen, und sie hatte deutlich hören können, dass er nun das Terrain des offiziellen Headhuntings verließ, auf dem sich ihr Gespräch bisher bewegt hatte. »Meine Vorstellungen gehen auch in eine etwas andere Richtung, die aber nicht überall im System bekannt ist.«
»Aha?« Ihre Neugierde war wiedererwacht.
»Ich gehe davon aus, dass das unter uns bleibt?«
»Darauf können Sie sich verlassen«, hatte sie gesagt und ihre Sensoren wieder auf höchste Empfindlichkeit gestellt.
»Ich habe einige sehr konkrete Vorstellungen, was die Neuorganisation und Modernisierung der Ermittlungsmethoden innerhalb der Mordkommission angeht. Und deshalb möchte ich gerne jemanden mit Ihrem Profil im Team haben. Ja, tatsächlich habe ich diesen Gedanken seit der Konferenz im vergangenen Jahr im Hinterkopf, wo wir uns getroffen haben. Das würde uns sehr voranbringen, auch im internationalen Kontext. Meine Vorstellung ist also: Wenn diese Task Force ihre Mission in ein bis zwei Jahren beendet und alle Akten abgeliefert hat und Sie auf Ihrer Stelle etabliert sind, dann habe ich ausgezeichnete Argumente, um Sie zu Mord rüberzulotsen. Aber momentan kann ich eine solche Ressource unter keinen Umständen durchdrücken.«
Sie hatte einen kurzen Moment nachgedacht.
»Okay!«
»Phantastisch!« Per Kragh hatte erklärt, sie werde offiziell als Mitarbeiterin der Mordkommission angestellt sein und für einen begrenzten Zeitraum zur Task Force abgestellt werden. Er selbst werde zwar nicht zum Leitungsteam der Task Force gehören, deren Arbeit aber »von der Seitenlinie« aus verfolgen.
Die Planungen für die Task Force waren noch im Gang, die ersten Wochen würde sie also Teil der Mordkommission sein, eine Art Einführungslehrgang absolvieren und die Ermittler bei konkreten Fällen begleiten und unterstützen – ob sie nun mit Bandenkriminalität zu tun hatten oder nicht.
»Sie fangen also sozusagen bei mir an«, hatte Per Kragh gesagt und dabei sehr zufrieden geklungen.
Sie widmete sich wieder ihrem Gin Tonic und versuchte, eine bequeme Position in ihrem Flugzeugsitz zu finden, gab es aber bald auf. In ihrem Körper klang immer noch das Echo des Abschieds von Ian nach. Die Glückshormone – der Alkohol leistete sicher auch seinen Beitrag – ließen ihn weich und entspannt werden.
In London hatte sie eine privilegierte Stellung gehabt. Als Assistentin von Caroline Stone hatte sie Zugang zu Tatorten bekommen und war stärker in die Ermittlungen einbezogen worden, als es für einen Psychologen normalerweise der Fall war. Sie war in den USA gewesen und hatte mit dem FBI zusammengearbeitet, und in England war sie mit Fällen in Berührung gekommen, die auf der Prioritätenliste der Medien ganz oben standen. Die meisten Studenten der forensischen Psychologie in ganz England hätten ihren rechten Arm für das gegeben, was sie erreicht hatte.
Darum hatten sich auch so viele aus dem Fachgebiet gewundert, dass sie gegangen war. Alle wussten, dass Caroline sie als ihre Nachfolgerin aufbaute und selbst in fünf Jahren in Pension gehen würde. Was konnte sie sich sonst noch wünschen?
Dass der Preis nicht so hoch wäre.
Caroline hatte begonnen, in zunehmendem Maße Bedingungen zu stellen; es gab Methoden, die bekamen ein Go, nämlich Carolines, und es gab Methoden, die bekamen ein No go, die der Konkurrenten, selbst wenn sie noch so belastbar und hilfreich waren. Eine aus Katrines Sicht vorsintflutliche Einstellung, der sie sich nicht unterordnen konnte. In der letzten Zeit waren die Diskussionen zwischen ihnen nicht besonders angenehm gewesen.
