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Inge Jens

Am Schreibtisch

Thomas Mann und seine Welt

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Inge Jens

Inge Jens, geboren 1927 in Hamburg. Studium der Germanistik, Anglistik und Pädagogik; Promotion 1953. Herausgeberin der Tagebücher Thomas Manns. Mitarbeit an zahlreichen weiteren kulturhistorischen Projekten. Seit 1951 war sie verheiratet mit Walter Jens; sie lebt in Tübingen.

Buchveröffentlichungen: Frau Thomas Mann (2003), Katias Mutter (2005), Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn (2008), alle zus. mit Walter Jens. Außerdem: Unvollständige Erinnerungen (2009).

Über dieses Buch

Inge Jens zieht Bilanz

Inge Jens wurde als Editorin von Thomas Manns Tagebüchern gerühmt, als Biographin von Katia Mann und Hedwig Pringsheim gefeiert. Jetzt zieht sie eine persönliche Bilanz ihrer Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit den Manns. Sie widmet sich dem Ort, an dem Thomas Manns Werke entstanden und den er selbst als das eigentliche Zentrum seines Lebens ansah: seinem Schreibtisch. Was war es für ein Möbelstück, an dem «TM» – wann immer möglich – den Vormittag verbrachte und sich dem täglichen Pensum widmete? Wo stand es, wie sah seine Umgebung aus, und was passierte im familiären und häuslichen Umfeld? Welches Schicksal hatte der Schreibtisch auf den verschiedenen Exilstationen der Manns nach 1933? Und wie unterschied sich Thomas Manns Schreibtischexistenz vom Leben anderer Autoren seiner Zeit? Inge Jens berichtet in diesem Buch auch über ihre persönlichen Begegnungen mit der Mann-Familie. Und sie dokumentiert in einem gesonderten Kapitel ihren Briefwechsel mit Golo Mann. Ein Buch mit vielen überraschenden Einsichten – und ein großes Lesevergnügen.

 

«Die Tagebuch-Ausgabe von Inge Jens ist ein Meilenstein in der Geschichte der Editionsphilologie. Vielleicht werden die Tagebücher Thomas Manns nie mehr dieselben sein, die sie vor Inge Jens waren oder die sie ohne Inge Jens gewesen wären.»

Thomas Sprecher, ehemals Leiter des Thomas-Mann-Archivs, Zürich

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Uwe Naumann

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

(Umschlagabbildung: picture alliance/KEYSTONE)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-498-03341-5 (2. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-03471-6

www.rowohlt.de

 

Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgbe.

ISBN 978-3-644-03471-6

Als ich vor zwei Jahren während des Tübinger Bücherfestes eher beiläufig in den Kartons der Antiquare stöberte, stieß ich auf einen wohlerhaltenen Band mit dem Titel «Schreibtischerinnerungen». Der Autor: Werner Bergengruen. Das Buch kostete nicht viel und hatte ein Format, das in meine nicht sehr große Umhängetasche passte. Ich nahm es mit – eigentlich ohne genau zu wissen, warum. Vielleicht, weil es mich an meine Beschäftigung mit den Studenten der «Weißen Rose» erinnerte. Bergengruen war einer von denen gewesen, die ihre Widerstands-Aufrufe eines Morgens unter ihrer Post gefunden, abgetippt, kuvertiert und anonym an Bekannte, aber auch an gezielt ausgesuchte, dem Telefonbuch entnommene Adressen weitergeschickt hatten. Nach vielen Anfeindungen, die ihm in den frühen Jahren der Bundesrepublik widerfuhren, hatte er Anfang der sechziger Jahre, dem Tod schon nah, Bilanz gezogen: Was habe ich in meinem langen Schriftstellerleben gedacht, geschrieben, verschwiegen an meinem alten Schreibtisch, der einst, im 19. Jahrhundert, dem Pharmazeuten und Doktor der Heilkunde Max von Pettenkofer gehörte?

Vielleicht interessierte mich das kleine Buch aber auch, weil ich während meiner Arbeit an der Edition von Thomas Manns Tagebüchern oft Gelegenheit gehabt hatte, mir im Zürcher Archiv das mit den Kilchberger Originalmöbeln rekonstruierte Arbeitszimmer des Meisters anzuschauen und den imposanten Mahagoni-Schreibtisch etwas genauer zu inspizieren, an dem ein großer Teil jener täglichen Rechenschaft entstanden war, die damals mit meiner Hilfe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte.

