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Im Frieling-Verlag Berlin erschienen von Diethard Volker Klann bereits folgende Bücher:

Hinein in die Nacht. Gedichte (ISBN 978-3-8280-3036-7)

Die Welt als Ewig-Gleiches und Ewig-Bewegtes. Entwurf einer allgemeinen, zeitlosen Philosophie (ISBN 978-3-8280-3037-4)

Den Kreis durchlaufen … Gedanken und Aphorismen (ISBN 978-3-8280-3038-1)

Der Staat Nous. Roman (ISBN 978-3-8280-3152-4)

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht den Regeln der alten Rechtschreibung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Telefon: 0 30 / 76 69 99-0

www.frieling.de

ISBN 978-3-8280-3287-3

1. Auflage 2015

Umschlaggestaltung: Michael Reichmuth unter Verwendung einer Grafik des Autors

Sämtliche Rechte vorbehalten

Inhalt

Einleitende Stellungnahme des Herausgebers

Da meine Herausgeberschaft es mit sich bringt, daß man mich fortan und für immer mit dem dieser einleitenden Stellungnahme folgenden Text in Verbindung bringen wird, will ich gleich zu Anfang darauf hinweisen, daß ich weder an der Niederschrift dieses Textes beteiligt war noch in irgendeiner Weise Einfluß auf seine Niederschrift genommen habe. Somit bin ich auch nicht verantwortlich für die Inhalte dieses Textes und weise eine solche Verantwortlichkeit strikt zurück.

Mein Leben wird als ein wahrhaft außergewöhnliches zu gelten haben, was vermutlich auch daran liegt, daß ich in ihm oft wahrhaft außergewöhnlichen Menschen begegnet bin. Einer von ihnen war Martin de Merveille, der Autor des Textes, auf den sich dieses Vorwort bezieht. Um die Umstände, unter denen ich Martin de Merveille traf, verständlich zu machen, ist es vorab nötig, einige biografische Details von mir selbst bekanntzugeben.

Ich wurde 1958 geboren und hatte von 1987 bis 2012 meinen ständigen Wohnsitz in Sri Lanka. Dort besaß ich ein Strandhaus in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt Colombo sowie eine Kokosnußplantage, gelegen in einer ländlichen Gegend, rund drei Stunden Fahrt von Colombo entfernt. Je nach Umständen und Jahreszeit hielt ich mich entweder in meinem Strandhaus nahe der Hauptstadt oder auf meiner Plantage auf. Im Jahre 2012 verlor ich durch unglückliche Umstände (die zu schildern hier zu weit führen würde) meine Kokosnußplantage und sah mich hierdurch gezwungen, nach Deutschland zurückzukehren.

Martin de Merveille hatte ich noch zu meiner Zeit in Sri Lanka zum ersten Mal getroffen und näher kennengelernt, und zwar auf folgende Art: Als ich am Abend eines heißen Tages im Jahre 2006 Abkühlung und Erfrischung suchte, indem ich am Meer nahe meines Strandhauses spazieren ging, fiel mir ein Europäer und somit Nicht-Einheimischer auf, der eingeschlafen auf dem Sand des Strandes lag und dessen Alter ich auf etwa 40 Jahre schätzte. Unmittelbar neben ihm lief ein Abwasser führendes Rinnsal ins Meer, das mir wohlbekannt war und von dem ich wußte, daß es in dem weichen Sand des Strandes oft seinen Kurs wechselte. Da ich aber wahrnahm, daß das Rinnsal dabei war, seinen Lauf in Richtung auf den Schlafenden hin zu ändern, hielt ich es für angeraten, diesen zu wecken, um ihn davor zu warnen, daß er sich schon bald in unreinem Abwasser wiederfände, wenn er an Ort und Stelle bliebe.

Diesem Gedanken gemäß handelte ich. Nachdem ich den Schlafenden geweckt und ihn angesprochen hatte, stellte ich fest, daß er Deutscher war wie ich. Als ich mich danach erkundigte, warum er hier am Strand und nicht in seinem Hotelzimmer schlafe, sagte er mir, daß er kein Hotelzimmer habe, weil er sich aus Mangel an Geld ein solches nicht leisten könne. Hierauf fragte ich ihn, wie es denn dazu gekommen sei, daß, nachdem er offensichtlich die teure Flugreise nach Sri Lanka habe bezahlen können, er jetzt nicht einmal mehr ausreichend Geld habe, um sich ein Hotelzimmer zu mieten.

