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Michael Albus
Wo Gott zu Hause ist

topos taschenbücher, Band 1028

Eine Produktion des Verlags Butzon & Bercker

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Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1028-2
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5038-7
E-Pub: ISBN 987-3-8367-6038-6

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim
Verlag Butzon &Bercker, Kevelaer.
Umschlagabbildung: © nena2112/photocase
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Vorwort

Mystik – Der Königsweg der Religionen

Konya – Mystischer Ort des Islam

New York – Mystischer Ort des Judentums

Taizé – Mystischer Ort des Christentums

Quellennachweis

Vorwort

Niemand kann von sich, wenn er ehrlich und aufrichtig zu sein versucht, sagen, er befinde sich auf dem rechten Weg. Der Weg selber ist eine einzige Suche. Sie dauert ein Leben lang. Und was danach kommt? Wir wissen es nicht! Wir können nur den Versuch eines Glaubens machen. Mit ungewissem Ausgang.

Die Begleiterin auf dem Weg durch unser Leben ist die Sehnsucht danach, heimzukehren. Wie sonst sollten wir auf einem Weg sein?

Ich habe versucht, dieser Sehnsucht Raum zu schaffen. Räume zu finden, in denen sie ein Zuhause haben könnte. Nicht ein ewiges Zuhause, sondern ein Zuhause für eine Zeit. Für unseres Lebens Zeit. Das hat mich an drei ausgezeichnete Orte geführt, deren Erfahrung mir eine Ahnung vermittelt hat von dem, was „eigentlich“ sein könnte, hat mich Umrisse sehen und spüren lassen, die im Nebel der alltäglichen und allnächtlichen Erfahrungen Hoffnung aufkommen ließen, dass es im Diesseits schon die Möglichkeit des Jenseitigen gibt, manchmal wie eine ferne Verheißung.

Ganz unterschiedlich sind diese Orte: Konya, New York, Taizé. Eine große Stadt in der Türkei, eine übergroße Stadt in Nordamerika und ein kleines Dorf in Frankreich. Orte, wie sie, von außen gesehen, unterschiedlicher nicht sein könnten – auch was deren kulturelle, religiöse, politische und geschichtliche Kontexte betrifft.

Die Reisen dahin und das Verweilen dort hatten einen äußeren Anlass: Ich hatte eine dreiteilige Reportagereihe für das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) zu realisieren. Ihr Titel: Wohnungen Gottes – Mystische Orte der drei großen Weltreligionen – Islam, Judentum und Christentum. Sie war die logische Konsequenz einer ihr vorausgehenden sechsteiligen Reihe mit dem Titel „Wohnungen der Götter – Heilige Berge der Weltreligionen“.

Die Arbeit an den Reportagen war alles andere als eine touristische Oberflächenberührung. Sie ließ mich eintauchen in eine faszinierende Welt, in das Innere, ja das Innerste der drei monotheistischen Religionen. Von diesen Tauchversuchen berichtet das vorliegende Buch.

Zu danken habe ich all denen, die an den Orten selber bereit dazu waren, sich dem fragenden Zugriff zu öffnen. Das war nicht immer leicht, und es gab dabei auch Widerstände zu überwinden. Das war auch ganz „normal“. Denn es ist schwierig, die Scheu zu überwinden, die sich einstellt, wenn jemand „von außen“ kommt, um forschende Blicke auf etwas zu richten – und dann auch noch davon zu berichten, was leicht verletzlich ist. Das war für mich auch immer ein Hinweis auf die Authentizität, die sich hinter diesem existenziellen Sachverhalt verborgen hat. Man gibt nicht leicht ein Geheimnis preis.

Gegenwärtig gleicht die religiöse Szene bei uns einem Kaufhaus. Die Angebote sind vielfältig, fast nicht mehr überschaubar. Die Wahl fällt schwer. Nicht zuletzt auch deswegen, weil viel Glitzerware dabei ist, die in die Augen springt, aber bei genauerem Hinsehen am Ende ein schales Gefühl zurücklässt.

Mir wurde bei dieser Arbeit auch bewusst, wie sehr die wirklichen und grundlegenden Traditionen der drei großen Weltreligionen in Vergessenheit geraten sind, wie sehr Aufgüsse, zweite, dritte und vierte, den Markt beherrschen. Das hat vielerlei Gründe. Einer von ihnen liegt auch im Vergessen der Institutionen selber. Manchmal weiß ich nicht, was in diesem Vergessen wirksamer ist: die Unkenntnis der eigenen Wurzelwelt oder die Angst davor, welche die Kenntnis und deren Konsequenzen hervorrufen könnte?