Je weiter ich mich in der Lektüre der Tagebücher «vorgearbeitet» hatte, desto interessanter war mir dieses Möbel geworden, das seinen Besitzer über alle Stationen der Emigration hinweg, von Zürich nach Princeton, von dort quer durch den amerikanischen Kontinent nach Kalifornien und schließlich, 1952, wieder zurück nach Europa begleitet hatte: Garant einer neuen Beheimatung, eines Lebens-Stetigkeit verbürgenden Mittelpunktes – gleichgültig, unter welchem Himmel es gerade stand.

Als ich ihm das erste Mal begegnete, Mitte der achtziger Jahre, stand das repräsentative Stück in einem ihm angemessenen Ambiente: auf historischem Boden, in einem alten Gebäude an der Zürcher Schönberggasse, Ecke Doktor-Faust-Gasse, dem Bodmer-Haus. Hier lebte von 1739 bis zu seinem Tode 1782 der Schweizer Dichter und Literaturvermittler Heinrich Jacob Bodmer … ein Zürcher Patrizier, der, wie eine über dem Eingang angebrachte Tafel erzählt, in seinem Anwesen Klopstock und Wieland beherbergt und zweimal auch Goethe empfangen hatte, der ihn zunächst in Begleitung der beiden Grafen Christian und Friedrich Stollberg, später dann zusammen mit Herzog Carl-August aufsuchte.

Dort, im zweiten Stock und unter dem Dach, logiert heute das Thomas-Mann-Archiv, das neben unendlich vielen Manuskripten, Vorstudien, Materialsammlungen und Briefen auch das rekonstruierte Arbeitszimmer des Meisters beherbergt, das, wie das einstige in Kilchberg, einen wunderbaren Ausblick auf den See und die Berge eröffnet. Hier befindet sich, als wichtigstes Möbel, der Schreibtisch.

Zwei elegant-verspielt wirkende, auf leicht nach außen geschwungenen Ball- und Klauen-Füßen stehende Seitenteile, mit je zwei mal zwei nach vorn und nach hinten zu öffnenden Schubladen tragen die von einer holzgeschnitzten Knopfleiste abgegrenzte und auf Hochglanz polierte Arbeitsfläche. Hier stehen bis heute die in Briefen und Tagebüchern immer wieder liebevoll erwähnten vorwiegend asiatischen und ägyptischen Antiken und sonstigen Erinnerungsstücke wie eh und je an jenem Platz, der ihnen einst zugewiesen worden war – vermutlich auch schon auf einem aus den «Vereinigten Werkstätten» in München stammenden Vorgänger-Möbel, das Alfred Pringsheim 1905 seinem Schwiegersohn zur Hochzeit schenkte.

Hinter der hellbraunen Leder-Schreibmappe mit den eingeprägten Initialen «TM» befinden sich drei Feder-Schalen. Auf einer von ihnen hat seit 1938 ein chinesischer, leicht grünlicher Jadebecher, Weihnachtsgeschenk der amerikanischen Gönnerin Agnes Meyer, Platz gefunden. Das Ensemble steht zwischen den beiden hohen – Schiller’schem Ambiente nachempfundenen – Messingleuchtern, vor dem etwa dreißig Zentimeter hohen siamesischen Bronze-Buddha oder -Krieger, wie Thomas Mann ihn gelegentlich auch nennt. Rechts daneben die große chinesische Aschenschale, eine viereckige japanische Porzellanvase mit hölzernem Fuß und schließlich – familiäres Weihnachtsgeschenk 1948 für den kalifornischen Arbeitsplatz – die «hübsche Stutzuhr» in ihrem ovalen Glasgehäuse. Weiter unten dann, neben und unter vielen zum Teil recht kostbaren Kästchen und Dosen, der große elfenbeinerne Brieföffner und ein circa 15 Zentimeter langes Stück eines Elefanten-Stoßzahns. Links von der Leuchter-Gruppe die kleine Sammlung ägyptischer Grabesdiener und Soldaten und ein gerahmtes Photo von Katia als junger Frau. Davor ein kleines Bildchen der «kalifornischen Enkel» Frido und Toni. In Richtung Schreibmappe dann der Umlegekalender, mit dessen Hilfe Thomas Mann gelegentlich über den Ablauf der Zeiten meditierte, und schräg darunter, in schwarzlederner Hülle, der Notizblock. Auch auf dieser Seite gibt es noch vieles andere: verschiedene schön gemaserte und blank geschliffene Steine sowie eine Schieferplatte mit dem Abdruck einer fossilen Seelilie.

