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Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson, USA; in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Andere:

Heul doch den Mond an

Martin und Lara

Tage im Leben eines Feiglings

Werner J. Egli

DER LETZTE KAMPF
DES TIGERS

Roman

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AutorenEdition Egli

ISBN 978-3-03864-200-8

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst Eibl (A)

Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)

Copyright © 2015 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson
7 6 5 4 3 2 1

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch
Zu diesem Buch gibt es Unterrichtsmaterial
als Download auf www.aravaipa.ch

Inhalt

Die Angst vor dem Tiger

Der Mann, der ein Tiger sein könnte

Wo mein Vater starb

Die erste Begegnung

Spuren im Schnee

Ein später Sturm

Fremde Monster in der Taiga

Mit Flügeln im Wind

Der Angriff

Wolfsfährten

In Gedanken bei Lena

Der Fallensteller

In der Stille der Einsamkeit

Der Tod des Tigers

Der Sibirische Tiger – Panthera tigris altaica

Die Angst vor dem Tiger

Es war Karpov, der meinen Vater fand.

Von dort, wo der Tiger meinen Vater getötet hatte, sind es ungefähr zehn Kilometer bis zu unserem Dorf. Fast die ganze Strecke hatte Karpov im Tiefschnee zu Fuß zurückgelegt, und so konnte er von den Sachen meines Vaters fast nichts mitnehmen.

Als Karpov bei uns ankam, war er völlig erschöpft. Und auch verzweifelt.

Karpov zählte zwar nicht zu den besonders guten Freunden meines Vaters, aber sie waren zusammen in die Schule gegangen. Danach hatten sie jahrelang gemeinsam in einem der Kohlebergwerke gearbeitet und mein Vater hatte Maria, eine Cousine von Karpov, geheiratet.

Den letzten Kilometer der Strecke hatte ihn ein Bauer auf seinem Pferdeschlitten mitgenommen, der von einem stämmigen Kaltblüter gezogen wurde.

Vom dunkelbraunen Winterfell des Pferdes hingen Eisklumpen. Der schwere Schlitten war mit einem Fuder Wildheu aus den Flussniederungen beladen, wo zähes Riedgras wuchs.

Der Bauer, der Woronin hieß, hatte den völlig durchgefrorenen und erschöpften Karpov auf der Straße zum Dorf eingeholt und ihn von seiner Flasche trinken lassen, damit sich dieser von innen her aufwärmen konnte.

Er fuhr ihn durchs ganze Dorf bis zu unserem Haus.

Ich war hinten im Schuppen und hackte Tannenholz zu Spänen, die wir zum Anfeuern des Ofens brauchten.

Natürlich sah ich das Fuhrwerk die Dorfstraße entlangkommen. Auf dem Bock saßen der Bauer und neben ihm Karpov. Beide trugen dicke Mäntel. Der Bauer hatte eine Fellmütze auf. Karpov auch.

Es war ein klarer, eisiger Tag. Die Sonne schien.

Ich wollte mich nach dem Holzhacken mit Lena treffen, um mit ihr eine Schwester ihrer Mutter zu besuchen, die krank war und mit ihrem alten Hund in einer verlotterten Bretterhütte am Dorfrand wohnte. Lena hatte für sie eine Hühnersuppe mit gekochtem Wurzelgemüse gemacht, damit sie schnell wieder auf die Beine kam.

Als der Pferdeschlitten so nahe herangekommen war, dass ich Karpov auf dem Bock sitzend erkennen konnte, hielt ich in meiner Arbeit inne. Mit der Axt in der Hand trat ich unter die Schuppentür.

Dass Karpov schon zurück war, und ohne sein Pferd und seinen eigenen Schlitten, hatte bestimmt etwas zu bedeuten.

Vor drei Tagen waren sie gemeinsam ausgezogen, um den Tiger zu schießen, mein Vater und Karpov, so wie sie es auch oft taten, wenn sie auf die Jagd gingen oder irgendwo im Wald Bäume fällten. Bisher waren sie auch immer gemeinsam zurückgekehrt, obwohl solche Tage in der Einsamkeit der Taiga nie ohne Meinungsverschiedenheiten und grobe Streitereien vergingen.