Doch Tatsache war, dass die meisten Psychologen ihres Fachgebiets in der Forschung tätig oder Schreibtischanalytiker waren, die niemals auch nur den Schatten eines Kriminellen zu sehen bekamen. So wollte sie auch nicht enden. Aber so wie die Sache stand, gab es keine anderen Möglichkeiten, wollte sie weiterhin in England arbeiten.
Und jetzt würde es also eine Erklärung geben, die alle verstehen konnten: Katrine hatte die Chance bekommen, in ihrem zweiten Heimatland Fuß zu fassen. Obwohl sich diejenigen, die sie näher kannten, natürlich im Klaren waren, warum sie eigentlich weggegangen war.
Worauf man sehr gespannt sein konnte, war ihr zukünftiges Verhältnis zu Caroline – auf lange Sicht. Würde Caroline Katrine abstrafen und sie kaltstellen, wie sie es mit anderen gemacht hatte, die die Königin herausgefordert hatten? Die Allianzen waren stark, die Positionen polarisierten, es war akademische Kriegsführung von brutalem Charakter. Und jetzt sollte Carolines Schoßhündchen Diana also nach Katrine übernehmen. Friede sei mit ihnen, dachte sie.
Sie konnte immer noch nicht wirklich fassen, dass ihr aus heiterem Himmel ein Job in Dänemark in den Schoß gefallen war. Mit dieser Möglichkeit hätte sie nie gerechnet. Dänemark war so klein, auf eine Art so unschuldig. Fünfzig Morde pro Jahr, die im Großen und Ganzen alle aufgeklärt wurden. Aber die Kriminalität war natürlich auch eine ganz andere. Bandenkriege. Rocker. Drogen. Sie hatte nie besondere Lust verspürt, sich in diese Art von Fällen zu vertiefen.
Es war Per Kraghs Schubladensystem, das für sie den Ausschlag gegeben hatte. Ging die Schublade Task Force zu, ging die Schublade Mordkommission auf. Und das hatte sie ihm auch in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben.
Wenn es nicht funktionierte, gab es für sie immer noch den Weg zurück nach Scharm. Oder in die USA. Zum Teufel, Katrine, sagte sie zu sich selbst, leg endlich deinen Tunnelblick ab und auf in den Kampf, die Welt ist groß!
Ich gebe dem eine Chance, versprach sie sich feierlich. Ich bin die, die in der nächsten Runde ist!
Darauf erhob sie ihr Glas, prostete sich zu und leerte ihren dritten Gin Tonic. Womit es Zeit war, es gut sein zu lassen. Am Kopenhagener Flughafen wartete ein Leihwagen auf sie.
Der Schnee knirschte unter dem Gewicht des großen schwarzen Wagens mit Allradantrieb, als Katrine in den schmalen Weg einbog, der ins Ferienhausgebiet führte und wie erwartet nicht geräumt war. Es war klug gewesen, ihrem schlechten Gewissen zu trotzen und dieses benzinschluckende Monster zu mieten, mit dem sie bis zu ihrem Haus am Strand und von dort auch wieder wegkommen konnte, ohne im Schnee stecken zu bleiben.
Es war schon dunkel geworden, aber sie hätte die Stelle mit verbundenen Augen gefunden. Katrine hielt an und betrachtete das kleine schwarze Holzhaus mit den weißen Fensterrahmen im Licht der Scheinwerfer. Einen Augenblick lang zögerte sie und blieb im Wagen sitzen, bevor sie ausstieg.
Von der anderen Seite des Hauses klang das vertraute Rauschen des Meeres zu ihr herüber. So rau und kalt, verglichen mit dem, das sie gerade erst verlassen hatte. Sie sah es vor sich, wie die Wellen bis weit hinauf auf den Strand schlugen.
