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Ein herausfordernder Diskurs in der

Edition BoD

 

hrsg. von Vito von Eichborn

Bücher für Entdecker

Books on Demand bietet Autoren ein neues Verlagskonzept. Viele Debütanten, etablierte Autoren und engagierte Verleger nutzen den Publikationsservice von Books on Demand und bereichern den Buchmarkt mit interessanten und außergewöhnlichen Titeln. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, wählt als Herausgeber für die Edition BoD herausragende Neuerscheinungen aus. Lesen Sie selbst, welche Entdeckungen das Programm von Books on Demand möglich macht.

Mehr Infos auch auf www.bod.de.

Michael Murauer, geboren 1955 in München, studierte Philosophie und Medizin in Regensburg und München. Heute lebt und arbeitet er als Arzt in Deggendorf/Niederbayern. Neben den körperlichen Leiden seiner Patienten bedrückte ihn zusehends der zu geringe Stellenwert einer philosophischen Lebensorientierung in unserer Gesellschaft. Als Heilmittel entdeckte er das literarische und bildhafte Philosophieren. Diese Tradition erwies sich als so faszinierend, dass dem Autor für sein Buch die Motive zufielen wie dem armen kleinen Mädchen die Sterntaler. www.murauer.info

Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u. a. Geschäftsführer bei Rotbuch/Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD.

Inhalt

Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie

Die Menagerie der Philosophen

… und was sich daraus über menschliche Erkenntnis vermuten läßt

Buridans Esel und Pyrrhos Spaziergang

Leben heißt, sich zu entscheiden

Eine chinesische Teekanne und eine Kiste Orangen

Die philosophische Bringschuld der Religion

Der kristalline Weltkleber und der unsichtbare Gärtner

Über Einfachheit und Sprachartistik

Eine Herde Stachelschweine und ein Schneesturm

… und was sie mit unserem Verhalten zu tun haben

Eine Reise in Frankreich

Nahrung für Körper und Geist

Der Tod bei Sens

Über Gefühl und Vernunft

Das Vermächtnis

Sapientia und das liebe Geld

Die Frau mit der Glaskugel und der Mann mit dem Felsbrocken

Irrungen und Wirrungen der Trauer

Das andere Ende

Über das Glück, Abschied nehmen zu können

Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie …

Ja, Philosophie könnte durchaus auf Publikumsinteresse stoßen“ (ich hatte ihr von Michael Murauers Manuskript erzählt) – „ja, aber nur, wenn es nicht versimpelt ist, sondern klug, wenn es nicht zu theoretisch ist, sondern lebendig, wenn es also gleichzeitig vergnügliche Lektüre ist und das Selbstdenken anregt. Sachbücher über philosophische Theorien gibt es ebenso genug wie Esoterik aller Art.

Wissen Sie, zur Philosophie gab es ja schon länger nichts Brauchbares“, und sie erzählte aus ihrer Erfahrung im Buchhandel:

„Die 70er waren das Jahrzehnt der weitgehend trockenen Theorien. Dann, Anfang der 80er Jahre, kam Sloterdijks unterhaltsam geschriebene ‚Kritik der zynischen Vernunft‘, das wurde ein veritabler Bestseller. Übrigens hat damals Verleger Unseld nicht an den Erfolg geglaubt. Für ein Hardcover war es ihm zu dick und zu riskant, es wurde ein Original-Taschenbuch, und die Startauflage war klein.

Der Erfolg steckte darin, daß man es auch als halbgebildeter Student verstand – und daß es den Nach-68er-Zeitgeist im Kern traf. Er setzte sich mit allen Arten von Gesellschaftsbewegungen und Ideologien auseinander.

Luciano De Crescenzo kam ein paar Jahre später mit ‚Also sprach Bellavista‘, bezeichnenderweise bei Diogenes, dem Verlag für gute Unterhaltung. Er erzählte in sokratischem Dialog vor allem von Liebe und Freiheit, auch das war passend für den Zeitgeist. Ihn – und auch seine weiteren Bestseller – zeichnete vor allem kluger Witz aus, Selbstironie.

Der philosophische Mega-Erfolg wurde in den 90er Jahren dann „Sophies Welt“ von Jostein Gaarder, eine buchstäblich infantilisierte Geschichte der Philosophie – das Ganze nämlich als (vorgebliches) Kinderbuch, ein Meisterstück im Vereinfachen komplizierter Zusammenhänge. Dieses Buch hat übrigens den literarischen Hanser Verlag davor gerettet, verkauft zu werden. Philo-Sophie also, die Liebe zur Weisheit, mit dem Mädchen Sophie im Mittelpunkt. Nun war plötzlich Bildung gefragt …“

Sie unterbrach sich selbst. „Und worum geht es nun in Ihrem Buch?“, fragte die Buchhändlerin, „wie kann ich es meinen Kunden erklären?“

„Also, es geht …“, bekannte ich zögernd, „es geht um Gott.“

„Oje“, unterbrach sie mich, „Gott ist out. Die Leute reden über Islamisten, über die bigotten Amerikaner, über Fundamentalisten in den Religionen und den Kampf der Kulturen. Und, natürlich, ‚wir sind Papst‘, Benedikt ist absolut in.