Von einigen dieser Erinnerungsstücke kennen wir die Herkunft. Sie begegnen uns im Werk und werden in Briefen, später dann auch im Tagebuch erwähnt.

Die Odyssee, die hinter diesem, in seinem aktuellen Erscheinungsbild ein ganzes Schriftstellerleben repräsentierenden Gesamtkunstwerk «Schreibtisch» liegt, hat keine Spuren hinterlassen. Vergleicht man Photos aus den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren mit denen, die das Zürcher Archiv ins Internet gestellt hat, findet man nur bei genauem Hinschauen ein paar Unterschiede. Über das Wenige, das im Ablauf späterer Zeit dem Altvertrauten hinzugefügt wurde, gibt das Tagebuch minutiös Auskunft; wie es denn überhaupt erst durch die Aufzeichnungen in den Diarien möglich wird, etwas über die Bedeutung zu erfahren, die jenes Möbelstück für das Aufrechterhalten bzw. die Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts seines Besitzers hatte.

Es ist eine faszinierende, fast unglaublich klingende Geschichte, die allerdings mit einem weißen Flecken beginnt. Es ist der Thomas-Mann-Forschung bis heute nicht gelungen, genau in Erfahrung zu bringen, wann und unter welchen Umständen Thomas Mann das Möbelstück erwarb. Aus Photos und einer Erzählung von Elisabeth Mann wurde bisher geschlossen, dass der Kauf gegen Ende der zwanziger Jahre, vermutlich irgendwann zwischen 1928 und 1930 stattfand. Ein Tagebucheintrag vom 11. Februar 1950 in Pacific Palisades jedoch legt einen späteren Erwerb nahe: «Merkwürdiger Eindruck von Photographieen der Räume in der Poschingerstraße, 1931 hergestellt, von Moni aus der Schweiz geschickt. Arbeitszimmer, Eßzimmer, Diele und Salon. Noch der Schreibtisch aus den ‹Verein[igten] Werkstätten› mit Details, die jetzt hier.»

Auch wenn das Kaufdatum für den neuen Schreibtisch unbekannt ist, so wissen wir doch, dass der Auftrag von Münchens erster Adresse, der Antiquitätenhandlung Bernheimer, ausgeführt wurde. Leider sind die Unterlagen, die genauere Auskunft geben könnten, dem Terror der NS-Zeit und den Bombardements des Krieges zum Opfer gefallen. Und merkwürdigerweise scheint Thomas Mann selbst den Erwerb des Möbels nirgendwo erwähnt zu haben. Was jedoch sein weiteres Schicksal angeht, stehen wir dank des ab dem 15. März 1933 gewissenhaft geführten Tagebuches auf recht sicherem Boden.

Vor der Folie dieser Aufzeichnungen begannen mich nun auch die Bergengruen’schen Schreibtisch-Erinnerungen in einem ganz neuen Zusammenhang zu interessieren. Ich las und war fasziniert von der Idee, anhand eines Möbels Familien- und Zeitgeschichte zu beschreiben. Könnte die Chronik des nicht emigrierten Schriftstellers einen Kontrapunkt bilden zu einer Erzählung vom Schicksal des Thomas Mann’schen Schreibtisches zwischen 1933 und 1955?

Nein, das war mit Sicherheit unmöglich. Jede Form eines Vergleichs wäre falsch. Es gibt nichts zu vergleichen. Dazu sind bereits die Ansätze zu verschieden. Bergengruen erzählt vom Schicksal eines für ihn zentralen Arbeitsmöbels. Er schreibt eine Art Familienepos, gespiegelt in der Geschichte des für eine bestimmte Kultur- und Lebensform typischen Gebrauchsgegenstandes Schreibtisch. Dass es ihm dabei gelingt, auch die politische Situation der erzählten Zeit samt ihren Auswirkungen auf das Leben in diesen Formen zur Sprache zu bringen, macht die Geschichte zu einem Zeitdokument. – Bei Thomas Mann dagegen ist der Schreibtisch Ort einsamer Hervorbringungen. Er ist Symbol für schwer errungenes Überleben, für Erfolg und öffentliche Anerkennung und zugleich Zeuge von Niederlagen und Demütigungen. Thomas Manns Schreibtisch hat keine eigene Geschichte; er spiegelt die Befindlichkeiten seines Besitzers: Zeitgeschichte in subjektiver Brechung.