Die Wahl der Orte geschah nicht willkürlich oder aus einem vordergründigen Interesse.

In Konya verdichtet sich die mystische Bewegung des Islam, die mir als die wirksamste erschien und die bis heute weitergeht, ja eine neue Belebung erfährt – in vielen Ländern, auch in solchen, in denen eine andere religiöse Tradition über lange Zeiten lebendig war.

In New York kann man einerseits beobachten, wie sehr die Flüsse der Religionen auseinandergehen, sich verzweigen, und andererseits, wie sich eine alte mystische Tradition behauptet, ja vielleicht ihre eigene Identität in den Verfremdungen wiederfindet.

In Taizé, das der unvergessene Papst Johannes XXIII. einen „kleinen Frühling“ genannt hat, ist man erstaunt darüber, welche spirituellen Kraftreserven, welche Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit eine Tradition besitzt, die einst den europäischen Kontinent grundlegend geprägt hat bis auf den heutigen Tag – auch wenn in der Präambel der ersten europäischen Verfassung der Name Gottes nicht mehr genannt wird.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die mystischen Bewegungen des Islam, des Judentums und des Christentums Antworten bereithalten, die den Fragen der Welt, die wir die „moderne“ nennen, standzuhalten vermögen. Eine Voraussetzung dieser Überzeugung ist aber, dass man etwas weiß, konkret, nicht nur etwas ahnt. Dazu wollte ich ein wenig beitragen.

Mein Wunsch ist es, dass diejenigen, die sich auf den Weg dieses Buches einlassen, Lust bekommen oder zumindest Interesse verspüren an einem vertieften Nachgehen. Die Mystik hat nicht nur eine Vergangenheit, sie hat auch eine Gegenwart und eine Zukunft.

Michael Albus

Mystik – Der Königsweg der Religionen

Wohl dem Menschen, der nachsinnt über die Weisheit,
der sich bemüht um Einsicht,
der seinen Sinn richtet auf ihre Wege und auf ihre Pfade achtet,
der ihr nachgeht wie ein Späher und an ihren Eingängen lauert,
der durch ihre Fenster schaut und an ihren Türen horcht,
der sich bei ihrem Haus niederlässt und seine Zeltstricke an ihrer Mauer befestigt,
der neben ihr sein Zelt aufstellt
und so eine gute Wohnung hat,
der sein Nest in ihr Laub baut und in ihren Zweigen die Nacht verbringt. (Jesus Sirach 14,20–26)

In immer wieder neuen Anläufen wird das Wort beschworen: Mystik. Es wird inflationär in unseren Tagen, wird mit anderen Worten gleichgesetzt, wird kommerziell in Umlauf gebracht. Es gibt Anleitungen, die Wellness versprechen, eine Steigerung des Wohlbefindens, wenn man die Technik beherrscht. Mystik ist Mode geworden, und das nicht von ungefähr. Noch in seiner Verzerrtheit und Oberflächlichkeit fördert es einen Hunger des Menschen zutage, der gestillt werden will, koste es, was es wolle.

Mit abschätziger Kritik, es handle sich hier um religiöse Fast-Food-Mentalität, ist dem Phänomen nicht beizukommen. Mystik ist die innerste und äußerste Erscheinungsform von Religion zugleich. Sie ist Feuer, das wärmt und verbrennt. Mystik ist auch keine Erscheinung der modernen und nachmodernen Zeit. Seit es Menschen gibt und den Versuch, zu sich selbst zu finden, gibt es Mystik.

Sie entsteht, wird geboren in der Begegnung des Menschen mit der ihn umgebenden Welt. In ihr gibt es täglich und nächtlich so viele Erfahrungen, die einer Erklärung mit dem Verstande nicht zugänglich sind, dass der Mensch sich zwangsläufig mit dem Faktum auseinandersetzen will. Mystik ist somit zunächst der Versuch, sich zum Unerklärlichen, Unbegreiflichen, Unauflösbaren zu verhalten, eine Beziehung zu ihm zu finden. Und dieser Versuch ist schon Religion. Er ist Ausdruck einer Kraft, die im Menschen selber liegt, ihn erst wirklich zum Menschen macht. Die Wege sind ganz verschieden, verlaufen oben und unten, innen und außen. Sie sind selbst innerhalb der verschiedenen Religionen unterschiedlich. Es gibt nicht die allgemeine Mystik, wabernd, verschwommen, wie uns die esoterischen Quacksalber glauben machen wollen.