Auf diese Frage erhielt ich eine Antwort, die sehr mich verwirrte und wie folgt lautete: „Ich war in Deutschland noch bis vor einigen Tagen laut richterlichem Beschluß in einer psychiatrischen Anstalt eingesperrt gewesen, aus der ich entkam. Um von der Polizei nicht bald schon wieder eingefangen und in die besagte Anstalt zurückgebracht zu werden, sah ich mich gezwungen, Deutschland schnellstens zu verlassen. Dies tat ich, indem ich am nächsten Flughafen den erstbesten Flug ins Ausland nahm und ihn mit meinem letzten Geld bezahlte. Zufällig aber handelte es sich bei diesem Flug um einen, der nach Sri Lanka ging. Hier im Land angekommen, hatte ich dann gerade noch das nötige Kleingeld, um einen Bus zu dem Strand zu nehmen, wo Sie und ich uns jetzt befinden und miteinander reden.“

Meine erste Reaktion auf diese ungewöhnliche Antwort bestand darin, daß ich mich schon bald von dem Mann trennte und ihn dort zurückließ, wo er war. Als ich mich jedoch in mein Strandhaus zurückbegeben und dort geraume Zeit nach Mitternacht immer noch keinen Schlaf gefunden hatte, begannen sich in mir Gewissensbisse zu regen, wenn ich daran dachte, daß ich als Deutscher einen mittel- und obdachlosen Landsmann ohne Hilfe gelassen hatte, obwohl es mir selbst gut ging und ich durchaus in der Lage war, ihm zu helfen.

Daher begab ich mich trotz der späten Stunde nochmals an die Stelle am Stand, wo ich ihm begegnet war, und stellte fest, daß er ein wenig weiter abseits des erwähnten Rinnsals als zuvor flach auf dem Sand des Strandes lag. Er schlief jedoch nicht, sondern blickte mit erhobenem Kopf auf das Meer vor sich.

Nachdem ich ihm erklärt hatte, daß es, allzumal für einen Europäer, nicht sicher sei, am Strand zu schlafen, weil sich dort spätnachts allerlei zwielichtiges Gesindel herumtreibe, lud ich ihn ein, die Nacht bei mir in meinem Haus zu verbringen. Er nahm diese Einladung umgehend an, unverkennbar nicht zuletzt deswegen, weil die Mücken ihm arg zugesetzt hatten und allein schon von daher der Strand für ihn als Schlafstätte nicht in Frage kam.

Auf dem Weg zu meinem Haus fragte ich ihn, aus welchem Grund er laut richterlichem Beschluß in einer psychiatrischen Anstalt eingesperrt gewesen sei. Er beantwortete diese Frage kurz und bündig mit den Worten: „Weil ich meine Eltern tätlich angegriffen habe.“

Als Reaktion auf diese Antwort fing ich es insgeheim an zu bereuen, ihn in mein Haus eingeladen zu haben. Dennoch wollte ich jetzt diese Einladung, wo ich sie einmal ausgesprochen hatte, nicht wieder zurückziehen.

Als aber die Nacht, die er im Gästezimmer meines Hauses zugebracht hatte, vorüber war und ich ihm bei einem gemeinsamen Frühstück gegenübersaß und ihn endlich im hellen Licht des Tages sah, verloren sich alle Bedenken, die ich ihn betreffend gehegt hatte. Denn abgesehen davon, daß er nicht im mindesten gewalttätig wirkte, nahm er sich auch generell wie ein kluger und vernünftiger Mann aus. Ich wußte es mir von daher gar nicht zu erklären, daß er wegen eines tätlichen Angriffs auf seine Eltern zwangsweise in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert worden war, aus der er sich durch Flucht gerettet hatte.

Da er jedenfalls zumindest vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren konnte und zugleich auch keinerlei Mittel hatte, um in Sri Lanka seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, machte ich ihm das Angebot, mit mir auf meine Kokosnußplantage zu kommen und dort in einem alten Haus zu leben, das gegenwärtig unbewohnt war. Als Gegenleistung verlangte ich lediglich, daß er sich gelegentlich bei der Bewirtschaftung der Plantage nützlich mache.

Wie nicht anders zu erwarten, nahm er dieses Angebot an, und so ergab es sich, daß er ein knappes Jahr bei mir auf meiner Kokosnußplantage in einem alten, ehemaligen Verwalterhaus ohne Strom und fließendes Wasser lebte. Um nachts Licht zu machen, zündete er Öllampen an, und um sich zu waschen, ging er zu einem nahen Brunnen. Er war hierbei aber offenbar immer guter Dinge und schien unter dem Mangel an Luxus nicht zu leiden.