Bergengruens Geschichte ist in ihren Grundzügen schnell erzählt. Der Autor erbt 1934 den Schreibtisch seines Onkels Max von Pettenkofer – jenes bereits erwähnten Mediziners und bayerischen Hofapothekers, dessen Wirkung und Bedeutung der Chronist seinen Lesern anschaulich vermittelt. Das Möbel ist so groß, dass es in dem Berliner Reihenhaus des Erben keinen Platz findet und auch nur mit einiger Mühe in das Arbeitszimmer der zwei Jahre später in München erworbenen Villa zu transportieren ist, wo es fortan seinen Platz findet. «Er war ein gut gearbeitetes Stück in den sparsamen, klaren Formen, die das aus dem Empire-Stil erwachsene Biedermeier liebte, ohne Aufbau, ohne Verzierungen, mit rötlichem Kirschbaumholz furniert. Die Platte trug eine Bespannung von rotem Kaliko.» Das kam mir bekannt vor. Nur waren Thomas Manns frühe Arbeitstische vorwiegend in Grün gehalten. Dafür aber gab es rot lackierte Stühle.

Doch auch wenn die Details variierten, scheint es, aufs Ganze gesehen, mehr Übereinstimmendes als Trennendes zwischen den Möbelstücken gegeben zu haben: den Freiraum Schreibtisch. Denn wie Thomas Mann für seinen Arbeitsplatz reklamiert auch Bergengruen, die rote Platte des seinen habe genügend Raum nicht nur für «ein behagliches Ausbreiten der schriftlichen Arbeit» – dem «geduldig mit der Hand und mit dem Bleistift Blatt um Blatt» geschriebenen neuen Werk – gehabt, sondern daneben «auch Platz für allerlei Allotria», das nun einmal zu einem richtigen Schreibtisch gehöre. Er nennt «Dosen und Schachteln», an denen er Freude habe; «ein paar Mineralien, darunter eine schönfarbige Achatkugel von Pfirsichgröße, die still und kühl in der Hand liegt und auch der Gesichtshaut wohl und lieblich tut», eine «überlebensgroße, kraftvolle, aus Rom stammende Männerhand von Marmor, vermutlich barocker Herkunft», und «mancherlei andere» ihm ans Herz gewachsene «Kuriositäten, Raritäten und Fifferullchens». Und dann, natürlich, die große Zahl von Briefbeschwerern, meistens «Marmorfragmente von Palästen und Thermen aus römischer Kaiserzeit»: «Ein klein wenig Rom und ein klein wenig Altertum» immer zur Hand zu haben, täte ihm wohl. Doch fehle auch «die neuere Hemisphäre» nicht, für die «ein Stückchen versteinerten Holzes» aus einem der nordamerikanischen Waldgebiete stehe, das ihn an «bunten, polierten Marmor» erinnere: «blank und glatt geschliffen».

Die Bergengruen’sche Beschreibung seiner Arbeitsplatte erinnerte mich an das Zürcher Möbel. Sowohl für den baltischen als auch für den Lübecker Schriftsteller war der Schreibtisch neben seiner eigentlichen Bestimmung offensichtlich auch immer bevorzugter Aufbewahrungsort für besonders ans Herz gewachsene Dinge, die sonst keinen Raum fanden: Andenken und Zufallsfunde, die durch ihre stets gleiche Anordnung dem Schreibenden ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit vermittelten.

Doch es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten, die mir beim Lesen der Bergengruen’schen Erzählung einfielen. Auch am Berliner Schreibtisch wird Tagebuch geführt: «Erinnerungen und Erfahrungen, Betrachtungen, Beobachtungen und Gedanken de omnibus rebus et de quibusdam aliis.» Sieht man von den lateinisch zitierten Quisquilien ab, ist der Unterschied gering, zumal Bergengruen im Nachsatz ausdrücklich betont, dass auch seine Aufzeichnungen «kein anderes Ende finden» sollten als «das Ende seines Lebens».