Die Mystiken der großen Religionen sind unterschiedlich. Aber sie sind gleichwohl miteinander verbunden. In ihnen zeigt sich der Mensch in seiner Urfassung und in der Verwobenheit mit seinem geschichtlichen, kulturellen, landschaftlichen und klimatischen Schicksal.

Das Wort „Mystik“ kommt aus der griechischen Sprache. Dort heißt „mýein“ die Augen schließen, auch den Mund, still und stumm werden vor Staunen und Erschrecken.

Die Augen verschließen heißt noch lange nicht blind werden. Unter den Lidern der Augen entstehen neue Bilder, wird, um es paradox auszudrücken, Unerhörtes sichtbar.

Mystik bedeutet nicht „ausflippen“, nicht „abdriften“ ins Vage, ins Umrisslose, ins Unbestimmte. Mystisch verhalten kann der Mensch sich nur innerhalb des Bestimmten, des Umrissenen, des Konkreten. Mystik bleibt immer eingebettet in den Kontext des gelebten Lebens, ist nicht nur eine Angelegenheit der Seele oder des Geistes, sondern eine Sache auch des Körpers. Eben des ganzen Menschen.

Von Wilhelm Busch, der nicht nur ein Humorist war, stammt der Vers: „Die Seele schwingt sich in die Höh’ juchhe. Der Leib bleibt auf dem Kannapé.“ – Das ist nicht der Weg der Mystik. Der Weg der Mystik ist keine Autobahn, auf der man in Höchstgeschwindigkeit, ungebremst ins Nirwana gerät. Er ist ein steiler und steiniger Weg, oft ein wegloser Weg, der nach gründlicher Orientierung verlangt.

Grenzen werden spürbar

Wenn heute so viele Menschen den Hunger nach dem Geheimnis verspüren, dann liegt es auch an der Zeit, die solchen Hunger massiv hervorruft. Man muss nüchtern und konkret bleiben, sehen und hören.

Vier Gründe mache ich aus, wenn ich mich frage, woher der mystische Hunger unserer Tage und Nächte kommt. Vier Gründe, die gemischt vorkommen und die man nur verbal voneinander trennen kann. Den ersten Grund möchte ich kennzeichnen mit dem Satz:

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Auch wenn seit Jahren bei uns darüber geklagt wird, dass es uns schlechter und schlechter gehe und die Armut ausgebrochen sei, sehe ich: Wir leben im Wohlstand. Wer das Gegenteil behauptet, ist zumindest mit partieller Blindheit geschlagen.

Auch die sogenannten Aussteigerinnen und Aussteiger leben im Wohlstand, welcher ja erst ihre zumeist luxuriösen und privilegierten Ausstiegsversuche ermöglicht. Sie steigen oft nur von einem Wohlstand in den andern um.

Wir sind, so scheint mir, trotz der Umrisse einer neuen Armut wie verzweifelt in den Wohlstand eingebunden, eingeklemmt. Das macht die Sache so schwierig, für viele die Lage so aussichtslos. Das Wohlstandsbombardement der letzten Jahrzehnte hat die Menschen mürbe gemacht, ein enormes Verzweiflungs- und Sinnvakuum hinterlassen. Dieses Vakuum verlangt folgerichtig nach einer Füllung. Dem herrschenden Wohlstand entsprechen die steigende Sinnleere, Langeweile, kulturelle Hektik.

In einer Welt, in der man – angeblich – nahezu alles für Geld haben kann, hat man sich selbst offensichtlich immer weniger. Viele Fakten und Zahlen sprechen dafür.

Wir haben perfekte technische Mittel und verworrene Ziele

Einerseits hat es der Mensch fertig gebracht, auf dem Mond zu landen, immer neue Mittel der technischen Kommunikation zu erfinden, eine verwirrende Fülle von Techniken zur Erleichterung der Mühsal des alltäglichen Lebens bereitzustellen. Dennoch weiß heute bei ehrlicher Betrachtung keine und keiner mehr über das Wozu und Wohin von allem Auskunft zu geben. Es fehlt im Wirrwarr der Möglichkeiten an einer Orientierung, an einer Gewichtung der Möglichkeiten, an einer Richtschnur, die einem hilft zu unterscheiden.

Fast überall rasender Stillstand, keuchende Hektik, stille Raserei, aber es geschieht kaum etwas wirklich, gemessen an dem, was geschehen könnte und geschehen müsste. Dieser Zustand wird immer mehr Menschen angstvoll bewusst.