Aber Gott? Für den interessiert sich keiner.“

„Das kann doch nicht wahr sein“, empörte ich mich. „Naja, genaugenommen geht es ja nicht um Gott. Es geht um die Gottesbeweise. Seit Jahrtausenden wird versucht, seine Existenz zu beweisen. In den USA gibt es grade eine breite Bewegung, deren Anhänger mal wieder behaupten, daß Darwin Unrecht habe. Denn diese ganze so bewundernswerte Welt habe sich nicht von selbst so schön und komplex entwickeln können. Und die anderen meinen, schon lange, nicht erst seit Nietzsche, angesichts dieser so grausamen Welt, daß es keinen Gott geben könne, der all diese offensichtlich sinnlosen Greueltaten zuläßt.“

„Na gut, das hört sich ja ganz reizvoll an“, meinte die Buchhändlerin. „Und wie ist es geschrieben?“

„Hinreißend“, ereiferte ich mich. „Dem Autor gelingt es durchaus, uns in einer eingebetteten Rahmenhandlung auf die Höhen eines lebendigen Diskurses mitzunehmen. Das ist spannend zu verfolgen, wie Gott in der Philosophiegeschichte immer wieder neu betrachtet wird. Und dann aber erzählt uns Murauer auch ganz alltägliche Geschehnisse und Überlegungen.

Mit anderen Worten: Unser Erzähler, sein neugieriger Onkel und seine weise Tante geraten in die Höhenflüge philosophischer Diskussionen. Und der Autor stellt ganz alltägliche Fragen und Probleme daneben, mit denen jeder halbwegs lebendige Mensch sich auseinandersetzt. Jeder Leser kann etwas von sich wiederfinden …“

„Geben Sie mal her“, unterbrach sie mich, nahm mir das Buch aus der Hand und begann, wie Berufsleser es so tun, erst hier, dann da zu blättern. Dann verhielt sie an einer Stelle, stützte sich auf, las, verhielt, las wieder – bis sie sich zusammennahm, das Buch zuklappte und energisch sagte: „Also, das geht so nicht, das muß ich genauer prüfen. Ich nehme es heute mit nach Hause. Das will ich ganz lesen. Und dann will ich gerne mit Ihnen darüber streiten.“

„Einverstanden“, meinte ich, „und dann lade ich noch ein paar Leute ein, die es auch gerade lesen. In einer Abendrunde streitet es sich schöner über Gott und die Welt, über die Rolle der Religionen und den Zeitgeist.“

So soll es auch Ihnen gehen. Lesen Sie sich fest. Und wenn Sie beginnen, sich aufzuregen, über Gott oder Murauer oder sonstwen – dann: streiten Sie schön.

Für diejenigen, die es bereits kennen: Für diese Neuausgabe hat der Autor das Buch überarbeitet.

Und ich verspreche: Sie brauchen sich hier nicht mit einem Gott auseinanderzusetzen, schon gar nicht mit ‚dem Gott‘ – sondern mit dem Nachdenken über seine Anhänger und seine Gegner, über die Religion – und die Welt drumherum.

Wer die andere Meinung nicht kennt, kann keine eigene haben.

Viel Vergnügen wünscht

VITO VON EICHBORN

Die Menagerie der Philosophen

… und was sich daraus über menschliche Erkenntnis vermuten läßt

Woher meine Tante Sapientia ihren Fiat Lux bekommen hat, ist mir ein Rätsel. Er stand eines Tages plötzlich vor ihrer Haustür. Meine Versuche, etwas über seine Herkunft herauszufinden, sollten sich als unerwartet schwierig erweisen. Erinnern Sie sich noch, wie ein Fiat Lux Spider aussieht? Na ja, wahrscheinlich nicht. Es ist eine schon etwas betagte Art von Cabriolet, die man nur noch selten zu Gesicht bekommt. Die Serie, die gebaut wurde, war nicht sehr groß. Die Leute mochten das Modell nicht besonders. Zwar strahlt es unbestreitbar eine gewisse Eleganz aus mit seiner zwischen den runden Scheinwerfern heruntergezogenen Haube und dem flachen Heck mit den nach außen leicht ansteigenden Kotflügeln – ein wenig wie eine Art Nurflügelflugzeug auf der Straße. Aber dieses Auto war nie sehr zuverlässig. Es entwickelt gerne ein Eigenleben, trägt seine Besitzer gerade so weit, wie es will, bleibt dann mit einem Defekt liegen und überläßt es den Insassen, das weitere Geschehen flexibel in die Hand zu nehmen. Außerdem schließt das Verdeck nicht richtig. Auch wenn es zugeklappt ist, bläst immer ein frischer Wind herein und stört die Gemütlichkeit.

Wir waren alle sehr überrascht, daß sich Tante Sapientia ein solches Auto anschaffte. Sie hatte nämlich immer die Meinung vertreten, ein Auto habe ein preisgünstiges, sicheres und zweckmäßiges Transportmittel zu sein – so wie der Kombi von Onkel Curioso und ihr vorheriger Kleinwagen. Einige Leute, die genügend Geld hätten, könnten sich ja Sportwagen und Cabriolets kaufen, das mache die Welt ein wenig bunter. Sie selbst aber ziehe es vor, ihre begrenzten Mittel für andere angenehme Dinge des Lebens einzusetzen, etwa dafür, ein reizvolles Kleid zu kaufen, gut zu essen oder die eine oder andere Reise zu unternehmen. Wie kam sie da zu diesem Fiat Lux? Gut, sie hatte immer eine gewisse Vorliebe für die Originalität italienischen Designs gezeigt – aber bei Autos und gerade bei diesem etwas in die Jahre gekommenen Auto, das doch noch nicht so ganz den Charme eines Oldtimers beanspruchen konnte? Außerdem kam Autofahren sowieso in ihren Kreisen immer mehr aus der Mode, und wer nicht darauf verzichten konnte oder wollte, setzte diese inzwischen fragwürdig erscheinende Tätigkeit jedenfalls eher verschämt und unauffällig fort.