Dann aber wird das Haus in Berlin Opfer eines Bombenangriffs. Der nur wenig beschädigte Schreibtisch kommt in eine «Möbelaufbewahrungsstelle», wo ihn «Schatzsuchende» aufbrechen, ausrauben und zerfleddern. In der Geschichte wird das Geschehen eindrucksvoll und unsentimental beschrieben: Der Schreibtisch «hatte die Bombengaudi überstanden. Ein Bein war lädiert, jeder Schreiner hätte es in Ordnung bringen können, doch waren alle Schreiner gegen Rußland marschiert. Aber nun hatte das Schicksal es mit dem Pettenkoferschreibtisch anders im Sinn. Je mehr der Bombenkrieg fortschritt, umso mehr füllte und verengte sich der [Aufbewahrungs-]Raum. Immer mehr musste zusammengerückt und übereinander getürmt werden und immer schwerer wurde es, bis zum eigenen Besitz vorzudringen. […] Eine Gesteinsschicht schob sich über die andere, neue Gebirge türmten sich, und unter ihnen lag begraben, was früheren Erdperioden angehörte. Es gab Verwerfungen, Unterhöhlungen, Einstürze. Erosionsvorgänge schufen unterirdische Kanäle, durch die davongeschwemmt wurde, was sich nicht zu behaupten wusste.»

Was hätte Thomas Mann gesagt, wenn er vom Untergang des Pettenkofer-Schreibtisches erfahren hätte oder gar sein eigener ihm abhandengekommen wäre? Hat er überhaupt jemals über die Schreibtische nachgedacht, die fast alle Schriftsteller-Kollegen, die gleich ihm das Land hatten verlassen müssen, verloren geben mussten? All die vielen jungen, noch unbekannten zum Beispiel, deren Geschichten ich während einer Recherche im zweibändigen Nachdruck der Emigranten-Zeitschrift «Die Sammlung» gelesen hatte? Mit dem Anspruch, «die wahre, die gültige Literatur» zu repräsentieren, für die es in Deutschland keinen Platz mehr gab, hatte der Herausgeber Klaus Mann neben den arrivierten Autoren auch eine Vielzahl weitgehend unbekannter Schriftsteller zu Wort kommen lassen. Allein das Inhaltsverzeichnis des ersten Jahrgangs weist rund 100 Namen aus. Sie alle wurden durch Hitlers Machtergreifung gezwungen, sich in der Emigration – in einem vorwiegend fremden Sprachraum also – eine neue Existenz aufzubauen. Wo, in welcher Situation, in welcher Umgebung und mit welchen Hilfsmitteln mochten sie jene Artikel, Geschichten oder Gedichte verfasst haben, die ich jetzt las? Einen festen Ort zum Schreiben jedenfalls hatte fast keiner von ihnen … auch die wenigen Erfolgsschriftsteller nicht, deren Namen und Bücher man jenseits der deutschen Grenzen kannte. Sie alle lebten viele Monate – manche auch jahrelang – aus Koffern, und zum Schreiben blieb in aller Regel nur ein speziell erbetener Hoteltisch oder das Caféhaus, in dem es den Glücklicheren gelang, sich einen Stammplatz zu erobern.

Auch Thomas Mann machte hier zunächst keine Ausnahme. Sein Schreibtisch war in München zurückgeblieben, als er im Februar 1933 zu einer Vortragsreise nach Brüssel und Paris aufbrach und anschließend – wie seit langem geplant – mit seiner Frau zur Erholung nach Arosa weiterreiste. Erst hier erreichte ihn die Nachricht, dass eine Rückkehr in die «Poschi» – jenes Haus in der Poschingerstraße also, das er sich zwanzig Jahre zuvor gebaut hatte, um den Rest des Lebens dort zu verbringen – unmöglich geworden war.

Das Thema des Umgangs mit den durch die Emigration verlorenen Arbeitsmöglichkeiten begann, mich zu interessieren. Also entschied ich mich, trotz aller gegenteiligen Vorsätze, noch einmal zu Thomas Mann zurückzukehren und mich etwas eingehender mit jenem Schreibtisch zu befassen, dessen Geschichte für mich auf eine ganz besondere Art auch das Schicksal des über Nacht heimatlos gewordenen Schriftstellers spiegelt.