Sie kannte diesen Ort so gut. Und es war, als würde der Ort auch sie wiedererkennen.
In ihrer Kindheit hatte sie jeden Sommer hier verbracht. Alles hier war beinah wie ein Teil ihres Körpers. Als hätten sich ihre Erinnerungen hier materialisiert. So viele Sinneseindrücke waren hier zu Hause; brennende Haut auf einer Decke im Gras, der Schweiß, der sich zwischen Stoff und Haut sammelte, während man dalag und las. Gänsehaut in eiskalten Wellen außerhalb der Badesaison, Muskeln, die danach vor Kälte zitterten, ob man wollte oder nicht. Und die Düfte: nach würzigen Fichten, süßen Erdbeeren und geröstetem Brot am Morgen, wenn sie aufstand, bettdeckenwarm, und mit von Salz borstig abstehenden Haaren nach draußen zu ihren Eltern schlurfte, die auf der Terrasse Kaffee tranken.
Sie ging zum Haus und schloss auf. Sofort warf sich der muffige Geruch eines Hauses, das die meiste Zeit des Jahres leerstand, über sie und bildete einen starken Kontrast zu den Bildern, die sie eben noch vor ihrem inneren Auge heraufbeschworen hatte.
Sie ging hinein und schloss die Tür. Das Haus war eisig, und es würde einige Zeit dauern, bis es ordentlich durchgewärmt war. Die Kälte hatte sich in Wänden, Möbeln und Böden festgebissen. Sobald sie die Koffer geholt hatte, würde sie ihre wärmsten Sachen hervorkramen müssen.
Langsam ging sie im Haus herum und rief sich die Atmosphäre ins Gedächtnis, die ihr so gut bekannt war. Da war der Tisch, an dem sie gegessen oder Karten gespielt hatten, wenn es zu kalt war, um draußen zu sitzen. Da war der Kaminofen, in dem Feuer gemacht wurde, wenn es abends kühl war. Da war die Doppeltür mit den kleinen Sprossenfenstern, die auf die Terrasse im Garten hinter dem Haus führte, direkt dahinter die Holzstufe, auf der sie Gott weiß wie viele Sommerstunden gesessen und was getan hatte? Nichts, weder Weltbewegendes noch sonst etwas, überhaupt nichts. Einfach nur da gewesen war.
Wenn sie bei Tageslicht hier wäre, was, wie ihr klarwurde, nicht der Fall sein würde, bevor die erste Arbeitswoche vorüber war, würde sie ein bisschen dort draußen herumstapfen und sich den schneebedeckten Garten ansehen. Sie sah es vor sich, wie sie sich überwinden würde, das Törchen am Ende des Gartens zu öffnen und die Holztreppe zum Strand hinunterzugehen.
Aber diese Reise begann genau hier; widerwillig schaute sie auf die Türen zu den beiden Schlafzimmern, die auf dem kleinen Eingangsflur einander genau gegenüberlagen. Das Schlafzimmer der Eltern. Und … Sie atmete tief ein und schaute auf die andere Tür zu ihrem eigenen Zimmer, wo sie in den langen hellen Sommernächten gelegen und geschlafen hatte. Wo sie gelegen und geschlafen hatte, als Lise, die am Gymnasium ihre Freundin gewesen war, zu ihr kam und sie mit den Worten weckte, die sich später als so fatal erwiesen hatten: »Wir können Jon nicht finden.«
Sie sah alles vor sich. Die Schulzeit war zu Ende, und sie hatten sich erst vor kurzem als Studenten eingeschrieben. Eine Fete reihte sich an die andere, und ihre Clique war hier heraufgefahren, um die neugewonnene Freiheit zu genießen. Das war lange her. Beinahe als ob es in einem anderen Leben geschehen wäre. Seitdem war sie nur ganz wenige Male hier gewesen. Aber sie hatte nie wieder in diesem Haus, in diesem Zimmer geschlafen.