Tante Sapientia lobte an ihrem neuen fahrbaren Untersatz gerade das, was anderen als Mangel erscheinen wollte. Der unvermeidliche Wind im Wageninneren mache den Kopf frei und klar und empfänglich für neue Gedanken. Wer zuverlässig zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein müsse, der brauche selbstverständlich nicht in dieses Auto zu steigen. Wer aber etwas Muße habe, den könne es viel weiter bringen als jedes andere Verkehrsmittel. In diesem Auto werde einem auch der Weg schon zum Ziel. Und erstaunlicherweise pflichtete ihr Onkel Curioso bei, obwohl auch er immer eine streng vernünftige Einstellung dem Automobil gegenüber gepredigt hatte.

Übrigens hieß Tante Sapientia in Wirklichkeit Klara, und nur wenige Leute durften sie bei ihrem Spitznamen nennen. Den verdankte sie Onkel Curioso. Bevor Tante Sapientia auf Reisen ging, kaufte sie gerne wenigstens drei oder vier Reiseführer über das jeweilige Ziel und war dann auch meistens ziemlich gut vorbereitet. Man könne sich schließlich nicht einfach auf eine Meinung oder eine Perspektive verlassen, war eine ihrer Devisen, und außerdem sehe man mehr, wenn man vorher schon etwas wisse. Nachdem sie auf einer gemeinsamen Reise sehr hartnäckig die Baulichkeiten und Kunstschätze den inzwischen aufgrund der verschiedensten Veränderungen überholten Beschreibungen eines Reiseführers anzupassen versuchte, setzte Onkel Curioso ihren Spitznamen in die Welt.

Nun wollte sich Tante Sapientia durchaus noch eingehen lassen, daß sie Wissen, Verstand, Einsicht und ein gewisses Maß an Klugheit habe, aber es war ihr peinlich, sich Weisheit zuschreiben zu lassen (um so mehr, als sie recht gut wußte, daß Onkel Curioso ihren Spitznamen nur halbironisch meinte). Und deshalb durfte man sie nicht zu oft so nennen, wollte man es sich nicht mit ihr verscherzen.

Natürlich hatte sie sich bald revanchiert. Denn Onkel Curioso war ein Thomas, bevor sie ihn ein wenig in die romanischromantische Richtung verschönerte. Und schien mir auch der melodisch-künstlerische Klang seines Spitznamens lange Zeit wenig zu Onkel Curioso zu passen, so hatte Tante Sapientia doch ebenso gute Gründe für ihre Wahl wie er für die seine. Onkel Curioso war die Doppelbödigkeit rasch bewußt geworden, die sich seine Frau da erlaubt hatte, jenes Changieren zwischen Neugier und Seltsamkeit – dennoch trug er seinen Spitznamen mit Gleichmut.

Da ich auch ein wenig von seiner Wißbegierde im Blut habe, ließ mir die plötzliche Begeisterung der beiden für dieses komische Auto keine Ruhe. Und so lud ich mich bald ein, um wieder einmal ein Wochenende mit ihnen zu verbringen, wie ich es als Junge oft getan hatte.

Tante Sapientia und Onkel Curioso hatten selbst keine Kinder. Sie hätten gerne welche gehabt und wären sicherlich gute Eltern gewesen, aber es hatte nicht geklappt. Sie hatten deswegen ein vernünftiges Maß an Untersuchungen über sich ergehen lassen, waren aber der Meinung, man solle diesbezüglich auch nichts übertreiben. So schön es wäre, selbst Kinder zu haben, so hänge davon doch nicht das Glück ihrer Ehe und ihres Lebens ab. Außerdem habe die Kinderlosigkeit durchaus auch Vorteile, etwa größere zeitliche und finanzielle Ungebundenheit. Und betrachte man die Sache einmal unabhängig von dem persönlichen Wunsch, Kinder zu haben, gebe es selbst in den wohlhabenden Ländern schon zu viele Menschen, um erfreuliche Lebensumstände für alle ermöglichen zu können.

Eine Adoption hatten sie immer wieder erwogen, sich aber dann – obwohl sie viel Sympathie für ein befreundetes Ehepaar zeigten, das diesen Weg gegangen war – doch nicht dazu entschlossen.

Schon gar nicht kam für sie ein „Ersatzkind“ oder „Kinderersatz“ in Frage, wie man ihn so oft bei kinderlos gebliebenen Ehepaaren sieht, vorzugsweise in Gestalt eines Hundes. Obwohl Onkel Curioso einmal halb scherzhaft sagte: „Da könnten wir Beobachtungen zu der interessanten Frage unternehmen, wieviel und welche Art Bewußtsein höhere Säugetiere haben!“, waren sie sich doch einig, daß ein Hund kein hinreichender Grund sei, um ihre Ungebundenheit erheblich einzuschränken, und daß sie sich da lieber mehr uns Neffen und Nichten widmen wollten. Außerdem sind ja, wie wir noch sehen werden, Katzen, Hühner, Stachelschweine und Affen, ja selbst Esel philosophisch renommiertere Tiere als Hunde.