Sanary. Das grüne Provisorium

Die unmittelbare Folge des Verlustes war ein Zusammenbruch, von dem Thomas Mann sich nur dadurch erholte, dass er beschloss, eine alte Gewohnheit wieder aufzunehmen und Tagebuch zu führen. Das hieß: die Krise zu benennen, Rechenschaft abzulegen und der Macht des Wortes zu vertrauen. Er sollte recht behalten. Die minutiös geführte Chronik aller äußeren Ereignisse – von der Politik bis zum Wetter – wird ergänzt durch nicht minder sorgfältig protokollierte, schnell wechselnde subjektive Befindlichkeiten und Reaktionen, die gelegentlich in weiterführende Erkenntnisse münden und neue Bewältigungsstrategien ermöglichen: «Mein literarisches Aktivitätsbedürfnis war in letzter Zeit durch Briefe […] befriedigt, außerdem durch diese Aufzeichnungen.» Das nachfolgende Fazit lässt ein jedenfalls zeitweilig wiedergewonnenes realistisches Urteilsvermögen erkennen: «Das ist eine Aushülfe, aber nicht gut.»

Nein, «gut» konnte es nicht sein, solange es keinen sicheren Ort gab, an dem Thomas Mann seine Gedanken sammeln und seiner Phantasie ihren vorgezeichneten Lauf lassen konnte. An fremden Orten war es ihm noch nie gelungen, Dauerhaftes zu Papier zu bringen. Er brauchte seinen festen Platz und die gewohnte Ordnung, um schreiben zu können: den eigenen Schreibtisch – samt den vertrauten Utensilien, die ihm das Gefühl von Sicherheit und Kontinuität vermittelten. Alles andere konnte zwar der augenblicklichen Befindlichkeit zuträglich sein, das Eigentliche aber, das große literarische Vorhaben, setzte die Geborgenheit im Bekannten, Beherrschbaren voraus. Undenkbar, dass Thomas Mann an Café-Tischchen oder Sekretären seiner teuren Hotels seine Romane hätte entscheidend fördern können. Ein Brief mochte gelingen, vielleicht auch eine dringende Pflichtübung oder gar eine Rede, aber nichts, was einen langen Atem verlangte, und schon gar keine mythisch-poetische Menschheitsphantasie: der «Joseph».

So ergriffen nach einigen Wochen, die man in zwar immer komfortablen, aber durch ihre Vorläufigkeit jede produktive Arbeit verbietenden Provisorien verbracht hatte, die Damen des Hauses Mann die Initiative. Eine Rückkehr nach München war auf vermutlich lange Zeit unmöglich geworden. Das hatten – neben vielen freundschaftlichen Warnungen – vor allem die Briefberichte von Tochter Erika und Schwiegermutter Hedwig Pringsheim über die unter polizeilicher Beobachtung stehende «Poschi» deutlich gemacht. Aber was dann? Mehr und mehr rückte die Schweiz in den Vordergrund der Ansiedlungspläne. Der Genfer See, oder, jenseits der Alpen, das Tessin lockten durch die klimatischen Vorzüge. Auch die Nähe zu dem in Montagnola residierenden Hermann Hesse hatte etwas Verführerisches. Doch wurde schnell klar, dass es der Stimmung zuträglicher wäre, im deutschen Sprachraum zu bleiben. Basel oder Zürich wurden ernsthaft erwogen.

Zunächst aber blieb nur das Provisorium, Lugano oder Lenzerheide, wo bereits viele renommierte Schriftsteller, Freunde und Bekannte, unter ihnen Bruno Frank, Bert Brecht, Ludwig Fulda und Emil Ludwig, jedenfalls vorübergehend Zuflucht gefunden hatten und der Weg zu den Hesses nicht weit war. Doch trotz der räumlichen Nähe kam bei Thomas Mann ein Gefühl wirklicher Solidarität mit den Schicksalsgenossen nur bedingt auf. Überlegungen über die Gesellschaft, in die er durch sein «Außenbleiben» geraten ist, verstärken das Gefühl, ein Schicksal teilen zu müssen, das der sich selbst zuerkannten Sonderstellung innerhalb der deutschen Literatur nicht gerecht wird: «Was ist es mit dieser ‹deutschen› [Revolution], die das Land isoliert, ihm Hohn und verständnislosen Abscheu einträgt ringsum? Die nicht nur die Kerr und Tucholski [sic!], sondern auch Menschen und Geister wie mich zwingt, außer Landes zu gehen?» Zudem schmerzt die Rolle, die Gerhart Hauptmann sich von den neuen Machthabern unwidersprochen hat zuweisen lassen: «Ich hasse diese Attrappe, die ich verherrlichen half, und die großartig ein Märtyrertum von sich weist, zu dem auch ich mich nicht geboren weiß, zu dem aber meine geistige Würde mich unweigerlich beruft.»