Jetzt kehrte Karpov zurück und ich dachte erst, es wäre ihnen vielleicht geglückt, den Tiger zu erlegen, aber dem Schlitten trotteten nur ein paar herrenlose Dorfhunde hinterher.

Wäre ein toter Tiger drin gelegen, dann wäre das ganze Dorf auf die Straße gekommen und Karpov hätte den Leuten zugerufen, dass er den Tiger erlegt hätte und deshalb zur Feier dieses denkwürdigen Tages in Solkins Kneipe einen ausgeben würde.

Aber Karpov saß vornübergebeugt auf dem Schlitten, das Jagdgewehr in der Armbeuge. Sein Gesicht war finster. Eis klebte in seinem Schnurrbart unter der dicken, geröteten Nase.

Vor unserm Haus hielt Woronin den Schlitten an. Dampf stieg vom Fell des Pferdes.

Karpov sah mich in der Schuppentür stehen. Er richtete sich etwas auf. Es schien mir, als wollte er mir etwas sagen, ohne jedoch die richtigen Worte zu finden.

Ich spürte plötzlich, dass es nur eine schlechte Nachricht sein konnte, die er von dort draußen zurückbrachte, und tief in mir begann die Furcht zu wühlen, dass meinem Vater etwas geschehen war.

»Es gibt Tage im Leben, die einen Jungen wie dich kaputt oder stark machen können, Yuri«, sagte Karpov plötzlich mit rauer Stimme. »Es sind keine guten Nachrichten, die ich dir bringe.«

Der Bauer bekräftigte Karpovs Worte, indem er heftig mit dem Kopf nickte.

»Schlechte Nachrichten, in der Tat«, brummte er mit gesenktem Kopf in seinen zerzausten Bart hinein.

Ich holte zuerst einmal tief Luft, lehnte die Axt mit ihrem Stiel gegen den Türrahmen und trat aus dem Schuppen.

»Was ist geschehen?«

»Wir sind der Fährte des Tigers gefolgt, soweit wir konnten. Mein Pferd gab alles, was in ihm steckte. Es ist mitten im Schritt einfach zusammengebrochen.« Karpov zog einen seiner Handschuhe aus und wischte rieb sich mit der Hand die Augen. »Mitten im Schritt, sage ich Dir. Es war ein gutes Pferd, Yuri, das weißt du, aber die Anstrengung war zu groß für ihn, und ich habe es deinem Vater gesagt aber er wollte keine Pause machen, wollte unbedingt weiter hinter dem Tiger her, mindestens bis zum Fluss. Du kennst die Gegend dort. Schwieriges Gelände. Ich habe es ihm gesagt. Warum hast du nicht dein eigenes Pferd und deinen verdammten Schlitten genommen, habe ich ihn gefragt, da könntest du von mir aus hinter diesem Tiger her bis ans Ende der Welt, aber er hat nur gelacht, und wir haben die Flasche leer getrunken und dann sind wir weiter hinter dem Tiger her.«

»Was ist mit meinem Vater?«, wollte ich wissen, obwohl mir inzwischen klar geworden war, dass es nichts Gutes sein konnte, was er mir noch zu erzählen hatte.

»Du weißt ja wie er ist. Einen Schädel aus Stein hat er. Als mein Pferd zusammenbrach, ist er allein weitergegangen. Ich soll zurück ins Dorf und ein anderes Pferd holen, hat er gesagt. Ich war zu betrunken, Yuri, das gebe ich zu, aber selbst wenn ich mich sofort auf den Weg gemacht hätte, hätte es deinem Vater nichts mehr genützt.«

»Wo ist mein Vater?! Warum sagst du es mir nicht?«

Karpov zog den Handschuh wieder an. Woronin blickte zur Haustür hinüber, als erwartete er dort jemand aus dem Haus treten.

»Yuri, dieser verfluchte Tiger hat deinen Vater getötet«, sagte Karpov schließlich und seine Worte trafen mich wie Schläge.

Ich starrte die beiden an.

Karpov hatte laut genug gesprochen, sodass man seine Worte auch im Haus hören konnte.

Die Haustür ging auf. Sie machte ein ächzendes Geräusch, weil sie beinahe aus den Angeln fiel.

Das ganze Haus ächzte manchmal. Die Kälte ließ es ächzen. Der Wind. Die Last des Schnees auf seinem Dach.

Eigentlich war unser Haus nur noch ein Schatten seiner selbst. Vater hatte es gebaut. Als er noch ein junger Mann gewesen war und meine Mutter schwanger mit Tatjana, meiner älteren Schwester. Es war einige Jahre lang sein ganzer Stolz gewesen.

Jetzt löste sich die ockergelbe Farbe von den alten Wandbrettern und die Blechstücke, mit denen die Wände ausgebessert worden waren, rosteten. Das schöne Schindeldach war teilweise mit Teerpappe abgedeckt. Unter der schweren Schneedecke drohte es einzustürzen.

Meine Mutter trat unter die Tür, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, während sie sich umblickte, als wüsste sie nicht genau, wo sie sich befand. Ich vergesse das nie mehr, ihre Augen, die jemanden suchten, der nicht da war.

Karpov räusperte sich. »Es tut mir sehr leid, Maria«, sagte er. »Dein Mann kommt nicht mehr zurück.«

Meine Mutter war früher eine starke Frau gewesen, aber sie hatte in ihrem Leben viel aushalten müssen. Die Armut war es jedoch, die ihr am meisten zu schaffen machte. Mehr noch als die Trunksucht meines Vaters, der häufig genug alle seine Probleme im Schnapsdelirium zu vergessen versucht hatte.

Das war jetzt vorbei.

»Ich hörte den Schuss. Da bin ich seiner Spur nachgegangen. Ja, ich habe ihn gefunden. Was der Tiger von ihm übrig gelassen hat, lag auf der anderen Seite des Flusses«, sagte Karpov. »Viel von ihm ist nicht übrig geblieben. Was der Tiger nicht gefressen hat, haben die Wildschweine verschleppt, Maria. So ist es und es ist schlimm genug. Ich wünschte ich könnte dir etwas anderes sagen.«

Karpov war nicht dafür bekannt, schonend mit seinen Mitmenschen umzugehen. Aber ehrlich war er, bis unter die Haut. Er langte über die Bocklehne nach hinten und holte ein Jagdgewehr aus dem Wagenkasten.

Ich erkannte die Waffe sofort. Es war das Gewehr meines Vaters. Er hatte es sich gekauft, als er noch arbeitete und es uns besser ging. Ein gutes Jagdgewehr war es, das viel Geld gekostet hatte.

Karpov brachte auch den Rucksack meines Vaters zum Vorschein. Er hob ihn hoch. »Die Flecken hier, das ist das Blut deines Mannes, Maria!«, sagte er.

Ich drehte mich um, nahm die Axt zur Hand, holte beidhändig mit der Axt aus, und trieb das Blatt, das ich zuvor mit der Metallfeile geschärft hatte, mit Wucht tief in den Spaltklotz neben der Hüttentür unter dem Schrägdach des Schuppens. Dann ging ich den tief ausgetretenen Fußpfad durch den Schnee zur Straße vor.

»Gib mir sein Zeug!«, forderte ich Karpov auf.

Er gab mir zuerst das Gewehr.

»Er hat nur die eine Kugel abgefeuert«, erklärte Karpov, als ich das Gewehr kurz betrachtete. »Es war der Schuss, den ich gehört habe. Die andere Kugel steckt noch in der Kammer.«

Jetzt reichte er mir den Rucksack.

Die Blutflecken darauf waren dunkel. Gefrorenes Blut meines Vaters.