Seltsam war es, daß er des Nachts auf der Plantage herumging (oder soll ich sagen „herumgeisterte“?), die erste Hälfte eines jeden Tages verschlief und sich nie vor dem Nachmittag blicken ließ. Da aber in Sri Lanka der nächtliche Diebstahl von Kokosnüssen ein weit verbreitetes Delikt ist, von dem auch meine Kokosnußplantage betroffen war, erwies sich das besagte Nachtwandeln als durchaus nützlich, da es im Ergebnis immer auch auf einen nächtlichen Wachdienst hinauslief. Insofern ließe sich also sagen, daß mein neuer Freund für mich als Nachtwächter tätig geworden war.

Während des knappen Jahres, das so er auf meiner Plantage zubrachte, ließ er mich kaum etwas über sich und seine privaten Verhältnisse wissen. Aus einigen Bemerkungen, die von ihm mehr oder weniger zufällig kamen, erfuhr ich nur so viel, daß seine Heimatstadt in Deutschland das niedersächsische Vechta sei, wo sein Vater eine große und gut gehende Maschinenfabrik betreibe. Seine Mutter entstamme einer adeligen Hugenottenfamilie und sei so stolz auf ihre Abstammung gewesen, daß sie es bei der Eheschließung mit seinem Vater durchgesetzt habe, daß nicht der väterliche Familienname, sondern ihr Familienname, d. h. „de Merveille“, der gemeinsame Name des Ehepaars geworden sei. Auch sei es die Mutter gewesen, die „Martin“ als Vornamen für ihn ausgewählt habe, weil dieser Name außer in Deutschland auch in Frankreich gebräuchlich war und gut zu dem Nachnamen „de Merveille“ paßte.

Dies sind die einzigen Informationen rein persönlicher Art, die mein Freund Martin de Merveille mir jemals von sich gab. Nachdem ich im Jahr 2012 Sri Lanka verlassen hatte und nach Deutschland zurückgekehrt war, stieß ich dort allerdings auf nichts, das diese bestätigt hätte, weshalb ich jetzt im nachhinein nicht sicher sein kann, ob sie den Tatsachen entsprachen oder bloße Erfindungen waren. Da ich nicht über die Mittel verfüge, um gründlich und intensiv Nachforschungen anzustellen, muß ich diese Frage letztlich offenlassen.

Weiterhin habe ich vom Verhalten meines Freundes während seines Aufenthalts auf meiner Kokosnußplantage zu berichten, daß er an den Nachmittagen viel Zeit damit zubrachte, schriftliche Aufzeichnungen zu machen, was mich schon bald zu der Annahme veranlaßte, daß er ein Buch schreibe. Befragte ich ihn jedoch hierüber, erhielt ich von ihm keine Antwort. Nur einmal erwiderte er mir auf eine meiner diesbezüglichen Fragen: „Ich schreibe kein Buch, sondern ich bekomme eines von jemandem diktiert.“ Diese Worte waren freilich eher dazu angetan, mich zu verwirren, anstatt mir Klarheit über seine schriftstellerischen Tätigkeiten zu gewähren.

Nachdem Martin de Merveille bereits ein knappes Jahr unter den oben beschriebenen Umständen bei mir auf meiner Kokosnußplantage als Nachtwächter tätig gewesen war, teilte er mir eines Tages mit, daß er beabsichtige, Sri Lanka zu verlassen und sich nach Französisch-Polynesien zu begeben, wo er sich dauerhaft niederlassen wolle. Diesbezüglich erbitte er von mir weiter nichts als die zur Durchführung dieses Vorhabens nötigen Reisekosten. Als ich ihn fragte, warum er Sri Lanka zugunsten von Französisch-Polynesien aufgeben wolle, antwortete er mir: „Weil es auf der Welt keinen zweiten Ort gibt, wo das Dasein so angenehm und leicht ist wie dort. In Französisch-Polynesien gibt es Inseln, noch völlig frei von Insekten, auf denen man nur vom Fischfang und von Früchten leben kann, die, sobald reif sie geworden sind, einem von ihrem jeweiligen Baum herunter vor die Füße fallen.“

Diese Sätze kamen mir zwar unrealistisch vor, da aber mein Freund sie offenbar für durchaus realistisch hielt, widersprach ich ihm nicht aus Respekt für ihn und seine Entscheidung. Außerdem willigte ich ein, ihm die besagten Reisekosten zur Verfügung zu stellen, als Bezahlung für seine nächtlichen Wachdienste.

Bevor Martin de Merveille mich jedoch endgültig verließ, wandte er sich noch mit einem besonderen Anliegen an mich. Er hatte seine vielen Aufzeichnungen ins Reine geschrieben, so daß sie nunmehr in der Tat zu einem brauchbaren Manuskript geworden waren. Zu diesem hatte er sogar ein Titelbild entworfen, das ein kleines Kind darstellte, das anstatt eines Kopfes ein großes Auge hatte und auf das von oben her ein Mann und eine Frau einschlugen.

Mein Freund fragte mich, ob ich für den Fall, daß ich fünf Jahre lang keine Nachricht von ihm erhielte, bereit wäre, dieses Manuskript durch einen Verleger als Buch veröffentlichen zu lassen. Ich antwortete ihm, daß ich durchaus bereit sei, einen entsprechenden Versuch zu unternehmen, für den Ausgang aber nicht bürgen könne, da meine Lage mir lediglich erlaube, einigen Verlegern das Manuskript anzubieten, nicht aber sie zu zwingen, es anzunehmen.

Martin de Merveille war mit dieser Antwort zufrieden. Hierauf begab ich mich auf seinen Wunsch hin zusammen mit ihm zu einem Notar, wo wir alle dazu nötigen rechtlichen Formalitäten abwickelten, daß in fünf Jahren sämtliche Rechte an dem von ihm verfaßten Manuskript an mich fielen, sofern er vor Ablauf dieser Frist hiergegen nicht schriftlich Widerspruch einlege.

Kurze Zeit später verließ mich mein Freund, um geraume Zeit oder womöglich sogar den Rest seines Lebens auf einer paradiesischen Insel in Französisch-Polynesien zu verbringen. Da er mir inzwischen sehr vertraut geworden war, verursachte der Abschied von ihm mir Kummer, ich tröstete mich aber damit, daß er vielleicht eines Tages zu mir auf meine Kokosnußplantage zurückkäme.

Was aber ist der Mensch, daß er sich erdreistet, Dinge für sicher zu halten? Für immer am gleichen Ort zu bleiben und dort auf eine etwaige Rückkehr meines Freundes zu warten, gönnte mir das Schicksal nicht. Ungefähr zur gleichen Zeit, als die oben erwähnte Frist von fünf Jahren abgelaufen war, verlor ich durch unglückliche Umstände meine Kokosnußplantage und mußte darum nach Deutschland zurückkehren.

Dort nahm ich zum ersten Mal das mir anvertraute Manuskript, welches ich aus Sri Lanka mitgebracht hatte, zur Hand und las es aufmerksam. Anschließend erfüllte ich gern den Wunsch meines Freundes, sein Manuskript nach Möglichkeit durch einen Verleger veröffentlichen zu lassen, da dessen Lektüre mich tief beeindruckt hatte. Da von Martin de Merveille dem Manuskript zwar ein Titelbild, aber kein Titel beigegeben worden war, schlug ich gegenüber den Verlegern als Titel vor: „Das Manuskript des Martin de Merveille“. Das so entstandene Buch empfehle ich jedermann in gutem Glauben, da sein Inhalt Einblicke in zumeist nicht wahrgenommene Bereiche des Menschlichen gewährt und sich somit viel aus ihm lernen läßt.

Ob ich Martin de Merveille je wiedersehen werde, ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Vielleicht wird er (falls dies nicht sogar schon geschehen ist) eines Tages nach Sri Lanka kommen, mich dort suchen und mich nicht mehr finden. Möglich wäre außerdem, daß er eines Tages nach Deutschland zurückkehrte, wo er mich suchen würde oder auch nicht und mich finden würde oder auch nicht – ich drücke mich deswegen so vorsichtig und unbestimmt aus, weil eine Lehre, die ich aus meinem bewegten und außergewöhnlichen Leben ziehe, darin besteht, daß es uns Menschen nicht gegeben ist vorherzusehen, was geschehen wird, und wir daher immer auf das Unerwartete gefaßt sein müssen.

Diethard Volker Klann

Berlin, März 2013

Vorwort

Es ist ein gleichermaßen beliebter wie traditionsreicher Brauch, Menschen, die es wagen, die Wahrheit zu sagen, zu verfolgen, zu foltern und sogar ans Kreuz zu schlagen.

Wir Modernen haben es nicht gerne, wenn wir auf diese, unsere Gewohnheit hingewiesen werden. Bei solchen Gelegenheiten fühlen wir uns in unserem Stolz verletzt und beteuern, daß es bei uns keinerlei Unterdrückung der Wahrheit gebe. Wir weisen darauf hin, daß jeder frei in Wort und Schrift seine Meinung kundtun darf. Schließlich sind wir aufgeklärt und tolerant und das finstere Mittelalter liegt weit hinter uns.

Auf den ersten Blick scheinen unsere diesbezüglichen Beteuerungen auch tatsächlich der Wahrheit zu entsprechen. Anders als im Mittelalter kann heutzutage jeder Philosoph und Theologe frei seine Meinung zum Ausdruck bringen und publizieren. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man Fälle, in denen auch im Hier und Jetzt Menschen aus keinem anderen Grund verfolgt werden als dem, daß sie die Wahrheit sagen.

Ich denke hierbei beispielsweise an die Personen, die in psychiatrischen Nervenheilanstalten eingesperrt sind. In ihren Symptomen tun sie nichts anderes, als über die in früher Kindheit an ihnen begangenen Verbrechen genau und wahrheitsgetreu zu berichten. Und ebendieser Wahrheit wegen inhaftiert man sie und foltert sie sogar. Erst wenn sie darauf verzichten, auf dem Wege ihrer Symptome die Wahrheit über sich zu berichten, können sie hoffen, als „geheilt“ wieder in Freiheit gesetzt zu werden.

Dies erscheint paradox. Ein Philosoph, der durch ein einziges Buch unter Umständen eine ganze Gesellschaftsordnung ins Wanken bringen kann, darf dieses Buch frei veröffentlichen. Berichtet aber ein psychisch Kranker in seinen Symptomen über seine ganz persönliche Wahrheit, die doch nur ihn allein betrifft und wohl niemals eine ganze Gesellschaftsordnung umstoßen könnte, sperrt man ihn ein und foltert ihn so lange, bis er es aufgibt, die Wahrheit zu sagen.

Dies ist in der Tat ein Paradox. Denn selbst wenn es sich wirklich so verhält, daß ein gewisser Prozentsatz der psychisch Kranken aus Gründen der allgemeinen Sicherheit eingesperrt werden muß, erklärt dies immer noch nicht, warum man diese Personen nach bereits erfolgter Inhaftierung durch grausame Foltermethoden (die in der Regel nicht einmal ein psychisch Gesunder ertragen könnte) am Mitteilen ihrer Wahrheit hindert. Lebten wir aber – wie viele meinen – in einer Gesellschaft, welche die Wahrheit in all ihren Erscheinungsformen erlaubt und hochschätzt, müßten wir psychisch Kranken, anstatt ihre Symptome gewaltsam zu unterdrücken, mit Respekt und Aufmerksamkeit zuhören.

Ganz offensichtlich messen wir an diesem Punkt also mit zweierlei Maß: Es gibt Wahrheiten, die wir ganz selbstverständlich zulassen, und Wahrheiten, die wir aufs Grausamste unterdrücken. Wie erklärt sich das?

Die Antwort auf diese Frage ist schnell gefunden, wenn man sich die grundlegende Beschaffenheit des menschlichen Geistes vergegenwärtigt. Er besteht aus zwei Instanzen, dem Denken und dem Fühlen oder – wie es wissenschaftlich heißt – dem Intellekt und der Emotion. Hierbei gilt, daß die Emotion darüber entscheidet, was wir tun, während der Intellekt bestimmt, wie wir es tun. Da aber in allen Dingen das Was und nicht das Wie den entscheidenden Faktor darstellt, ist ein hohes emotionales Niveau zweifellos ungleich wichtiger als ein hohes intellektuelles Niveau.

Bei einem Blick auf die heutige Menschheit läßt sich aber leicht erkennen, daß wir intellektuell auf einem durchaus hohen Niveau sind, während wir uns emotional noch im finsteren Mittelalter befinden. Dies wird sofort deutlich, wenn man sich die eigentlichen Inhalte ganz alltäglicher Aussagen über emotionale Tatbestände veranschaulicht. Hören wir von Krieg und Gewalt, sagen wir beispielsweise gerne: „Der Mensch wird von destruktiven Trieben beherrscht.“ Was aber heißt – auf die Grundprämisse zurückgeführt – ein solcher Satz anderes als „Der Mensch wird vom Teufel und von bösen Dämonen beherrscht“? Der Ausdruck „destruktiver Trieb“ gibt somit tatsächlich eine eindeutig spätmittelalterliche Mystifikation wieder, auch wenn er noch so modern, aufgeklärt und wissenschaftlich klingen mag.

Wie sehr es also nicht immer unseren Stolz verletzt, werden wir doch zugeben müssen, daß wir uns bei allem intellektuellen Fortschritt emotional noch im finstersten Mittelalter befinden. Dieselben Wissenschaftler, die mit intellektuell nicht zu überbietendem Scharfsinn Raketen, Computer und allerlei andere technische Mittel entwickeln, befinden sich im selben Moment emotional noch auf einem so furchterregend niedrigem Niveau, daß sie diese Erfindungen in einer Weise einzusetzen helfen, die letztlich den Fortbestand der ganzen Menschheit bedroht.

Das oben genannte Paradox und die sich daran knüpfenden Fragen sind nunmehr leicht aufzulösen und zu beantworten: Intellektuell ist der Mensch tatsächlich weit fortgeschritten und intellektuelle Wahrheiten werden kaum noch verfolgt. Emotional jedoch befinden wir uns noch im Mittelalter und emotionale Wahrheiten werden nach wie vor verfolgt. Philosophen oder Naturwissenschaftler, die eine intellektuelle Wahrheit aussprechen, dürfen dies frei und ohne Angst vor Strafe tun. Ein psychisch Kranker aber, der eine emotionale Wahrheit mitteilen will, wird mit allen Mitteln hieran gehindert. Die intellektuelle Wahrheit ist also erlaubt, während die emotionale Wahrheit noch wie im Spätmittelalter verfolgt wird.

Haben wir diese krasse Diskrepanz zwischen intellektuellem und emotionalem Niveau erst völlig durchschaut, werden viele bisher gänzlich unbegreifliche Übel der heutigen Welt plötzlich verständlich. Die großen Kriege, die Konzentrationslager, die Zerstörung natürlicher Umwelt und das über uns allen schwebende Damoklesschwert des jederzeit möglichen Weltuntergangs infolge einer ökologischen Katastrophe verlieren dann schlagartig ihre Rätsel. Solange wir nämlich nur rein intellektuell nach den Ursachen dieser Dinge fragten, konnten wir unmöglich zu einem Ergebnis gelangen. Wissen wir aber erst einmal, daß all diese Schrecken nicht Folgen unserer intellektuellen, sondern unserer emotionalen Unzulänglichkeit sind, fällt es leicht, ihr Zustandekommen widerspruchsfrei zu durchschauen.

Die Erkenntnis, daß die Menschheit, gemessen an ihrem hohen intellektuellen Niveau, ein schlechterdings unglaubliches emotionales Defizit aufweist, führt zwangsläufig zu einer Fülle neuer Einsichten. In ihrem Lichte sehe ich den Sinn des vorliegenden Buches nicht in einer intellektuellen Verbesserung der Menschheit. Eine solche ist auch nicht nötig, denn an ihr wird und wurde bereits ausreichend gearbeitet. Vielmehr erblicke ich meine Aufgabe darin, zum emotionalen Fortschritt der Menschheit beizutragen.

Mein Verfahren hierbei ähnelt in gewisser Weise dem des Galileo Galilei. Dieser stützte seine Erkenntnisse einzig auf empirische Fakten und geriet dadurch in Widerstreit mit der herrschenden Meinung, die sich auf mystisch-mittelalterliche Vorstellungen stützte. Aufgrund dieses Widerspruchs wurde Galilei verfolgt. Heute würde ihm dies nicht mehr passieren, denn die Menschheit hat inzwischen gelernt, intellektuelle Wahrheiten gelten zu lassen.

Was Galileo Galilei im Bereich des Intellektuellen tat, versuche ich im Bereich des Emotionalen vorzunehmen. Und so wie Galilei einmal verzweifelt ausrief, daß es nicht genüge, einzelne Fakten zu widerlegen, sondern daß man die Köpfe der Menschen umformen müsse, sehe auch ich meine Aufgabe nicht darin, einzelne Fakten zu beweisen oder zu entkräften. Meine Absicht ist vielmehr, im Bereich der Gefühle für Dinge, von denen jeder weiß und die allgemein bekannt sind, das Bewußtsein zu schärfen.

Ich stütze mich hierbei ausschließlich auf empirisch belegbare Tatsachen, die jederzeit auf dem Wege der Erfahrung leicht überprüfbar und für jedermann emotional nachvollziehbar sind. Ich bin mir darüber bewußt, daß ich dadurch in Widerspruch zur herrschenden Meinung gerate, die sich in Bezug auf die menschlichen Emotionen noch nahezu ausschließlich auf mystische Vorstellungen sehr primitiver Art stützt, die empirisch nicht zu belegen sind. Ich denke hierbei (um nur einige Beispiele zu nennen) an die Moral in all ihren Formen, die Lehre von Gut und Böse, an die „schöne“ oder „häßliche“ Seele, die Tugend(losigkeit), an „Schuld“ und „Sühne“, an die Theorie der konstruktiven und destruktiven Triebe usf. Diese Liste der mittelalterlichen Mystifikationen ließe sich noch mühelos verlängern. Auf mindestens einer von ihnen beruhen bis heute alle unsere Vorstellungen vom Gefühlsleben.

Da sich die Menschheit (ich nehme auch mich selbst nur sehr begrenzt aus) emotional noch auf einem sehr niedrigen Niveau befindet, muß ich sozusagen ganz am Anfang und bei den Ursprüngen beginnen. Ich betrachte mich daher nur als Vorläufer, nicht als Vollender.

Es gilt zunächst und vor allem, das menschliche Gefühlsleben zu entmystifizieren. Ich werde daher im folgenden rein autobiographisch die Geschichte meiner Kindheit erzählen, weil mir das die Möglichkeit gibt, Gefühle an ihrem Ursprung aufzuzeigen. Ich hoffe, daß es mir dadurch gelingen wird, am konkreten Beispiel den Beweis zu erbringen, daß unser Fühlen nicht aus den oben erwähnten mystischen Quellen stammt. Vielmehr ist unser Fühlen und das daraus resultierende Handeln nichts weiter als die natürliche Folge real erfahrener Begebenheiten aus der prägenden Lebensphase der frühen Kindheit.

Mein Ziel ist es darzustellen, wie von Natur aus ganz simple und einleuchtende Gefühle durch die Umwelt verändert und letztlich auf ein rundweg entartetes, perverses Niveau gezwungen werden. Dieses Verfahren, das sich jenseits aller Moral befindet und rein empirisch-nihilistisch ist, ermöglicht tiefen Einblick in die Entstehung emotionaler Störungen. Dies wiederum – so hoffe ich – wird Aufschluß über die allgemeinen Ursachen unseres ubiquitären emotionalen Defizits geben können.

Neue, noch nahezu unberührte Gebiete zu beschreiten, erfordert ganz automatisch, sich neuer Inhalte und Vorgehensweisen zu bedienen. Das in der Folge Dargestellte mag daher im ersten Moment etwas befremdend erscheinen. Dies liegt jedoch an der Neuartigkeit und Besonderheit des Themas und nicht an einer Eigenwilligkeit des Ausdrucks.

Wiederfindung

Das Kind ist der Vater des Mannes.

(William Wordsworth)

Ich trage in mir, wohlbehütet, das kleine Kind, das ich einmal war. Und ich bin ein überaus besorgter Erwachsener, der seine Pflichten diesem Kind gegenüber sehr genau nimmt. In bezug auf mich selbst bin ich auffallend friedlich, und es ist schwer, mich wütend zu machen. Will aber jemand diesem Kind etwas zuleide tun, werde ich sofort aggressiv und gerate schon beim geringsten Anlaß in Rage. Ein kleiner Fingerzeig, eine Anspielung, eine falsche Bewegung oder eine sonstige unbedeutende Kleinigkeit, die ein mich umgebender Erwachsener in feindlicher Absicht dem Kind gegenüber zum Ausdruck bringt, genügen bereits, in mir Zorn aufkommen zu lassen. Ja, ich achte sehr auf das Kind in mir, und es gibt wohl nichts auf der Welt, das ich ihm zuliebe nicht unternehmen würde.

Das ist nicht immer so gewesen. Viele Jahre hindurch kannte ich das Kind in mir überhaupt nicht. Ja, noch schlimmer: Ich wußte kaum von seiner Existenz. Dies waren schreckliche Zeiten für mich gewesen. Ich wurde umhergeweht wie ein Blatt im Wind, denn ich hatte keine Wurzeln in mir selbst. Ich wußte weder, was ich für einer war oder sein wollte, noch was ich vom Leben fordern konnte und durfte. Allen Menschen, die sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse nicht kennen, geht es so.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich das Kind eines Tages entdeckte – oder besser gesagt, wie ich zu ihm fand. Ich war wie schon so oft damit beschäftigt, im Haus meiner eigenen Persönlichkeit unruhig umherzuirren, als ich plötzlich an eine verbotene Tür kam, die mir früher nie aufgefallen war. Ich blieb vor ihr stehen und fühlte mich lange zwischen Angst und Neugier hin und her gerissen. Was befand sich hinter dieser Tür? Es mußte wohl ein schreckliches Ungeheuer sein, das sich dort verbarg, denn sonst wäre mir diese Tür doch nicht immerzu verboten gewesen. Schließlich aber sagte ich mir: „Dies ist mein Haus. Was auch immer sich im Zimmer hinter dieser Tür verbirgt, ich will es wissen! Denn selbst wenn sich etwas Schreckliches in ihm befindet, ist es für mich besser zu wissen, um was es sich dabei handelt, als einfach die Augen davor zu verschließen und im eigenen Haus etwas zu haben, das ich nicht kenne.“ Mein Entschluß war gefaßt: Ich öffnete die verbotene Tür.

Und siehe da! Der Raum war dunkel und leer und in einer Ecke hockte, ängstlich zitternd und zusammengekauert, das Kind, das ich einmal war. Obwohl nur spärliches Licht durch die geöffnete Tür drang, konnte ich die wesentlichen Züge des Kindes dennoch erkennen. Es war ein entzückender kleiner Junge mit blondem Haar, dessen Wangen vor Hoffnung gegenüber dem Leben leuchteten, aber gleichzeitig auch durch die Schatten schwersten seelischen Leidens verdunkelt waren.

Das Kind hatte offensichtlich entsetzliche Angst vor mir. Ich spürte sofort, daß sich diese Angst nicht gegen mich im besonderen, sondern gegen die Erwachsenen ganz allgemein richtete. Schließlich waren es die Erwachsenen gewesen, die das Kind hier in dieses dunkle Zimmer eingesperrt und zum Schweigen verurteilt hatten. Ich fühlte mich dem Kind gegenüber zutiefst schuldig, denn auch ich war ja bis zu dem betreffenden Zeitpunkt einer von diesen blinden Erwachsenen gewesen, die das Kind gequält, verachtet und endlich sogar in eine dunkle Kammer ohne jedes Licht gesperrt hatten.

Ich näherte mich nur langsam und zögernd der armen, kleinen Elendsgestalt, die zusammengekauert in ihrer Ecke vor Angst zitterte. Da ich befürchtete, das Kind werde aus Furcht sterben, wenn ich mich zu schnell näherte, hielt ich im Gehen inne und kauerte mich hin, damit ich kleiner und dadurch weniger bedrohlich wirkte.

Ich redete das Kind in einigem Abstand zärtlich an: „Hab doch keine Angst, du liebes kleines Geschöpf. Ich tue dir bestimmt nichts Böses. Vertraue mir. Hab keine Angst mehr.“

Das Kind sah mich beim Sprechen an und verstand offensichtlich auch meine Worte, denn sein ängstliches Zittern wurde schwächer. Aber es zweifelte noch. Zuviel schlechte Erfahrungen hatte es mit den Erwachsenen gemacht und zu viele Grausamkeiten waren von ihnen an ihm verübt worden, als daß es jetzt nur aufgrund einiger freundlicher Worte gleich hätte Vertrauen fassen können.

Da wurde es mir mit einem Schlag klar, daß dieses Kind ja ich selber war und daß seine Qualen daher auch die meinen waren! Bei dieser Erkenntnis ergriff mich ein mir bis dahin unbekanntes Mitleid. Ich brach in bittere Tränen aus und schluchzte: „Ach, du armes, kleines Kind. Ich liebe dich so sehr. Ich liebe dich so sehr, daß ich keine Worte dafür habe.“

Als hätte ich mit diesen Sätzen einen Zauberspruch gesagt, war plötzlich der Bann gebrochen. Das Kind verließ seine Ecke. Es war nämlich über alle Maßen klug und einfühlsam. Kraft seiner hohen Sensibilität durchschaute es sofort alle Menschen, mit denen es zusammenkam. Und meine Tränen – das wußte es genau – waren der untrügliche Beweis dafür, daß ich die Wahrheit sprach. Es trat auf mich zu und fiel mir in die Arme. Wir sagten lange kein Wort und weinten eng aneinandergeschmiegt stille Tränen.