Nein, Thomas Mann ist nicht bereit, seine «geistige Würde» preiszugeben, nicht gegenüber den neuen Machthabern zuhause, aber auch nicht gegenüber den Schicksalsgenossen. Dazu aber ist es für ihn unabdingbar, den Wohn- und Lebensstandard zu wahren.

In den ersten Maitagen reiste das Ehepaar nach Basel, um sich dort nach einer geeigneten Dauer-Unterkunft umzusehen. Der Abstand der angebotenen Objekte zu den Häusern der dort ansässigen Freunde und Bekannten war zu eklatant, als dass sich etwas hätte ergeben können: «Ich fühlte mich schlecht, und der Eindruck der Besichtigung, die eine abscheuliche und niederdrückende Vorstellung von deklassierter Existenz gab, verschlimmerte den Zustand meiner Nerven, die zu Hause bis zu Tränen versagten.» – Nein, Basel schied aus.

Ein Brief von Julius Meier-Graefe lenkte die Gedanken in eine andere Richtung: Der Literat und Kunsthistoriker schrieb von einem eventuell in Frage kommenden Haus in St. Cyr / Südfrankreich, unweit des kleinen Fischerdorfes Sanary, das sich innerhalb der wenigen Monate, die seit Hitlers Machtantritt vergangen waren, zu einem Treffpunkt der vertriebenen deutschen Literaten aller Couleur entwickelt hatte.

Klaus und Erika hatten den Ort besucht und den Eltern geraten, sich dort, zumindest für den Sommer, niederzulassen. Das Klima, die vergleichsweise geringen Unterhaltskosten, die Aussicht, Gesprächspartner zu finden – all das war verlockend. Zudem war Nizza nah, wo Bruder Heinrich heimisch geworden war. Warum sollte nicht auch Thomas das Experiment mit dem Süden wagen?

Über Marseille und Toulon ging es zunächst nach la Roche Fleurie bei Le Lavandou. Man nahm Quartier in einem bequemen Hotel unmittelbar am Meer, und in den folgenden Tagen machten sich Katia und Erika auf, um Häuser in Bandol und Sanary zu besichtigen.

Das Angebot war vielfältig, etwas wirklich Passendes allerdings kaum zu finden. Die vorherrschende Einfachheit, oft sogar Primitivität der Innenausstattung erschreckte, das Abgeschnittensein von Theater, Konzert und den anderen Anregungen durch städtisches Ambiente verstärkten die Zweifel. Doch am Ende setzte sich die Einsicht durch, dass «das Notwendige», Voraussetzung für alles Weitere, wirklich die «Entscheidung in der Hausfrage» und die wenn auch provisorische «Installierung» wäre, die für Thomas Mann allein das «Gleichmaß des Lebens» verbürgte.

Er erwägt sogar, einen Brief an den nationalsozialistischen «Statthalter» in München, General Epp, zu schreiben, um «ein Arrangement wegen Vermögen und Mobiliar» zu erreichen … eine Idee, die Katia offensichtlich billigt und die noch am gleichen Tag in die Tat umgesetzt wird. Es scheint, als habe dieses Schreiben nicht unwesentlich zur Klärung auch der eigenen Position und Haltung beigetragen. Das Tagebuch macht deutlich, dass sich der Schreiber über die negativen Folgen, die sein Vorschlag unter Umständen haben konnte, sehr wohl im Klaren war: «Feindseliges Schweigen», «Abweisung meiner Auffassung» oder gar «Beschlagnahme aller meiner Habe». Dennoch – oder vielleicht sogar deshalb – ist in den folgenden Tagen die Stimmung gebessert. Das Tagebuch verrät die Hoffnung, in absehbarer Zeit trotz allem «zu einigem Behagen und Sicherheitsgefühl» zu gelangen.

In den Gesprächen bei Tisch werden – etwas überraschend – auch Pläne für den Erwerb eines Hauses bei Zürich erwogen, «denn diese Stadt steht zur Zeit im Vordergrund unserer Gedanken». Und noch am selben Abend fällt eine wichtige Entscheidung: «Beschluß, meine Lieblingsmöbel: Schreibtisch und Fauteuil mit Taburet durch Bernheimer, das Grammophon durch [das Musikhaus] Koch abholen und später schicken zu lassen.» Wohin die Sendung gehen soll, bleibt einstweilen noch offen. Auch die Frage, wie so etwas denn konkret zu bewerkstelligen wäre, wurde offenbar nicht diskutiert. Bereits am nächsten Tag aber scheint der Entschluss in die Tat umgesetzt worden zu sein. «Wegen der Möbel und des Grammophons ist noch heute Weisung zu geben.»