Tante Sapientia las gern Romane und Geschichten. Dies gehörte zu ihrer Art, über das Leben nachzudenken. Sie hatte ein feines Gespür für den falschen Ton und das Klischeehafte. Onkel Curioso ließ sich immer mal wieder ein Buch von ihr empfehlen, bevorzugte selbst aber mehr philosophische Texte, vor allem solche, die sich um eine möglichst klare und einfache Sprache bemühen. Geistesgrößen, die es dem Leser schwerer als nötig machen, ihren Gedanken zu folgen, mochte er nicht. So etwa jenen preußischen Staatsphilosophen, der selbst einmal von sich sagte, er hätte noch ein Jahr an seiner „Logik“ zu arbeiten gehabt, um sie hinreichend klar zu machen, dies jedoch unterlassen, weil ihn finanzielle Zwänge veranlaßt hätten, das Werk in Druck zu geben.

Für diesen Schlag von Philosophen hatte Onkel Curioso seine eigene Bezeichnung: „Extremisten der Abstraktion“. Und im speziellen Falle des gerade erwähnten Denkers zweifelte er sehr daran, daß auch noch so viele weitere Arbeitsjahre ausgereicht hätten, um ihn mehr Klares und Zutreffendes schreiben zu lassen. Als wir einmal über dessen trotzdem (oder zum Teil auch deswegen?) erstaunliche Wirkungsgeschichte diskutierten, sagte Onkel Curioso: „Die hübscheste Einleitung, um sein Publikum auf die trotz allem unvermeidliche Beschäftigung mit Hegel vorzubereiten, hat der Theologe Hans Küng gefunden: ‚Hegel‘, sagt er, ‚ist freilich der schwierigste unter den notorisch schwierigen deutschen Philosophen. Und zähes Fleisch bekommt auch der raffinierteste Koch nicht weich.‘ Dabei verkündet Hegel in einer Abhandlung über das geistige Kunstwerk, ‚die besondern schönen Volksgeister‘ vereinigten sich ‚in ein Pantheon, dessen Element und Behausung die Sprache ist‘. Wenn aber dieser selbe Herr uns dann in einem fort ungenießbare metaphysische Konstrukte auftischt – oft genug in holprigen Schlangensätzen, die mit sich selbst nicht fertig werden –, so erzeugt das bei mir alles andere als Stolz auf den philosophischen Geist unseres Volkes.“

Besondere Freude hatte Onkel Curioso dagegen an guten Bildern und Gleichnissen, die er auch gerne selbst erzählte, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. „Sie treffen uns oft unmittelbarer, prägen sich stärker ein und beeinflussen uns nachhaltiger als die systematisch fortschreitende Erörterung“, sagte er einmal zu mir. „Die Religionen haben sich das immer schon zunutze gemacht, und wir Philosophen sollten uns daran ein Beispiel nehmen. Allein mit unseren Fußnotentexten können wir in der weltanschaulichen Auseinandersetzung keinen Blumentopf gewinnen. Leider haben dies meist nur Leute mit einer gewissen Außenseiterposition in der Philosophie verstanden, und nur wenige Profis bringen Popularisierungsversuche von einigem Charme hervor.

Mit unseren wissenschaftsrituellen Verschränktheiten, so unentbehrlich sie bis zu einem gewissen Grade sind, ermüden wir auch viele gebildete Zeitgenossen recht rasch, und sie folgen uns nicht weit. Wenn Szczesny sehr treffend sagt, daß den kultivierten Menschen die bildlose und dürre ‚Weltanschaulichkeit‘ eines modernen Agnostizismus abstoße, da sie ihm keinen Anreiz zur ästhetischen Gestaltung und zum ästhetischen Genuß zu bieten scheine, so gilt dies ebenso für die dürre Wissenschaftlichkeit einer scheinbar weltanschauungslosen Philosophie. Wenn wir den Leuten schon so viele desillusionierende Inhalte bieten müssen und die Welt in mancher Hinsicht entzaubern, dann sollten wir uns wenigsten bemühen, das auch einmal in einer Form zu tun, die unterhält und Freude macht.“

Und Tante Sapientia meinte dazu: „Für einen Mann hat Szczesny da den Nagel erstaunlich gut auf den Kopf getroffen. Und wenn ich auch glaube, daß dem religiösen Empfinden und den Religionen der Menschen größere Bedeutung zukommt, als du meinst, so habt ihr Agnostiker und Atheisten doch sicher recht, wenn ihr euch nicht als phantasielos, amusisch und gefühlskalt hinstellen lassen wollt. Du solltest aber nicht bloß immer deine Brüder im Geiste zitieren, sondern hin und wieder einmal daran denken, daß es kluge Frauen gibt, die euch schlagkräftig verteidigen und dabei gleich demonstrieren, wie man sich anschaulich ausdrückt.