Es ist nur die erste Nacht, die musst du überstehen, sagte sie beruhigend zu sich selbst. Entschlossen setzte sie sich in Bewegung und öffnete die Tür zu ihrem alten Zimmer. Es sah genauso aus wie früher. Ich kann hier sein, kein Problem, machte sie sich Mut und glaubte beinah ihren eigenen Worten.
Dann machte sie sich daran, das Haus einzunehmen.
An einer Tankstelle hatte sie Brennholz gekauft und zündete nun als Erstes ein Feuer im Ofen an. Sie schaltete alle Sicherungen ein und begann, ihr Gepäck und die Vorräte ins Haus zu tragen. Sie hatte unterwegs in Hillerød Großeinkauf gemacht, nachdem sich zu ihrem großen Glück herausgestellt hatte, dass der Supermarkt sonntags geöffnet hatte. Jetzt konnten ihr auch fünf Wochen Eingeschneitsein nichts anhaben. Typisch für sie. In einem Supermarkt hatte sie sich einfach nicht unter Kontrolle. Das geliebte Essen. Aber zum Teufel, das kleine Land war ziemlich teuer geworden. Fast wäre sie in Ohnmacht gefallen, als sie die Preisschildchen an ganz gewöhnlichen Alltagswaren in Augenschein nahm. Ganz zu schweigen von den Delikatessen, die sie sich so gern einverleibte; guter Espresso, frisches Pesto, himmlischer Ziegenkäse, Lammfleisch, Fisch und Gemüse, Wein und Obst in langen Regalreihen. Der Betrag, den man ihr an der Kasse abverlangte und von dem sie in England mehrere Monate lang hätte leben können, ließ sie in einem schockartigen Zustand zurück.
Eine Viertelstunde später hatte sie alles da abgestellt, wo es ausgepackt werden sollte. Sie überlegte kurz und entschloss sich, in ihrem alten Zimmer zu schlafen und das ihrer Eltern zum Ankleideraum umzufunktionieren. Sie schob die eiskalte Matratze vor den Kaminofen und legte ein paar Scheite nach. Dann kramte sie dicke Wollsocken und einen Sweater hervor, schnitt ein paar Scheiben Brot und etwas von dem kostbaren Ziegenkäse ab und setzte die Espressokanne auf. Sie aß vor dem Ofen sitzend und schaute hypnotisiert in Flammen und Glut.
Dann schrieb sie eine SMS an Ian, sie sei gut angekommen und stehe nun bis zu den Knien im Schnee. Anschließend rief sie ihren Vater an und erzählte, alles sei gelaufen wie geplant und mit dem Haus alles in Ordnung. In der Zwischenzeit war eine Antwort von Ian gekommen. Hi, Darling, hab’s ja gesagt, du hättest hierbleiben sollen.
Im Badezimmer sah sie sich im Spiegel an. Sie sah wirklich wie eine Tauchertussi aus. Die ausgetrockneten orangegoldenen Locken umrankten ihr Gesicht wie eine exzentrische Löwenmähne. Sie hatte es nicht gewagt, sich einem der Frisöre in Scharm auszuliefern. Aber wie hatte sie sich das eigentlich vorgestellt? Wenn sie morgen zu ihrem ersten Arbeitstag unter dänischen Polizisten, Juristen und Beamten erschien und so aussah, würde aller Anfang noch schwerer sein. Entschlossen griff sie zu ihrer Nagelschere und begann, die trockenen Spitzen abzuschneiden. Als arme Studentin hatte sie das schon mal gemacht, und das Resultat war einigermaßen akzeptabel gewesen. Überwältigend wurde es auch diesmal nicht, aber immerhin sah es deutlich besser aus als vorher.
Den Rest des Abends verbrachte sie damit, ihren Laptop ans Internet anzuschließen. Danach aß sie noch etwas und überflog wie gewohnt die Internetausgaben der Tageszeitungen, ein paar englische und ein paar dänische.