Entlarvung weltlicher Heilslehren

Nur ein Beispiel: Das Vertrauen in die Allmacht und Allzuständigkeit der Wissenschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten schier grenzenlos waren, hat einer tiefen Skepsis Platz gemacht, einem schleichenden Misstrauen den Weg bereitet und ist eigentlich schon gebrochen.

Immerhin: Mit den Mitteln der Wissenschaft wurde die Atombombe hergestellt und das Zyklon-B-Gas für Auschwitz erfunden. Und in unseren Tagen spielen manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz ernsthaft und optimistisch mit den Möglichkeiten und Versuchen, die Grenzen des Menschen selbst zu überschreiten.

Aber was ist das für ein Fortschritt? Ein Fortschritt in eine virtuelle Zukunft? Oder ein Fort-Schritt von uns selber weg? Ein Wahn? Eine große Selbsttäuschung? – Das Wort ist zum Fetisch der Moderne geworden, zu einem Wort, das mehr verdeckt, als es offenbart.

Grenzen des Wachstums

Die Zeit der Wachstumseuphorie ist vorbei. Auch wenn der Aufschwung immer wieder beschworen wird, das Wirtschaftswachstum einem Zauberwort gleicht: Die Energiequellen werden geringer, die Vorräte schwinden, die Wälder sterben, das Eis auf den Polkappen schmilzt, der Meeresspiegel steigt, das Wetter gerät durcheinander. Man kann nicht mehr alles essen, was es gibt, nicht mehr alles trinken, nicht mehr alles sehen und hören, was es zu sehen und zu hören gibt. Vielfach vergehen einem Sehen und Hören. Man hat nur ein begrenztes Fassungsvermögen. Wird dies überschritten, beginnen Leib und Seele buchstäblich auszuspeien, weil es ihnen übel geworden ist. Das Misstrauen geht immer tiefer, schlägt zeit- und gebietsweise um in eine Haltung der aggressiven Angst. Man traut dem ganzen Leben nicht mehr, ist pauschal verzweifelt.

Es hat den Anschein, dass die Menschen zu träge sind, um aus ihrer eigenen Geschichte zu lernen. Und es stimmt nachdenklich, wenn der Philosoph Max Horkheimer sagt, dass wir den Gewinn einer technisch machbaren Welt mit dem Verlust der Sinnfrage erkauft hätten. Ein ganz anderer Hunger meldet sich an.

Betrachtet man ruhig und gelassen alle diese Bewegungen unserer „modernen“ Welt, kommt man nicht umhin, nüchtern festzustellen, dass der Boom von Mystik, Esoterik und Psychologie alles andere als verwunderlich ist: Der Mensch fühlt sich gefesselt, stranguliert – und möchte frei werden.

Der russische Maler Wassily Kandinsky (1866–1944) sagt:

Die Mystik ist der rechte Weg, frei zu bleiben

Es geht allerdings um eine Mystik, die den Namen wirklich verdient. Nicht um Mystik „light“, nicht um einen Aufguss, der das Wohlbefinden steigert und den letzten Kick bringt. Es geht nicht um irgendwelche Geheimlehren, die nur Eingeweihten zugänglich sind. Es geht um den Kern und die Mitte des menschlichen Lebens selber, in der die religiöse Erfahrung nicht nur eine reine Zutat ist, sondern die Sache selbst.

Die Mystik der drei großen monotheistischen Religionen ist in diesem Punkt eine und dieselbe. Aber sie ist verschieden in den Wegen, die zu ein und demselben führen.

Diese Wege ändern sich immer wieder. Schon allein deswegen, weil der Mensch in seiner Geschichte immer wieder neue Anläufe genommen hat und nimmt, um dem letzten Geheimnis seines Daseins auf die Spur zu kommen.

Im Grunde geht es um die Spannung, das Leben in der Welt als Faktum und als Geheimnis zugleich zu begreifen – und diese Spannung so auszuhalten, dass daraus eine sinnvolle Lebensgestaltung und Lebensgestalt erwachsen können.