So etwa Margaret Knight, wenn sie sagt, es sei ein Irrtum, die Atheisten alle miteinander für gefühllose Philister ohne Sinn für Schönheit, Achtung vor der Tradition und Sinn für Ehrfurcht und Ergriffenheit zu halten, für Menschen, die am liebsten die Kathedrale von Chartres niederreißen und an der gleichen Stelle eine öffentliche Wäscherei errichten möchten. Man müsse aber, bei aller Wertschätzung für die Kathedrale von Chartres und allem Verständnis für die Absichten ihrer Erbauer, einer derartigen Kulturleistung wegen ebensowenig an den Gott von Israel glauben wie angesichts des Parthenon an die griechische Göttin Athene.“

Man sieht schon: Tante Sapientia und Onkel Curioso waren ein ganz munteres Ehepaar, auch wenn ihre Diskussionen nicht immer hart am Thema blieben, sondern oftmals von allen möglichen eigenartigen Assoziationen in die überraschendsten Richtungen getrieben wurden.

Die beiden hatten obendrein – mag auch die Auswahl, die meine Erinnerung trifft, manchmal einen etwas anderen Eindruck hinterlassen – die erfreuliche Eigenschaft, sich und andere nicht ständig mit ihrem Wissen zu bombardieren oder durch hochphilosophische Diskussionen zu enervieren. Genau wie andere Paare unterhielten sie sich meist über Alltagsdinge. Im Gegensatz zu manch anderen Paaren fehlten ihren Unterhaltungen allerdings jene Seitenhiebe und Bissigkeiten, die einem zeigen, daß die Liebe verloren gegangen ist und hier zwei Menschen nur noch aus Gewohnheit, äußeren Zwängen oder Angst vor der Einsamkeit zusammenbleiben.

Aber lassen Sie mich nicht zu sehr abschweifen. Sie müssen mir notfalls ein wenig auf die Finger klopfen und mich an das erinnern, wovon ich zu erzählen versprochen hatte. Schon in der Schule bin ich bei meinen Erörterungen manchmal über die Ausarbeitung der Einleitung nicht hinausgekommen und mußte dann schnell noch eine neue Gliederung erfinden, die es einigermaßen so aussehen ließ, als ob ein vollständig ausgearbeiteter Aufsatz vorliege.

Einmal war ich – ich dürfte damals 14 Jahre alt gewesen sein – bei den beiden zu Gast, und wir waren nach einem Ausflug recht früh zu Bett gegangen, ohne noch viel zu essen. Morgens weckte mich der Onkel auf, und meine ersten Worte waren: „Ist das Frühstück schon fertig?“

Damals glaubte ich noch, daß so harmlose Sätze auf keinen Fall den Ablauf des Lebens beeinträchtigen könnten. Onkel Curioso aber antwortete: „Du erinnerst mich an Russells Katze.“

Und schon waren wir in einer Unterhaltung, die das Frühstück in die Länge ziehen sollte.

„Wer ist Russell? Und was ist mit seiner Katze?“

„Bertrand Russell war ein englischer Lord, der die meiste Zeit seines Lebens zu wenig Geld hatte, außerdem bedenklich viele Ehefrauen und noch viel mehr abweichende Ansichten, die ihn sogar zeitweise ins Gefängnis brachten. Er war einer der großen Aufklärer des 20. Jahrhunderts. Er erhielt den Literaturnobelpreis für ein Sachbuch: ‚Ehe und Moral‘. Er hat die Bilderwelt der Philosophen um seine Katze, sein Huhn, eine Kiste Orangen und eine chinesische Teekanne bereichert.“

„Jetzt übertreib’ es nicht, ein ganzer philosophischer Hausstand ist ein bißchen viel so früh am Morgen! Erzähl mir erst mal von der Katze.“

„Also gut. Bertie fiel auf, daß seine Katze auch hungrig wurde, während er schlief.“

„Na und? Das würde meine sicher genauso werden, wenn ich eine hätte, lange genug schlafen würde und sie in dieser Zeit nichts zu futtern erwischen könnte.“

„Ja schon, aber Bertie zog ernsthaft in Erwägung, daß die ganze Außenwelt und natürlich auch die Katze nur in seiner Vorstellung existieren könnten. Der irische Bischof Berkeley hatte nämlich zweihundert Jahre vorher diese alte Gedankenspielerei der Philosophen zu neuem Leben erweckt.“

„Ja, ich verstehe. Dann sollte die Katze allerdings nicht hungrig werden, solange er schläft und nicht gerade davon träumt, daß sie sich auf einer anstrengenden und vergeblichen Mäusejagd befindet.“

„Genau zu diesem Schluß kam Bertrand Russell auch. Er meinte, es sei doch viel einfacher, anzunehmen, daß die Katze wirklich existiere und deshalb hungrig werde, auch wenn er nicht an sie denke und sie nicht beobachte. Daß sie nur in seiner Vorstellung existiere, sei zwar nicht eindeutig zu widerlegen, aber es gebe auch keinerlei gute Gründe für eine derartige Spekulation.“

„Lustig, daß eine Katze für den gesunden Menschenverstand sorgt.“

„Na, immerhin notierte schon Lichtenberg: ‚Da saß nun der große Mann und sah seinen jungen Katzen zu.‘ Er scheint – wie so manches andere – auch die philosophische Karriere der Katze vorausgeahnt zu haben. Berkeley allerdings hätte sich von Russells geradliniger Denkweise nicht aus dem Konzept bringen lassen. Für ihn setzte die bloße Existenz einer wahrnehmbaren Welt einen unendlichen Geist voraus, war ihm Gottesbeweis. Daß der Hunger der Katze wächst, während ihr Besitzer schläft, hätte ihm nicht als Beweis für den Realismus gegolten: war doch die Idee der Katze die ganze Zeit in Gottes Geist vorhanden. Die Helfershelfer der Gottlosigkeit, sagt er, sollten nur versuchen, sich vorzustellen, wie irgend etwas unabhängig von einem Geist existieren könne, und sie müßten ohne weiteres von ihrer Torheit überzeugt sein.“

Diese Unterhaltung liegt nun schon viele Jahre zurück. In der Zwischenzeit habe ich nicht etwa Philosophie, sondern ein anderes Fach studiert, das nach allgemeiner Meinung als praktisch nützlicher galt und mir gleichzeitig bessere Aussichten zu bieten schien, eine Art Studium generale zu verwirklichen und trotzdem eine wirtschaftlich zufriedenstellende Existenz zu erlangen. Danach war ich ohne größere Pause ins Berufsleben eingetreten. Meine Besuche bei Onkel Curioso und Tante Sapientia waren notgedrungen seltener geworden, obwohl wir uns unsere gegenseitige Zuneigung ebenso bewahrt hatten wie unser philosophisches Interesse (wenn ich mich auch darin mit den beiden nicht messen konnte).

Nun saßen wir also am Freitagabend bei Tisch, und Tante Sapientia hatte zur Feier meines Besuches Huhn mit Fenchelgemüse gekocht, eine ihrer Spezialitäten, die sowohl Vorurteile über gebratene Hühner als auch die einsichtigsten philosophischen Betrachtungen über den moralischen Wert des Vegetarismus erheblich relativieren konnten. Sie hatte ihre Freude daran, daß es mir schmeckte.

„Sag einmal, Manfred“, fragte sie mich, nachdem der erste Hunger gestillt war, „erinnerst du dich eigentlich daran, wie dir Curioso vor Jahren die Geschichte von Bertrand Russells Katze erzählt hat?“

„Ja natürlich, ich habe es seither immer mit der vom großen Bertie bekundeten Einstellung gehalten, die üblichen Glaubenssätze des gesunden Menschenverstands, wenn schon nicht in der Theorie, so doch in der Praxis zu akzeptieren. Und so hat auch der Gedanke, daß ich – um ein Bild Diderots für den Solipsismus zu gebrauchen – ein Cembalo sein könnte, das solo spielt, seit dieser Geschichte keine Versuchung mehr für mich bedeutet.“

„Bei allem Pragmatismus“, bemerkte daraufhin Onkel Curioso, „hat Bertrand Russell aber auch ganz andere Sachen von sich gegeben, so etwa, daß der Wert der Philosophie in der Ungewißheit liege, die sie mit sich bringe, und daß derjenige, der niemals eine philosophische Anwandlung gehabt habe, wie in einem Gefängnis in den Vorurteilen des gesunden Menschenverstands und den vorherrschenden Meinungen seines Zeitalters und seiner Nation eingeschlossen sei. Apropos, habe ich dir damals eigentlich erzählt, wie er auch das Huhn zum philosophisch respektablen Tier gemacht hat?“

„Nicht, daß ich mich daran erinnern könnte“, sagte ich. „Aber jetzt hast du mich natürlich neugierig gemacht und mußt mir diese Hühnergeschichte auch erzählen!“

„Also gut. Da läuft ein Huhn auf dem Bauernhof herum, und jeden Tag kommt der Bauer und streut ihm Futter aus. Was also denkt sich das Huhn und denkt es sich mit jedem Tag mehr? Der Bauer meint es gut mit mir, er ist ein echter Wohltäter.“

„Und eines Tages hackt er ihm den Kopf ab, und es kommt in die Suppenschüssel.“

„Ja genau, da endet auch Bertrand Russells Huhn. So viel, meint er, könnte auch unsere Erfahrung taugen. Vielleicht erfassen wir damit die Welt auf eine ebenso beschränkte Weise wie jenes Huhn und verstehen unsere wahre Rolle in dem Schauspiel überhaupt nicht.“

„Keine schlechte Geschichte. Aber welche Konsequenz sollen wir daraus ziehen? Wir können doch nicht mehr tun, als unsere Erfahrung immer wieder kritisch zu prüfen und so unsere Erkenntnis so weit wie möglich voranzutreiben. Ich sehe in der Geschichte jedenfalls keinen Grund für einen radikalen Erkenntnisskeptizismus oder für Resignation. Und schon gar nicht sehe ich darin eine Rechtfertigung für irgendwelche wilden Spekulationen, die uns angeblich die Erleuchtung über das wahre Wesen der Welt bringen sollen.“

„Du hast schon recht“, sagte Tante Sapientia. „Aber ein Argument gegen einen kurz angebundenen, naiven Realismus ist die Geschichte allemal, mag das auch nicht mehr sonderlich originell erscheinen. Vielleicht hätte einem besonders klugen Huhn ja eines Tages auffallen können, daß die Bauersfrau von Zeit zu Zeit mit einem seiner Mithühner unter dem Arm verschwand und dieses dann nie mehr gesehen wurde. Und es hätte so sein Schicksal wenigstens verstanden und vorhergesehen, auch wenn es ihm nicht hätte entrinnen können.“

„Oh, so ein Huhn könnte sein Schicksal vielleicht schon verändern, wenn es den anderen von seinen Überlegungen berichten könnte und wollte.“

„Jetzt komm aber, Onkel Curioso, du denkst doch wohl nicht an einen Aufstand im Hühnerhof“, warf ich ein.

„Nein, ich dachte daran, daß ihm die anderen Hühner nicht glauben würden – ‚der Prophet gilt nichts im eigenen Stall‘ – und es sogar zu Tode hacken könnten, weil es den Glauben an ihren Wohltäter untergrabe und diesen in den Schmutz ziehe.“

„Nicht sonderlich originell, kommt mir irgendwie bekannt vor“, bemerkte Tante Sapientia. „Dein schlaues Huhn ist wohl aus einer Höhle gestiegen.“

„Was soll jetzt das wieder? Ich habe noch nie von Hühnern gehört, die in Höhlen leben.“

„Weißt du, Manfred, ich glaube, sie spielt auf den ersten Akademiker mit seinem Höhlengleichnis an. Ich gebe ja zu, Sapientia, daß ich ein wenig gestohlen habe. Ich dachte, du merkst es nicht gleich, weil das geistige Diebesgut schon 2400 Jahre alt ist.“

„Also wieder Tucholsky: ‚Es gibt keinen Neuschnee‘“, sagte ich.

„Na ja, das meiste, was wie Neuschnee aussieht, ist in der Tat Schnee von gestern“, lachte Onkel Curioso. „Aber wenn wir die Sache einmal ernsthaft betrachten, dann ist es doch so: Die Menschen haben zwar eine Neigung, diejenigen ihrer Mitmenschen anzufeinden und im Extremfall sogar zu töten, die imstande sind, aus der Höhle des vorherrschenden Wissens und der vorherrschenden Überzeugungen ihrer Zeit auszubrechen. Aber wenn solche Avantgardisten es erst einmal geschafft haben, ihre Ansichten auch nur ein wenig bekannt zu machen, dann gibt es für die Menschheit als Ganzes auf Dauer keinen Weg zurück mehr in die alte Höhle. Eine Mehrheit läßt sich vielleicht noch für lange Zeit (und sogar ‚freiwillig‘) an die Höhlenwände fesseln, aber die Rufe derjenigen, die draußen – oder jedenfalls in einer größeren Höhle mit mehr Öffnungen – herumlaufen, verstummen nicht mehr.“

„Ja“, sagte Tante Sapientia, „und vor allem dürfen wir nicht zu früh aufhören, wenn wir in Platons ‚Politeia‘ lesen. Er hatte nämlich gar nichts dafür übrig, daß nun diejenigen, die es zu etwas mehr Erkenntnis gebracht haben, sich darauf etwas zugute tun und daß sie sich in ihrer etwas größeren Höhle amüsieren und sich über die Gefangenen in der kleineren da unten lustig machen. ‚Ihr müßt also nun wieder herabsteigen zu der Wohnung der übrigen und euch mit ihnen gewöhnen, das Dunkle zu schauen‘, so oder so ähnlich sagte er. Man sollte also erst einmal auf die Zurückgebliebenen Rücksicht nehmen und verstehen, warum sie immer noch so denken wie früher. Platon plädierte zwar dafür, nur Auserwählte, die zur Führung des Staates berufen seien, auf eine höhere Stufe zu führen und sie zur Erkenntnis des Wahren und Guten anzuleiten. Aber auch hier geht es dann wie mit Schopenhauers respektive Goethes Besen.“

„Jetzt reicht’s aber, Tante Sapientia“, rutschte es mir heraus. „Da kramst du schon wieder so einen philosophischen Haushaltsgegenstand hervor. Und ich weiß noch nicht einmal, was es mit Russells chinesischer Teekanne auf sich hat. Vielleicht sollte Onkel Curioso doch die Güte haben, mir zuerst einmal die Geschichten zu erzählen, die er mir schon seit langem schuldig ist.“

„Schimpf nicht“, sagte Onkel Curioso lächelnd. „Macht doch Spaß, so vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen und doch nicht ganz ziellos herumzuirren. Also hör dir an, warum ein Besen philosophischer sein kann als ein Fiaker: ‚Das Gesetz der Kausalität‘, sagt Schopenhauer – und er hätte auch sagen können: das kritische Denken –‚ ‚ist also nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen wie ein Fiaker, den man, angekommen, wo man hingewollt, nach Hause schicket. Vielmehr gleicht es dem von Goethes Zauberlehrling belebten Besen, der, einmal in Aktivität gesetzt, gar nicht wieder aufhört zu laufen und zu schöpfen.‘“

„Ich versteh’ schon – war also nichts mit der Reservierung der Aufklärung für die staatstragenden Kräfte und ihrer Beschränkung auf das politisch erwünschte Maß, wie sich das Platon gedacht hatte.“

„Genau, allerdings bleibt die Frage, wie weit wir es selbst dann bringen können, wenn wir Erkenntnis und Wissen nach Kräften allen Menschen zugänglich machen wollen, die imstande sind, sie aufzunehmen. Denn in irgendeiner Weise bleiben wir immer in einer Höhle, in ‚der Höhle unserer Idole‘. Wenn wir dem philosophisch veranlagten Lordkanzler König James’ I. folgen, dann geht es uns mit dieser Höhle so ähnlich wie mit der russischen Puppe in der Puppe.“

„Ich versteh’ allmählich überhaupt nichts mehr“, sagte ich.

„Na, so schwer ist das nicht zu verstehen“, fuhr Onkel Curioso fort. „Francis Bacon hat das Höhlengleichnis im Jahre 1620 auf seine Weise fortgeführt: Nur den Ideen des göttlichen Geistes billigte er zu, wahre und vollkommene Erkenntnis zu erreichen. Uns Menschen aber stehe nur mit Mühe ein Zugang zur Wahrheit offen, denn unser Verstand werde von ‚Idolen‘ gefangen gehalten. Erstens den Idolen des Stammes, die in der menschlichen Natur selbst begründet liegen, so daß alle Wahrnehmungen der Sinne wie des Geistes nach dem Maß der Natur des Menschen, nicht nach dem des Universums geschähen. Zweitens den Idolen der Höhle, also jenen Einflüssen und Deformierungen, die aus den individuellen Veranlagungen und Erfahrungen auf die Erkenntnis wirken: ‚Denn ein jeder hat (neben den Abirrungen der menschlichen Natur im allgemeinen) eine Höhle oder eine gewisse nur ihm eigene Grotte, welche das Licht der Natur bricht und verdirbt.‘ Drittens den Idolen des Marktes, die sich aus unseren gesellschaftlichen, vor allem aber sprachlichen Gepflogenheiten ergeben: ‚Die Worte werden den Dingen nach der Auffassung der Menge beigeordnet. – Die Worte tun dem Verstand offensichtlich Gewalt an und verwirren alles. Sie verführen die Menschen zu leeren und zahllosen Streitigkeiten und Erdichtungen.‘ Viertens den Idolen des Theaters, nämlich den verschiedenen dogmatischen Behauptungen philosophischer und wissenschaftlicher Denkschulen, welche durch Tradition, Nachlässigkeit und Leichtgläubigkeit für gültig gehalten werden. ‚Diese nenne ich die Idole des Theaters: denn so viele Philosophien angenommen oder erfunden worden sind, so viele Fabeln sind nach meiner Auffassung damit geschaffen und für wahr unterstellt worden …‘ So gleicht der menschliche Verstand ‚einem Spiegel, der die strahlenden Dinge nicht aus ebener Fläche zurückwirft, sondern seine Natur mit der der Dinge vermischt, sie entstellt und schändet.‘“

„Wenn unsere Erkenntnisfähigkeit durch so viele Dinge beeinträchtigt ist, dann stelle ich mir allerdings die Frage, ob wir nicht jenen Männern gleichen, die im Dunkeln einen Elefanten beschreiben sollen.“

„Oho“, sagte Onkel Curioso, „sieh sich einer den Youngster an, jetzt kommt er schon mit Geschichten, die nicht mal ich kenne.“

Also durfte ich ganz stolz „meine“ Geschichte erzählen, eine Geschichte, die nicht nur von unseren rosaroten oder sonstwie gefärbten Brillengläsern, von unseren Scheu- oder gar Augenklappen handelt. Nein, man kann sie auch – wie Erich Fromm – dazu benutzen, die Menschen zur Toleranz gegenüber den Anschauungen anderer aufzurufen: Drei Männer werden aufgefordert, im Dunklen einen Elefanten zu beschreiben. Der eine, der den Rüssel berührt, sagt: „Dieses Tier ähnelt einer Wasserpfeife.“ Ein anderer, der das Ohr des Elefanten berührt, sagt: „Dieses Tier ähnelt einem Fächer.“ Und der dritte, der ein Bein des Elefanten abtastet, beschreibt das Tier als eine Säule. „Oh, die Geschichte kenne ich doch schon“, bemerkte Onkel Curioso zu meiner Enttäuschung. „Da hat der gute Erich Fromm den Geschichtenfundus Buddhas geplündert. Ein schönes Beispiel übrigens dafür, wie sich Geschichten beim Weitererzählen verändern. In der Version, die ich kenne, ruft nämlich der König von Benares zu seiner Zerstreuung drei von Geburt an blinde Bettler zusammen und setzt ihnen einen Preis für die beste Beschreibung eines Elefanten aus. Statt des Rüssels erwischt der eine den Schwanz und sagt, der Elefant sei wie ein Seil. Derjenige, der das Ohr ergreift, beschreibt es als Palmenblatt und nicht als Fächer. Und der dritte schließlich, der an das Bein gerät, spricht von einem Baumstamm und nicht von einer Säule. Die Bettler streiten dann, und der König ist belustigt.“

„Also selbst über die Dinge, die uns unmittelbar handgreiflich sind, können wir Menschen noch zu ganz unterschiedlichen Auffassungen kommen“, sagte ich.

„Allerdings“, antwortete Onkel Curioso. „Viel gefährlicher als der Streit der blinden Bettler sind jedoch die Auseinandersetzungen derjenigen unter uns, die meinen, sie seien selbst ein großer König oder Buddha, der den Elefanten gefangen habe. Und nun seien sie aufgrund des großen Überblicks und der alleinseligmachenden Erkenntnis, die sie besäßen, berechtigt oder verpflichtet, diese anderen Menschen aufzuzwingen. Und so ist diese Geschichte leider nicht notwendigerweise ein Aufruf zur Toleranz – es ist alles eine Frage der Interpretation.“

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