Ich wollte mich umdrehen und zum Schuppen zurückgehen, aber Karpovs Stimme ließ mich im Schritt verharren.

»Da ist noch was, Yuri!«

Er langte noch einmal nach hinten in den Wagenkasten und angelte einen Stiefel heraus, den er mir mit einer Hand hinstreckte.

»Ich wollte ihn zuerst dort draußen liegen lassen, Yuri, aber es war nur so wenig von ihm übrig geblieben, da dachte ich, ich nehm ihn mit.« Er warf mit den Stiefel zu und ich erkannte allein an der Art, wie er durch die Luft flog, dass er nicht leer war. Er fiel vor meinen vor meinen Schuhen zu Boden. Ich bückte mich und hob ihn auf, traute mich aber nicht, hineinzusehen.

»Tut mir leid, Yuri, aber mehr war da nicht.«

»Schon gut«, antwortete ich ihm. »Du hast getan, was du konntest. Wir stehen in deiner Schuld.«

»Ach was, Junge. Sollte da noch irgendwo eine Flasche Wodka rumstehen, die ihr nicht mehr braucht, genügt mir das. Weißt du, eigentlich wollte ich hinter dem Tiger her. Aber ich muss dir gestehen, ich bekam es mit der Angst zu tun. Dieser Tiger ist ein besonderes Tier, Yuri.«

»Inwiefern?«

»Er ist verletzt. Ich habe es an seinen Spuren gesehen. Am Bein. Und vielleicht auch woanders. Er humpelt stark. Und trotzdem hat er deinem Vater aufgelauert und ihn in dem Moment angegriffen, als sich dein Vater in Sicherheit wähnte.«

Ich blickte in das dunkle Gesicht Karpovs. »Ich werde diesen Tiger töten«, sagte ich, das Gewehr meines Vaters fest in meinen Händen.

Es klang wie ein Schwur. Im Nachhinein denke ich, dass es wohl einer war.

»Yuri, das würde ich an deiner Stelle nicht versuchen«, warnte mich Karpov. »Schau mich an. Du weißt, dass ich keiner bin, der sich schnell in die Hose macht. Aber ich bin vor diesem Tiger davongelaufen wie ein Hase. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, seiner Spur zu folgen.«

Ich schwieg. Sah ihn nur an. Er war in unserem Dorf nicht als ein besonders mutiger Mann bekannt. Aber auch nicht als ein ängstlicher. Ein ziemlich guter Jäger war er. Das hatte ich auch meinen Vater sagen hören.

»Ich weiß, dass mich dieser Tiger getötet hätte, Yuri. Dein Vater ist ihm zu nahe gekommen. Dann hat er auf ihn geschossen und ihn vermutlich sogar getroffen, aber der Tiger war nicht tot. Er hat deinem Vater aufgelauert und als dein Vater …«

»Mein Vater war ein schlechter Jäger«, unterbrach ich ihn. »das wissen wir alle.«

»Und du? Bist du ein guter Jäger?«

»Nein, das behaupte ich nicht.«

»Dann wäre es töricht von dir, den Tiger zu jagen, Yuri.«

»Wäre ich mit ihm gegangen, wäre das nicht passiert. Ich wollte mit ihm gehen, aber er sagte, ich soll bei Mutter bleiben und bei Tatjana und Boris und Natasha, also bin ich geblieben.«

»Er hätte sein Pferd und einen Schlitten nehmen sollen, Yuri. Das hätte er tun sollen.«

»Unser Pferd ist krank, sonst hätte er es bestimmt genommen.«

»Und ich habe jetzt keins mehr«, sagte Karpov. »Mein Schlitten ist dort draußen. Es geht mir dreckig, Yuri. Seit fünf Jahren habe ich keine Arbeit mehr. Vielleicht sollten wir beide gemeinsam versuchen, dieses verfluchte Raubtier zu erlegen.«

»Ich werde Wladimir fragen, ob er mich begleitet«, wehrte ich ab. Ich mochte Karpov nicht so sehr, dass ich mit ihm allein dort draußen in der Wildnis sein wollte. »Ein verletzter Tiger ist eine Gefahr für uns alle.«

»Den alten Wladimir willst du fragen«, lachte Karpov. »Junge, ich glaube nicht, dass Wladimir Lust hat, an der Seite eines Grünschnabels eine gefährliche Raubkatze zu jagen.«

»Das werden wir sehen«, gab ich ihm trotzig zurück. Dann drehte ich mich um und ging auf die Haustür zu.

Meine Mutter stand noch immer dort. Sie hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest. Ich sah sie an, und ihr Anblick traf mich bis tief in mein Herz. So wie jetzt hatte ich meine Mutter noch nie gesehen. Als wäre sie in Gedanken weit weg. Irgendwo, wo sie uns nicht mehr sehen konnte. Wo es keine Lebenden mehr gab. Keine Erinnerungen an diese Welt.

»Mutter«, sagte ich zu ihr. »Ich verspreche dir, diese Bestie zu töten.«

Sie blickte durch mich hindurch und ich begriff, dass wir, meine Geschwister und ich, in diesem Winter nicht nur unseren Vater verloren hatten, sondern dass auch die Gefahr bestand, unsere Mutter zu verlieren.

Das machte mich traurig. Und wütend zugleich.

Hörte denn das Unglück, das uns alle seit Jahren immer wieder heimsuchte, gar nicht mehr auf?

Karpov rief, dass er und seine Familie uns beistehen würden, falls wir Hilfe bräuchten.

Meine Mutter hörte ihn nicht.

Ich holte eine Flasche Wodka aus dem Haus. Die gab ich Karpov. Er bedankte sich. Der Bauer schnalzte mit der Zunge und der alte Gaul stemmte sich ins Geschirr. Die beiden Männer fuhren hinüber zu Solkins Kneipe.

Ich ging ins Haus. Meine Mutter kam auch herein.

Im Haus war es ein bisschen wärmer als draußen. Im Ofen brannte ein Feuer. Wir verfeuerten hauptsächlich minderwertige Steinkohle, die wir auf den alten Halden des Bergwerks klauten, wo mein Vater gemeinsam mit den meisten anderen Männern unseres Dorfes früher gearbeitet hatte.

Wir verfeuerten auch Holz. Von dem gab es noch genug in den Wäldern hinter unserem Dorf.

Mein kleiner Bruder Boris saß am Tisch und zeichnete mit einem Bleistift Figuren auf einen Karton, auf dem er schon seit Tagen herum kritzelte.

Meine ältere Schwester Tatjana war dabei, aus der Milch unserer Ziege Käse zu machen.

Natasha, die Jüngste von uns, spielte mit einer Plastikpuppe, die Vater einmal aus der Stadt mitgebracht hatte und die früher »Mama« gekrächzt hatte, bis man ihr einen Schnuller in den Mund steckte. Jetzt war die Puppe alt und gab keinen Laut mehr von sich. Mit oder ohne Schnuller.

Tatjana und meine Mutter umarmten sich. Sie schluchzten beide.

Mein Bruder sah mich an.

»Vater kommt nicht mehr zurück«, erklärte ich ihm.

Er presste die Lippen zusammen und nickte stumm.

»Ich habe es schon Mutter gesagt, dass ich den Tiger töten werde, Boris.«

Jetzt lächelte er.

Ich war froh, dass er lächelte. Es zeigte mir, er hatte verstanden, was meine Pflicht war.

Ein Tiger, der einen von uns tötete, hatte sein Leben verwirkt. Niemand durfte ungestraft unsere Blutsbande zerreißen. Wir gehörten zusammen. Wir waren eine Familie.

Ich ging in das Zimmer, das ich mit meinem Bruder teilte, und legte Vaters Sachen auf mein Bett. Dann ging ich mit Vaters Stiefel aus dem Haus und vergrub ihn im gefrorenen Boden hinter dem Schuppen. Ein Gebet fiel mir nicht ein. Nicht für ein Stück Fuß in einem alten Fellstiefel.

Als ich zurück ins Haus kam, stand Mutter allein in der Küche. Ich blieb kurz stehen. Sie sah mich an. Ihre Augen waren gerötet, aber ich konnte keine Träne sehen.

Ich wusste, dass sie um Vater trauerte, doch was noch schlimmer sein musste, war ihre Angst vor dem Weiterleben.

Hin und wieder brachten sich Leute in unserem Tal, ältere Leute, um, weil sie zu wenig zum Leben hatten und den Jungen nicht zur Last fallen wollten. Es waren schwierige Zeiten.

»Es sind schwierige Zeiten, Yuri«, sagte sie. »Schwierige Zeiten.«

»Mach keinen Mist, Mama! Morgen früh werde ich aufbrechen. Wenn es mir gelingt, diesen Tiger zu töten, wirst du dir dein ganzes Leben lang nie mehr Sorgen machen müssen. Und Tatjana, die blitzgescheit ist, kann in Wladiwostok in die Schule gehen und Lehrerin werden und dann zurückkehren in unser Dorf und den Kleinen etwas beibringen.«

Sie kam zu mir und umarmte mich.

»Das stimmt allerdings, Yuri. Seit bald zwanzig Jahren ist unsere Dorfschule leer, weil wir kein Geld haben für eine Lehrerin oder einen Lehrer.«

»Siehst du, das hat Karpov gemeint, als er gesagt hat, dass Dinge im Leben passieren, die einen kaputt oder stark machen können.« Ich löste mich von ihr und stellte mich aufrecht und mit geschwollener Brust vor sie hin. »Ich will stark sein, Mama. Morgen früh werde ich aufbrechen.«

»Ich will dich nicht auch verlieren, Yuri.«

»Der alte Wladimir wird auf mich aufpassen,« winkte ich ab. »Er hat diesen Jeep, mit dem er überallhin fahren kann. Wir werden den Tiger töten, ihn auf den Jeep laden und hierher bringen, damit ihn alle sehen können, bevor wir ihn auf dem Schwarzmarkt in Wladiwostok verkaufen. «

Ich wusste nicht, ob Mutter mir vertraute. Vaters Wunsch war es gewesen, einen Teil des Geldes, das er für den Tiger bekommen hätte, dazu zu benutzen, Tatjana eine höhere Schule zu ermöglichen, sodass sie eines Tages in unser Dorf zurückkehren konnte, um den Kindern von einer anderen Welt zu erzählen. Davon hatte er immer gesprochen, soweit ich zurückdenken konnte. Wie gescheit Tatjana war, und wie wenig er für sie tun konnte.

»Wir werden nicht mehr lange so arm sein wie jetzt, Mutter. Der Mann in Wladiwostok wird uns für den Tiger viel Geld geben.«

Der Anflug eines Lächelns glitt über ihr Gesicht. Wie alle anderen hier wusste sie auch, dass es verboten war, Tiger zu jagen. Eine Million Rubel betrug die Strafe, wenn man erwischt wurde. Wir hatten keine Million Rubel. Alles, was wir hatten, war noch ein Funken Hoffnung, den ich durch diesen Winter retten wollte wie ein Glutnest in der Feuerung unseres Ofens über eine lange Nacht.

»Yuri, dann geh zu Wladimir und frag ihn, ob er dich begleitet.«

»Das wird er bestimmt tun.«

Ich verließ das Haus und ging durchs Dorf.

Vor der Kneipe stand immer noch der Pferdeschlitten Woronins. Im Schnee lag ein bisschen Heu für das Pferd. Ich vernahm die Stimmen der Männer durch die Bretterwände. Alte Musik lief. In Solkins Kneipe stand ein Musikautomat, voll mit alter Musik aus einer Zeit, als es das Leben in Russland noch gut mit uns meinte.

Diese Zeiten waren längst vorbei und viele von uns rätselten immer noch, was tatsächlich geschehen war mit unserem Land und was noch aus ihm werden sollte.

Lena wohnte am anderen Ende des Dorfes. Die Hände in den Taschen meiner Hose, ging ich gegen den steifen Wind die Hauptstraße entlang, an der Tankstelle vorbei, wo Männer einen Laster reparierten, der unweit unseren Dorfes auf der Straße mit einem Getriebeschaden liegen geblieben war. Einer der Männer hob eine Flasche und trank einen Schluck, bevor er sie an einen anderen weitergab.

»Wir trinken auf deinen Vater, Yuri!« rief er.

Inzwischen hatten alle, die in unserem Dorf leben, vom Tod meines Vaters gehört.

Leute kamen aus ihren Häusern.

»Yuri!«, riefen sie mir zu. »Es tut uns sehr leid! Dein Papa war ein guter Mann.«

Frauen eilten die Straße hinauf zu unserem Haus, um meiner Mutter Trost zu spenden, aber ich wusste, dass es eine vergebliche Mühe sein würde.

Zu groß war das Leid.

Mutter hatte die Kraft nicht mehr, die sie gebraucht hätte, um den Schmerz zu ertragen und zu kämpfen. Vielleicht konnte ich sie ihr zurückgeben, wenn es mir gelang, den Tiger zu erlegen.

Der Mann, der ein Tiger sein könnte

Wenn ich sage, Lena war das schönste Mädchen in unserem Dorf, dann ist das wie wenn ich sagen würde, Lena ist das schönste Mädchen auf der ganzen Welt. Ich kenne nämlich kein schöneres und keines, das mir mehr bedeutet als sie, außer Tatjana vielleicht, die jedoch nur meine Schwester ist.

Lena meinte, dass es das Beste wäre, in die Kirche zu gehen und zu beten.

Ich wollte das nicht.

Nicht weil ich nicht glaubte, dass es einen Gott gab, der über uns wachte. Aber ich hatte längst aufgegeben diesem Gott zu vertrauen. Irgendetwas mussten wir doch falsch gemacht haben, sonst hätte er uns nicht verlassen.

Nicht nur unsere Familie hatte er verlassen, nein, er schien vergessen zu haben, dass es unser Dorf überhaupt gab.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es den Leuten in unserem Tal so mies, dass viele nicht mehr wussten, wie sie ihr Leben meistern sollten.

Besonders für die Alten, die niemandem zur Last fallen wollten, war dies unerträglich, weil sie ihr ganzes Leben lang geschuftet hatten, und ausgerechnet jetzt, nachdem sie sich durch ihre Arbeit einen schönen Lebensabend verdient hätten und sich mit Würde zur Ruhe setzen könnten, gab es für viele von ihnen nicht einmal mehr die Hoffnung auf bessere Tage.

Viele waren krank. Sie konnten sich keine Medikamente leisten. In ihren Mäulern faulten die Zähne. Sie hatten offene Geschwüre an den Beinen.

Aber das Schlimmste war der Hunger.

Und die Verzweiflung.

Auch eine von Lenas Großmüttern, die Mutter ihres Vaters, hatte sich eines Tages umgebracht. Einfach so. Mit einem Strick.

Lena fand sie im Schuppen hinter dem Haus von einem Dachbalken hängen. Unter ihren Füßen lag ein umgekippter Hocker am Boden. Lena hatte ihre Großmutter sehr geliebt. Fast mehr als ihre Mutter.

Seit ihre Großmutter tot war, lachte sie nicht mehr oft. Manchmal gelang es mir, sie zum Lachen zu bringen. Das war jedoch ziemlich schwierig. Und manchmal auch mühsam.

»Ich weiß was du vorhast, Yuri. Du willst diesen Tiger töten, aber dein Vater war diesem Raubtier schon nicht gewachsen. Jetzt willst du dein Leben auch aufs Spiel setzen?«

»Was soll ich sonst tun, Lena«, antwortete ich ihr.

»Das was ich gesagt habe. Wir gehen besser in die Kirche und beten für deinen Vater.«

»Lena, du gehst beten und ich geh auf die Jagd.«

»Gut, wenn du mich nicht begleiten willst, gehe ich allein.«

Da ging ich mit ihr.

Unsere Kirche ist ziemlich groß, denn früher gab es in unserem Dorf viel mehr Leute. Unser Dorf war fast eine Stadt. Seit das Kohlebergwerk jedoch dichtgemacht hatte, weil sich der Abbau durch die hohen Transportkosten nicht mehr lohnte, zerfiel das Dorf immer mehr. Es gab einfach keine Arbeit für die Männer.

Der Pfarrer war neu. Der alte Pfarrer war in die Stadt gezogen. Wahrscheinlich hatte er als Erster gespürt, dass Gott nicht mehr da war. Nicht hier, in unserem Dorf, obwohl die Menschen in ihrer Verzweiflung nie aufgehört hatten, ihn um Vergebung zu bitten und um ein bisschen Gerechtigkeit.

Lena teilte meine Befürchtungen nicht. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass alles seine Richtigkeit hatte. Manchmal stritten wir uns deswegen. Sie konnte nicht verstehen, warum ich kein Vertrauen mehr in Gott hatte.

»Ich sage nicht, dass es ihn nicht gibt«, sagte ich ihr einmal in einem Streit. »Aber wenn es ihn gibt, dann ist er blind wie ein Maulwurf.«

Gott mit einem Maulwurf zu vergleichen hielt Lena für eine große Sünde. Sie redete sieben Tage nicht mehr mit mir, aber schließlich verzieh sie mir und sagte mir dann, dass sie jeden Tag für mich gebetet hätte, sieben Tage hintereinander.

Ich ging also mit ihr an diesem Tag, an dem Karpov uns die Nachricht brachte, dass der Tiger meinen Vater getötet hatte, in die Kirche. Widerwillig.

Ein paar alte Frauen knieten in den Bankreihen. Es war so kalt in der Kirche, dass es aussah, als schwebe der Heilige Geist im Halbdunkel herum. Doch das war nur der Atemhauch der Frauen, die lautlos beteten.

Unsere Kirche war eine schöne Kirche. Nicht protzig, aber trotzdem voll mit Gold und mit Statuen von Heiligen und einem wundervollen Tabernakel.

Wir setzten uns hinten in eine Bank. Dann knieten wir uns hin und beteten.

Ich bat Gott um Verzeihung, dass ich ihn mit einem Maulwurf verglichen hatte. Aber gleichzeitig bat ich ihn auch, endlich wieder einmal die Augen aufzumachen, damit er sehen konnte, was in unserem Dorf abging.

Ich bat ihn die Seele meines Vaters aufzunehmen in seinem wundervollen Himmel, in dem mein Vater endlich glücklich sein konnte.

Und ich bat ihn auf unsere Familie aufzupassen, auf meine beiden Schwestern und auf meinen kleinen Bruder, und meiner Mutter die Kraft zu geben, weiterzuleben und alle Prüfungen zu bestehen, mochten sie noch so hart und ungerecht sein.

Nach einer Weile hatte ich keinen Bock mehr, zu beten. Ich war ehrlich gesagt verzweifelt. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken. Aber Lena merkte es wahrscheinlich trotzdem. Sie war von klein auf ziemlich sensibel.

Ich machte mir Sorgen um die Zukunft unserer Familie. Was würde jetzt aus uns werden, da Vater nicht mehr lebte?

Immerhin hatte er sich in letzter Zeit manchmal aufgerafft und hin und wieder als Tagelöhner gearbeitet. Und er hatte uns durch die Jagd mit Fleisch versorgt, auch wenn er oft genug mit leeren Händen zurückkehrte.

Er hatte zur Kartoffelernte auf den Feldern Arbeit gefunden, und als im Herbst die Temperaturen zu sinken anfingen und die Vorboten eines frühen Winters ins Land zogen, war er mit mir und meinem Bruder zusammen über den Stacheldrahtzaun geklettert um im Sperrgebiet Kohle zu klauen.