Und dann wird wieder einmal aufgebrochen: «Wir reisen mit dem Omnibus ½ 11 Uhr nach Toulon, wo wir Anschluß nach Bandol haben.» – Bandol, der kleine Ort war Sanary benachbart und besaß ein Grand Hotel, in dem man Quartier bezog. Und wenn sich auch der Speisesaal bereits am ersten Abend als ein zu großer und geschmackloser Raum erwies, so hatten die Zimmer doch Loggien und versprachen bessere Arbeitsmöglichkeiten. Dennoch fiel Thomas Manns Fazit am ersten Abend negativ aus: «Ich finde in diesem Kulturgebiet alles schäbig, wackelig, unkomfortabel und unter meinem Lebensniveau.»

Aber er beginnt, sich einzurichten. Katia hatte als Erstes einen größeren Tisch in die Loggia bringen lassen und offenbar mit Erfolg versucht, die Arbeitsmöglichkeiten zu verbessern: «Ich schreibe in der Loggia, wo ich vorwiegend wohl auch arbeiten werde.» Das klingt, als sei man zumindest für den Augenblick entschlossen, zu bleiben. Auch der vier Tage später vorgenommene Wechsel in das – zunächst Katia zugewiesene – «bevorzugte Eckzimmer mit Bad» deutet auf den Willen zu jedenfalls vorläufiger Sesshaftigkeit: «Mein Arbeitsplatz vor der Loggia ist entschieden hübsch, und alles wäre recht gut, wenn im Hintergrund ein gesichertes Heim stände.»

Das allerdings ist im Augenblick noch nicht in Sicht. Dennoch: Trotz quälender Nachrichten über die Sperrung der Konten und sich hinziehender Schwierigkeiten mit der Passverlängerung gelingt es, am provisorischen Arbeitstisch «den Roman», das heißt den zweiten Band des später vierbändigen Zyklus «Joseph und seine Brüder», «Der junge Joseph», wieder in Angriff zu nehmen: «Gestern und heute Beschäftigung mit dem Roman. Etwas weiter geschrieben.»

Eine Begegnung mit dem erfolgreichen Kollegen Lion Feuchtwanger, dem es gelungen war, in Sanary eine Villa zu mieten, die Frau Marta im Handumdrehen in ein neues Zuhause verwandelt hatte, setzt neue Überlegungen in Gang: «Ich denke doch zuweilen, daß man […] in einem gemieteten Hause den Sommer hier verbringen könnte.» – Mit diesem Konzept ließen sich auch andere Bemühungen wie die vom Verleger Gottfried Bermann-Fischer und dem mit der Abwicklung der innerdeutschen Angelegenheiten beauftragten Münchener Rechtsanwalt Valentin Heins vereinen, die darauf hinausliefen, das «Außenbleiben» der Familie Mann «legal zu gestalten»: Einem komfortablen Sanary-Provisorium – so der verführerische Plan – sollte, zur Regelung aller Modalitäten, im Herbst eine kurze Rückkehr nach München und schließlich die legale Übersiedlung in die Schweiz folgen.

Ende Mai gelang es Katia tatsächlich, ein zu provisorischer Bleibe geeignetes Haus ausfindig zu machen: «Freie und reizvolle Lage, geschmackvoll persönliche Einrichtung, leichte Verbindung mit dem Ort, ein eingeborenes Mädchen in Aussicht […], ein billiger Preis.» Den Bemühungen um die Legalisierung eines Umzugs in die Schweiz allerdings war kein Erfolg beschieden. Noch vor der Übersiedlung in die «Villa Tranquille» überbrachte Tochter Monika die Nachricht, dass alles in Münchener Banken liegende Geld – immerhin 40.000 Mark – beschlagnahmt worden sei und vermutlich auch die Wertpapiere sowie Haus und Grundstück verloren gegeben werden müssten. Das war ein harter und offenbar unerwarteter Schlag. «Ich blieb natürlich ruhelos», notierte Thomas Mann noch am gleichen Abend – es war der 31. Mai – in sein Tagebuch, «aufs Neue erschüttert fast wie zu Anfang der Krise. Was wird aus den sechs Kindern werden?»