Josef Sudbrack, christlicher Theologe und geistlicher Lehrer, der die Tradition kennt, schreibt: „Die Zeit scheint vorbei, da man über die Mystik das Verdikt von Obskurantismus oder von Wirklichkeitsflucht verhängen konnte. Zu sehr bedrängt den Menschen von heute die Frage nach dem Sinn, nach Erfüllung, nach Transzendenz, nach einem ‚Mehr‘ über den alltäglichen Ablauf der Dinge hinaus, und zu groß ist der Hunger nach Erfahrung in unserer Zeit – und er wird noch wachsen.“

Über die zeitgemäßen Voraussetzungen mystischen Lebens

Aus Leo Tolstois Meine Beichte, 1879:

Die vernünftige Erkenntnis hatte mich dahin geführt, das Leben als etwas Sinnloses anzuerkennen – mein Leben hatte stillgestanden, und ich hatte den Wunsch, es zu vernichten. Ich betrachtete die Menschen, die ganze Menschheit, und sah: Die Menschen leben und behaupten, sie kennen den Sinn des Lebens. Ich betrachtete mich: Ich lebte, solange ich den Sinn des Lebens kannte; wie den anderen Menschen, so hatte auch mir den Sinn des Lebens und die Möglichkeit des Lebens der Glaube gegeben.

Als ich dann die Menschen in anderen Ländern, Zeitgenossen und Verstorbene, betrachtete, sah ich ganz dasselbe. Wo Leben ist, da gibt der Glaube von Anbeginn der Menschheit an die Möglichkeit zu leben, und die Hauptzüge des Glaubens sind zu allen Zeiten und an allen Orten ein und dieselben.

Welche Antworten auch der Glaube zu geben mag, wem er sie geben mag, und welcher Glaube es sei: Jede Antwort des Glaubens verleiht dem endlichen Dasein des Menschen den Sinn des Unendlichen – einen Sinn, der nicht durch Leiden, nicht durch Entbehrungen, nicht durch den Tod vernichtet wird. Das will sagen: Im Glauben allein kann man den Sinn und die Möglichkeit des Lebens finden. Was ist aber dieser Glaube? Und ich begriff: Der Glaube ist nicht nur die Enthüllung der unsichtbaren Dinge usw., ist nicht die Offenbarung (das ist nur die Schilderung eines der Merkmale des Glaubens), ist nicht das Verhältnis des Menschen zu Gott (man muss erst den Glauben definieren und dann Gott, und nicht durch Gott den Glauben definieren), ist nicht nur Zustimmung zu dem, was dem Menschen gesagt worden ist, wie der Glaube meist aufgefasst wird – der Glaube ist die Erkenntnis des Sinnes des menschlichen Lebens, kraft dessen der Mensch sich nicht vernichtet, sondern lebt. Der Glaube ist die Kraft des Lebens. Wenn der Mensch lebt, so glaubt er auch an irgendetwas. Würde er nicht glauben, dass etwas ihm zu leben gebietet, so würde er nicht leben. Wenn er die Schattenhaftigkeit des Endlichen nicht sieht und nicht begreift, so glaubt er an dieses Endliche; wenn er die Schattenhaftigkeit des Endlichen begreift, muss er an das Unendliche glauben. Ohne Glauben kann man nicht leben. Und ich rief mir den ganzen Gang meiner inneren Arbeit ins Gedächtnis zurück, und ein Schauder erfasste mich. Jetzt war es mir klar: Damit der Mensch leben könne, muss er entweder das Unendliche nicht sehen oder eine solche Erklärung des Sinnes des Lebens besitzen, bei der das Endliche dem Unendlichen gleichwertig wird. Eine solche Erklärung hatte ich, aber ich brauchte sie nicht, solange ich an das Endliche glaubte; und ich begann, sie mit der Vernunft nachzuprüfen. Und vor dem Licht der Vernunft zerflatterte die ganze bisherige Erklärung zu Staub. Aber es kam eine Zeit, wo ich aufhörte, an das Endliche zu glauben. Und da begann ich, auf vernünftigen Grundlagen aus dem, was ich wusste, eine Erklärung aufzubauen, die mir den Sinn des Lebens geben sollte; aber der Bau wollte nicht werden. In Gemeinschaft mit den vorzüglichsten Geistern der Menschheit kam ich zu dem Ergebnis: 0 = 0, und war sehr verwundert, eine solche Lösung erhalten zu haben, während doch nichts anderes herauskommen konnte.

Was hatte ich getan, als ich die Antwort in den Erfahrungswissenschaften gesucht hatte? – Ich hatte wissen wollen, wozu ich lebe, und hatte zu diesem Zweck alles durchforscht, was außer mir war. Es ist klar, ich konnte viel erfahren, aber nichts von dem, was ich brauchte.