Bevor sie ins Bett ging, packte sie ihre Fachbücher aus und stellte sie in ein Regal im Wohnzimmer. Sie nahm sich eins der Bücher über kognitive Verhörtechniken, das einer ihrer früheren Kollegen geschrieben hatte – Verhörmethoden, um möglichst effektiv im Gedächtnis der Verhörten zu suchen.
Im Gegensatz zu mehreren Nachbarländern hatte es in Dänemark keine Skandalfälle gegeben. Schweden, Norwegen, England; überall war es zu Fällen gekommen, in denen die Polizei so versessen darauf gewesen war, ein Geständnis zu präsentieren, dass man es erzwungen hatte. Bevor DNA-Tests gang und gäbe wurden, hatte dies dazu geführt, dass man Unschuldige für Jahre hinter Gitter brachte, verurteilt für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten. In den Ländern, in denen es solche Fälle gegeben hatte, arbeitete man in der Folge entschlossen daran, die Rechtssicherheit der Angeklagten zu verbessern – unter anderem dadurch, dass man die Ermittler gründlicher ausbildete, was Techniken des Verhörs von Angeklagten, Opfern und Zeugen anging.
Die kognitive Verhörtechnik baute auf dem Verständnis auf, dass das menschliche Gedächtnis eine erfinderisch begabte und nicht immer verlässliche Größe ist. Erinnerungen werden innerhalb eines Zusammenhangs abgelegt. Oftmals würden Verhörte schwören, dass ihre Erinnerungen den tatsächlichen Begebenheiten vollständig entsprechen. Nur den wenigsten Leuten ist bewusst, dass der Mensch seine Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis laufend korrigiert.
Eine Untersuchung nach einem Flugzeugabsturz am Flughafen Schiphol in Amsterdam hatte dies eindrucksvoll gezeigt: Im Fernsehen hatte man nach dem Unglück Bilder des Flugzeugwracks und eines zerstörten Gebäudes gezeigt. Fünfundsiebzig Prozent der Teilnehmer der Studie gaben später an, sie hätten Bilder des abstürzenden Flugzeugs im Fernsehen gesehen. Aber vom eigentlichen Absturz existierten keine Aufnahmen.
In diesem für die Ermittler so wichtigen Werkzeug steckte jede Menge Zündstoff für Diskussionen. Das Buch hatte einen hervorragenden Theorieteil und war gleichzeitig auch praktisch anwendbar. Einige der Kapitel über Gedächtnis und Methode würde sie gut gebrauchen können, wenn sie daranging, die Ermittler zu schulen.
Beim Gedanken an dieses konkret bevorstehende Ereignis registrierte Katrine eine ganze Reihe von Signalen ihres Körpers, die deutlich anzeigten, wie es um sie und ihren neuen Job stand. Ihr Verdauungssystem schaltete direkt auf Sparflamme, so dass der Körper die Ressourcen für Überleben und Flucht einsetzen konnte. Oder mit anderen Worten: Sie war hypernervös und hatte Schmetterlinge im Bauch von der Größe … einer Möwe? Sonderbares Bild, dachte sie und sah ein, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen, um morgen frisch und ausgeruht den ersten Arbeitstag ihres neuen Lebens angehen zu können.
Ein Schrei?
War es ein Schrei gewesen? Oder ein Fuchs? Manchmal klangen sie wie eine schreiende Frau. Unheimlich und schrill. Und eine Fuchsspur im Garten war nichts Ungewöhnliches.
Adam Ehlers entschied sich, den Unannehmlichkeiten zu trotzen, die damit verbunden waren, aus seinem warmen Bett zu steigen, und die Sache näher zu untersuchen, obwohl es – er schaute auf seine Uhr … du liebe Güte, zehn Minuten nach fünf war. Erst in zwei Stunden musste er aufstehen. Er hatte die ganze Nacht über schlecht geschlafen, oberflächlich und unruhig wegen der am Morgen bevorstehenden Vorstandssitzung. Die Finanzkrise hatte der Beratungsagentur, die er vor fast zehn Jahren gegründet und mit der er sich selbständig gemacht hatte, schwer zugesetzt.
Aber trotz allem, er hatte noch nie einen Fuchs mit einem solchen Organ gehört. Seine Frau schlief wie gewöhnlich tief und fest und hatte offenbar nichts bemerkt. Er überquerte den Flur in der ersten Etage und betrat das Büro, das er in dem Eckzimmer mit Blick auf den Garten der Familie Winther eingerichtet hatte. Von dort war, wie er meinte, der Laut gekommen.
Ein Blick hinunter in den Garten bestätigte seine Befürchtungen. Was er im trüben Licht der Straßenlaterne dort unten sah, war gleichzeitig überraschend und unwirklich.
Eine Frau, die er als seine Nachbarin Vibeke Winther erkannte, saß da, über eine Gestalt gebeugt, die auf der Erde lag und von der Adam Ehlers annahm, es sei Mads Winther, ihr Mann. Aber warum saßen sie da draußen im Garten?, dachte er. Im Schnee? In dieser Kälte? Zu dieser Zeit? Sah es so aus, als versuche sie, ihm Erste Hilfe zu leisten? Ehlers’ Gehirn verarbeitete die Reize, die es aufnahm, viel zu langsam. Aber plötzlich erwachte er aus seinem tranceartigen Zustand und erkannte, dass er etwas tun musste. Also rief er nach seiner Frau.
»Anne-Marie, wach auf. Bei den Winthers ist etwas passiert!«
Verwirrt setzte sich seine Frau im Bett auf. So schnell er konnte, stakste Adam auf noch steifen Beinen die Treppe hinunter, zog Stiefel und Mantel an und eilte hinüber zu seinen Nachbarn.
»Nein …« Er hörte das schwache Wimmern schon, als er noch draußen auf der Straße war. »Neeeiii …«
Vibeke Winther wirkte, als habe sie aufgegeben, saß da und zog kraftlos an der Kleidung der leblosen Gestalt.
Als Adam Ehlers näher kam, verstand er warum.
Mads Winther war tot.
Und man brauchte kein Arzt zu sein, um das festzustellen. Sein Oberkörper war eine einzige blutige Masse, das Gesicht war bleich und in einem grotesken, verblüfften Ausdruck erstarrt.
Adam Ehlers legte eine Hand auf Vibekes Schulter. Sie reagierte nicht. Er trat ein paar Schritte zurück und gab auf seinem Handy die 112 ein.
Katrine erwachte und hätte geschworen, dass es das Geräusch ihrer klappernden Zähne war, das sie geweckt hatte. Das Schlafzimmer fühlte sich so kalt an, wie es vermutlich draußen war. Irgendetwas war wohl mit den Sicherungen der Heizung nicht in Ordnung. Sie stand auf, schlüpfte hastig in die Sachen, die sie gestern schon getragen hatte, tastete nach dem Lichtschalter und schlurfte ins Wohnzimmer. Hier war es ganz sicher nicht wärmer. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach fünf, sie hätte noch fast eine Stunde schlafen können. Aber in dieser Kälte konnte sie sich unmöglich wieder hinlegen. Vielleicht eine Runde laufen? Das würde jedenfalls ihren Kreislauf in Schwung bringen. Sie holte ihre Laufsachen hervor und zündete ein Feuer im Ofen an. So würde es etwas wärmer sein, wenn sie wieder zurückkam.
Zum Glück hatte sie daran gedacht, eine Stirnlampe zu kaufen. Die Wege hier draußen waren nicht beleuchtet. Im Laufe der Nacht war mehr Schnee gefallen, aber die Luft war wärmer als gestern, und es schien, als würde Tauwetter einsetzen. Ihre Schuhe waren bald durchnässt. Es war nicht gerade ein Vergnügen, was sie hier unternahm, aber nachher, wenn es überstanden war, würde sie sich gut fühlen, tröstete sie sich.
Als sie eine halbe Stunde später die Haustür öffnete, klingelte gerade ihr Handy. Nach drei langen Schritten war sie dran.
»Katrine hier«, schnaufte sie in das Telefon hinein.
»Guten Morgen, Katrine. Per Kragh hier. Ja, entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe.«
»Nein, schon okay, ich war draußen und bin gelaufen.«
»Das nenn ich mal Frühsport.« Sie konnte hören, dass er lächelte. »Tja, also ich rufe an, weil wir schon so früh am Morgen mit einer Mordsache dastehen. Und da dachte ich mir, Sie könnten ja genauso gut direkt zum Fundort fahren. Ihr Partner ist schon auf dem Weg dorthin.«
»Okay, geben Sie mir die Adresse, ich komme so schnell wie möglich hin.«
Er gab ihr die Adresse, irgendwo im Frederiksberg-Viertel.
»Gut, dann sehen wir uns gleich.«
»Gleich?«
»Ja, ich komme immer zum Fundort.«
»Ach so, ja, natürlich.« Sie musste sich wohl noch an die deutlich andere Frequenz in Sachen Mord gewöhnen. Wenn der oberste Chef des Morddezernats in London zu jedem Tatort hätte kommen wollen … völlig unmöglich.
Ihre Push-ups mussten bis heute Abend warten. Normalerweise machte sie hundert nach jedem Lauf. Und hundert Sit-ups. Sie musste auch so bald wie möglich ein paar Gewichte fürs Krafttraining kaufen. Den Satz, den sie in Scharm gekauft hatte, hatte sie bei Ian zurückgelassen. Vierzig Kilo Eisen als Extra-Gepäck waren einfach zu teuer gewesen.
In halsbrecherischem Tempo nahm sie eine Dusche, schlang eine Portion Hafergrütze hinunter, griff ihre Kamera und das Aufnahmegerät und stürzte aus dem Haus. Für Kaffee und Make-up war keine Zeit. Sie gab die Adresse ins Navi ein und fuhr los.
Jens Høgh betrachtete den toten Mann, der in einer schmutzigen Masse aus Schnee und Blut in seinem eigenen Vorgarten lag. Noch war unklar, wie viele Male ein scharfer Gegenstand, vermutlich ein Messer, in den Körper eingedrungen war. Fest stand dagegen, dass derjenige, der den Gegenstand benutzt hatte, den brennenden Wunsch verspürt haben musste, dieser Mann solle sterben. Kein Zweifel.
In den letzten Nachtstunden hatte es geschneit. Als sie bei der grauen Villa in Frederiksberg ankamen, waren immer noch große weiche Schneeflocken in der Luft. Die weiße Masse hatte sich wie ein riesiger Isolierteppich über die Erde gelegt, der alle Geräusche dämpfte.
Das Interessante daran war, dass man den Toten unter diesem Schneeteppich gefunden hatte. Er musste also schon einige Stunden dagelegen haben, bevor er, der vorläufigen Aussage seiner Frau zufolge, von ihr selbst kurz nach fünf an diesem Morgen gefunden worden war.
Im Zelt, das man eilig aufgestellt hatte, um den Tatort gegen den anhaltenden Schneefall abzuschirmen, ging Jens neben der Leiche in die Hocke. Zwei Kriminaltechniker nahmen Bilder auf und sicherten sorgfältig die Spuren. Sie fluchten über das Tauwetter, das eingesetzt hatte und es schwermachte, Fußabdrücke im Garten oder auf dem Aufgang zur Villa zu nehmen. Vorläufig gab es keine sichtbaren Anzeichen dafür, dass der Mörder im Haus gewesen war, aber ein zweites Technikerteam arbeitete drinnen, um diese Frage zu klären. Die Gerichtsmediziner, eine junge Frau und ein älterer Herr, warteten darauf, Zugang zur Leiche zu bekommen, die eine ungeduldig, der andere geduldig.