Was hatte ich getan, alsich die Antwort in den philosophischen Wissenschaften suchte? Ich hatte das Denken der Wesen erforscht, die mit mir in der gleichen Lage waren, die keine Antwort hatten auf die Frage: Wozu lebe ich? Es ist klar, ich konnte nichts anderes erfahren als das, was ich selbst wusste: dass man nichts wissen kann.

Was bin ich? – Ein Teil des Unendlichen. Siehe da, in diesen beiden Worten schon liegt die ganze Aufgabe.

Hat denn erst seit gestern die Menschheit sich diese Frage gestellt? Und hat denn niemand vor mir sich diese Frage vorgelegt – diese einfache Frage, die sich jedem klugen Kind von selbst auf die Lippen drängt?

Diese Frage ist ja doch von der ersten Stunde an gestellt worden, da Menschen waren. Und von der Stunde an, da Menschen waren, ist es klar gewesen, dass es zur Lösung dieser Frage immer gleich ungenügend war, Endliches an Endlichem und Unendliches an Unendlichem zu messen. Und von der Stunde an, da Menschen waren, hat man das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen gesucht und in Worte gefasst.

Alle die Begriffe, durch welche man das Endliche mit dem Unendlichen vergleicht und den Sinn des Lebens erhält, die Begriffe: Gott, Freiheit, Gut, unterziehen wir einer logischen Erforschung. Und diese Begriffe vertragen die Kritik der Vernunft nicht. Wäre es nicht so entsetzlich, es wäre lächerlich, mit welchem Hochmut und welcher Selbstbefriedigung wir wie Kinder die Uhr auseinandernehmen, die Feder herauslösen, sie als Spielzeug benutzen und uns dann wundern, dass die Uhr nicht mehr geht.

Unentbehrlich und wertvoll ist die Lösung des Widerspruchs zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen und eine solche Antwort auf die Frage des Lebens, bei der das Leben möglich ist. Und diese einzige Lösung, die wir überall, zu allen Zeiten und bei allen Völkern finden – eine Lösung, die das Ergebnis einer Zeit ist, in der sich für uns das Leben der Menschen verliert, eine Lösung, so schwer, dass wir nichts Ähnliches schaffen können – ebendiese Lösung zerstören wir leichtfertig, um wieder jene Frage zu stellen, die jedem eigentümlich ist und auf die wir keine Antwort haben.

Der Begriff des unendlichen Gottes, der Göttlichkeit der Seele, des Zusammenhangs der menschlichen Dinge mit Gott, der Einheit, des Wesens der Seele, der menschlichen Vorstellung des sittlich Guten und Bösen – all das sind Begriffe, die in der entschwindenden Unendlichkeit des menschlichen Denkens gezeitigt wurden, sind die Begriffe, ohne die das Leben nicht wäre – und ich nicht wäre. Und ich verwerfe diese Denkarbeit der ganzen Menschheit und will allein alles von Neuem und auf meine eigene Weise schaffen.

So dachte ich damals nicht, aber die Ansätze dieser Gedanken waren schon in mir vorhanden. Ich hatte begriffen, dass sich alle unsere Betrachtungen in einem verzauberten Kreis bewegen, wie ein Rad, das sich aus dem Getriebe gelöst hat.

So viel wir auch denken, so gut wir auch denken, wir können keine Antwort bekommen auf die Frage, und stets wird 0 = 0 gleich sein.

Darum ist der Weg, den wir gehen, wahrscheinlich ein falscher Weg.

Ich fing an zu begreifen, dass in den Antworten, die der Glaube gibt, die tiefste Weisheit des Menschen verborgen liegt und dass ich kein Recht hatte, sie aufgrund der Vernunft zu leugnen, und dass diese Antworten einzig und allein auf die Frage des Lebens antworten.

Leid – Mystik jenseits von Fatalität und Selbsterlösung

Der härteste Prüfstein jeder Mystik ist das Leid, das dem Menschen unweigerlich widerfährt. Niemand kann ihm Zeit seines Lebens ausweichen, um ihn herumreden, ihn gesundbeten. Am Verhalten zu diesem harten Faktum, das viele Erscheinungen und Gesichter hat, entscheidet sich, ob das Leben des Menschen einen Sinn hat oder nicht.

Es gibt immer mindestens zwei Versuche, auch zwei Versuchungen, mit dem Leid, dem fremden und dem eigenen, umzugehen. Einmal die Fatalität, zum andern den zuweilen heroischen Versuch der Selbsterlösung.

Manchmal treten die Versuche im Vollzug gemischt auf. Denn ganz gibt man doch nur selten auf, und dass man sich nicht selbst erlösen kann, sagt einem die Lebenserfahrung.

Was heißt Fatalität? – Ich nehme das mir zugefügte Leid hin. Ich ergebe mich in mein Fatum, in mein Schicksal. Die Frage wird bleiben: Wer hat geschickt? Wer hat verhängt? Wenn ich sage, dass ein Gott es war, dann ergebe ich mich in Gottes Willen. Ob eine solche Haltung resignative Züge trägt, ist nicht immer leicht auszumachen. Es gibt einen Glauben, der so fest und unverbrüchlich ist, dass er auch im Leiden Gottes heiligen Willen erkennt. Dann tut man nichts mehr dagegen. Man nimmt hin. Man ergibt sich, leistet keinen Widerstand mehr.

Was heißt Selbsterlösung? – Ich wehre mich gegen das mir zugefügte Leid. Ich ergebe mich nicht. Ich gehe dagegen an. Ich ausschließlich. Ich erwarte keinen Erlöser. Ich muss mich selbst befreien aus den Fesseln des Leids, so, als ob alle Macht bei mir läge. Schließlich auch alle Ohnmacht. Kampf ist angesagt. Mit einem Gott wird im Ernst nicht gerechnet.

Was heißt Mystik? – Ich lebe bewusst zwischen beiden Extremen. Zwischen Fatalität und Selbsterlösung. Zwischen resignativer Hingabe und aggressiver Verweigerung. Zwischen Widerstand und Ergebung. Dazwischen ereignet sich mystisches Leben, das die Fakten des Lebens zur Kenntnis nimmt.

Mystik ohne eine religiöse Grundhaltung ist im Letzten nicht vorstellbar. Auch wer sich nicht ausdrücklich als religiös bezeichnet und doch mystisch zu leben versucht, muss von Grundvoraussetzungen ausgehen. Zu ihnen zählen: Annahme meiner Grenzen, Einverständnis in meine Endlichkeit und existenzielle Ohnmacht. Der Raum der Freiheit ist eng.

Friedrich Schleiermacher hat Religion als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ bezeichnet: Ich finde mich in der Welt vor, ungefragt, und sehe, dass ich Grenzen habe. Damit will ich mich so schnell nicht abfinden. Aber schon indem ich mit dem, was ich vorfinde, was mir vorgegeben ist, umgehe, muss ich Stellung beziehen.

So gesehen ist Mystik im Grunde eine Haltung, die in einer letzten Hoffnung den gegebenen Spielraum auslotet und zu sehen versucht, was sich aus der Tatsache des Leids noch machen lässt. Diese Haltung ist letztlich mit der Frage nach Gott verbunden.

Auf diese Weise wird Mystik zu einer subversiven Lebenshaltung. Sie wird zur Unterwanderung des Gegebenen, indem sie unter die Erscheinungen der Oberfläche zu gehen versucht und dort ihr Heil zu finden hofft.

Mystisch leben heißt somit ein sinnvolles Leben führen im Verzicht auf Resignation und Selbsterlösung, heißt wirklichkeitsnah leben, mit einer offenen Frage.

Skizzen wirklichen Leids

Elie Wiesel, Jude, Friedensnobelpreisträger, im Konzentrationslager Auschwitz angesichts der Hinrichtung eines Kindes:

„Hinter mir hörte ich den Mann fragen: ‚Wo ist Gott jetzt?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo er ist? Dort hängt er am Galgen …‘. An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichen.“

Auf die Frage an den ehemaligen Mainzer Bischof Hermann Kardinal Volk: „Was sagen Sie einem Menschen, der Ihnen sagt: ‚Nach Auschwitz kann ich nicht mehr an Gott glauben?‘“ antwortete er: „Ja, der Glaube kann einem vergehen! Und dennoch: Es gibt eine ganze Menge Leute, die in Auschwitz waren und gläubig geblieben sind. Wir wissen es von denjenigen, die überlebt haben. Wir haben Zeugnisse aus Auschwitz, aus Dachau, die echte Glaubenszeugnisse sind. Ich weiß von einem Weihbischof, der aus Dachau entlassen werden sollte, ein alter Mann schon, der hat gesagt: ‚Entlasst den‘ – damit meinte er einen evangelischen Kirchenführer – ‚dieser hat Familie, ich nicht‘.“

Am 25. August 1985 notiere ich in meinem Tagebuch:

Seit zwei Wochen arbeite ich an einem Film über die Kinder in der Krebsstation der Mannheimer Kinderklinik. Heute ist schwarzer Freitag. Bei fast allen Kindern sinken die Blutwerte. Bis auf zwei Kinder ist die Station am Wochenende leer. Im Weggehen treffe ich noch Veronika mit ihrer Mutter. Sie ist erschöpft und müde. Ich stehe ihr gegenüber am Fußende des Bettes, sehe sie an und weiß, dass sie sterben muss. – Später zeigt mir Jutta, die Schwester, ein Foto von Veronika: schlank, mit blonden Haaren, lieb. Heute: dickes Mondgesicht, der kleine Körper aufgeschwemmt von Kortison.

Wer hat nur eine Welt gemacht, in der Kinder so leiden müssen? Wer nur lässt die Schurken, die Mörder, die Vergewaltiger leben und diese Kinder langsam oder schnell sterben?

Wer nur lässt Leben zur Welt kommen und nimmt es wieder, bevor es überhaupt richtig begonnen hat?

Wer reißt das Bäumchen aus, bevor es sich eingewurzelt hat?
Wer stiftet Dunkelheit statt Licht?

Grausamer Gott!

Gott des Lebens?

Bei allem Zorn jedoch:

Ich spüre, wie ich an eine hauchdünne Wand gerate. Gott, wenn es ihn gibt, muss in anderen Kategorien denken, als ich es kann, als wir es können.

Gott und das Leid und die Vergeblichkeit der Welt! Jedem gehen angesichts dieses Granitfelsens in unserem Leben viele Bilder durch den Kopf. Es bleiben viele offene Wunden. Traumata.

Sicher: Wir Menschen schaffen Leid, für das wir verantwortlich sind, einen Gott nur schwerlich dafür verantwortlich machen können. Aber: Gott und das Leid stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Gerade wenn wir an den „Schöpfer des Himmels und der Erde“ glauben. Da gibt es nichts wegzudiskutieren, sauber zu trennen, klar dagegen zu argumentieren.

Ich mag sie nicht: die Alleserklärer, die allzu schnell vom gütigen, liebenden, barmherzigen, gar noch vom allmächtigen Gott reden – angesichts des nicht abreißenden Stroms von Leid, Schmerz, Tod und Ohnmacht der Menschen.

Was mir bleibt? – Nicht viel! Oft nichts! Stumm sein und vielleicht noch hoffen! Und – zugegeben – das Wissen, dass einer, der selber gelitten hat, am tödlichen Ende seines Lebens, den Satz gefunden hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Aber noch etwas bleibt mir: Dagegen angehen und kämpfen. Mit einer Hoffnung gegen alle Hoffnung. Das ist wenig! Und doch viel!

Wer kämpft, hat das, wogegen er kämpft, schon angenommen. Den aussichtslos erscheinenden Kampf gegen das Leid aufnehmen heißt, es bereits akzeptiert zu haben, in seiner ganzen Härte und Unausrottbarkeit.

Und da fallen mir Namen und Bilder ein:

Die Mutter, der Vater, die ihr behindertes Kind annehmen, das Mädchen, das seine unheilbare Krankheit besiegen wollte – und dennoch verloren hat, die Menschen, die in die wuchernden Elendsviertel der Weltstädte gehen, die Hospizhelferinnen und -helfer, die trösten und raten, die Seelsorgerinnen und Seelsorger neben den Bahngleisen von Eschede. Und Ruth Pfau, die Lepraärztin in Pakistan.

Als ich bei ihr in Karachi war, der Stadt des Todes und der Dunkelheit, sprachen wir natürlich auch über das Leid, das einen dort geradezu überflutet. Ich habe sie gefragt, wie sie damit zurechtkomme. – Ihre Antwort: „Ich akzeptiere es, höre auf, nach dem Warum zu fragen, weil die Frage meine ganze Kraft für den Kampf verbrauchen würde, ich kämpfe. Die Fragen, auf die ich keine Antwort finde, stelle ich zurück, sie kommen auf meine eschatologische Liste. Diese Liste wird dereinst der vorgelegt bekommen, der auch das sinnlose Leid geschaffen hat.“

Leben heißt leiden. Nicht weltverschmerzt, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, schmalzig, triefend vor geistlicher Salbung. Leben heißt leiden. Nüchtern, wirklichkeitsnah, konkret, hart, kantig, verletzend.

Der Mönch und Mystiker Thomas Merton hat einmal gesagt: