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ISBN 978-3-7392-9843-6

© 2004 by Verlag videel OHG, Niebüll

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Gesamtherstellung: videel, Niebüll

Umschlagentwurf: Jürgen Schmidt, Moringen

Umschlaggestaltung: Helmuth Kratz, Niebüll

Seitenlayout: Helmuth Kratz, Niebüll

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

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BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

In Erinnerung an ehemalige Lehrer, die sich wahrhaft Mühe mit uns gaben. Die nicht versuchten allein nur Wissen zu vermitteln, sondern auch den Menschen in uns sahen. An sie, nicht an die Mehrzahl der Pauker, heute ein verspätetes Dankeschön! Und natürlich die Erinnerung an Mitschüler, über deren Leben von gemeinsam verbrachter Zeit auf harten Bänken bis zu unserem ersten Klassentreffen berichtet wird.

Mit Neugier verfolgte Schilderungen durchweg erfolgreich verlaufener Jahre, Glückwunsch! Vielleicht aber nur mit etwas Lack überpinselt damit es aussieht, als sei alles ohne Schramme abgegangen? Möglicherweise habe ich es beim ersten Wiedersehen auch nur falsch gedeutet. Doch es war nicht zu übersehen, dass sich so manche Illusion wohl schnell in Rauch aufgelöst hatte und unerfüllt geblieben war. Aber musste man so etwas wirklich gleich jedem auf die Nase binden?

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel: Rückblick
  2. Kapitel: Lebenswege
  3. Kapitel: Das Klassentreffen

1.Kapitel

Rückblick

Wir „Ausgelernten“

Als sich an einem verregneten Märztag das Schultor für immer hinter uns schloß und dafür das Portal, hinein in den sogenannten Ernst des Lebens auftat, nahmen wir neben einer Menge Formeln auch Herzklopfen, vor dem was uns erwartete, mit auf den Weg. Mit den erworbenen Kenntnissen als Rüstzeug wurde von allen erwartet, daß man berufliche Karriere macht. Dem einen oder anderen trauten zuversichtlich gestimmte Lehrer und ehrgeizige Eltern zu, die Welt zu retten oder wenigstens ein klein bißchen zu verändern. Ja, alle schauten gespannt auf uns Absolventen. Der Erwartungsdruck war enorm groß und belastend!

Aus unserer Klasse hatten es dreiundzwanzig Schüler in einer ehemaligen Kaserne, die zum Schulgebäude umfunktioniert worden war, ausgehalten und bis zum Abschluß geschafft. Als wir die Zeugnisse und Urkunden in Empfang nahmen, wurde der Moment für jeden von uns zu einem wirklich erhabenen Augenblick.

Ein letztes Mal saßen wir in unserem engen Klassenraum auf den zu kleinen Stühlen und an den zu niedrigen Bänken und lauschten den Ratschlägen, die man uns mit auf den Weg gab. Bis auf unseren Klassenlehrer, liebevoller Spitzname „Dickes Herzchen“, wollte anscheinend jeder von ihnen uns mit endlosen Lektionen fürs Leben beeindrucken.

„Wir haben euch das entsprechende Rüstzeug mitgegeben, macht tunlichst etwas daraus.“

Mit markigen Worten apellierte Mathelehrer Grimm an unseren Ehrgeiz. Er, ewig blaß im Gesicht, hüstelnd, krank? Derjenige von unseren Lehrern, dem wir aus Mißachtung noch nicht mal einen Spitznamen verpaßt hatten. Die Welt bestand für ihn nur aus Zahlen und Formeln, das Wort ‚Menschlichkeit’ hatte er nicht in seinem Sprachschatz. Dinge, die nicht unbedingt etwas mit Mathematik zu tun hatten, waren für ihn abstrakter Kram. Und vor diesem blassen Gnom hatten wir wirklich jahrelang gezittert und uns vor seinen gefürchteten Klassenarbeiten beinahe in die Unterhosen geschissen. Dieser Mensch war keine Autorität! Als er uns bei seiner Rede so voller Ernst ansah da wußte ich, daß Grimm wahrhaftig meinte, an dem Rüstzeug für unsere Zukunft den entscheidenden Anteil mit beigesteuert zu haben.

Max war neben mir eingeschlafen.

Zum wirklich wehmütigen Lebewohl kam es, als unser langjähriger Klassenlehrer vor uns stand, um seine Abschiedsrede zu halten. Als Dr. Lange den Raum betrat, erhoben wir uns sofort von den Plätzen und trommelten, ohne vorherige Absprache, minutenlang mit den Fäusten auf die Bänke. Es war unsere Art Respekt zu zeigen und ihm dafür Dank zu sagen für wirkliches Wissen, was er uns vermittelt hatte. Besonders für die Weise, in uns immer auch den Menschen zu sehen. Ja, so etwas merkten wir sogar damals schon! Er stand vor seiner Klasse und konnte in dem Moment einfach keine Worte finden. „Dickes Herzchen“ schüttelte jedem von uns die Hand, gab ganz Konkretes mit auf den Weg. Keine Seifenblasen!

Wahre Menschen werden auch von Jugendlichen akzeptiert und geachtet!

Aus heutiger Sicht, eine Liebeserklärung an einen Lehrer!

Danach hielt, in ihrer Funktion als Klassensprecherin, Paula eine Rede. Sie sprach die unendliche Mühe und Ausdauer an, die sich die Lehrer mit uns gemacht hatten und das wir nicht immer alles im rechten Licht gesehen haben, jetzt aber langsam verstünden, weshalb uns immenser Lehrstoff vermittelt wurde. Paula blickte in die Zukunft, sprach über den wichtigen Schritt ins Berufsleben, daß wir dort gefordert würden und unseren Mann, respektive Frau, stehen müßten und das lernen schließlich niemals aufhöre. Am Ende Dank und nochmals Dank für alles. Eine Abschlußrede, die vor ihr sicher schon millionenfach von allen Klassensprecherinnen der Welt gehalten wurde. Ihre Rezitation wollte bei uns nicht so richtig ankommen, weil wir bei ihren Worten gedanklich woanders waren. Eigentlich wurde von ihr ja so etwas wie ein Vortrag erwartet, er war aber in der Situation fehl am Platze. Paula mußte das gemerkt haben, nach Ende ihrer Rede sah sie uns alle tief beleidigt an.

Als „Dickes Herzchen“ unseren Klassenraum verließ, blieben wir noch eine ganze Weile auf unseren Plätzen und niemand sagte etwas. Eine so hörbare Stille habe ich seit damals nie wieder vernommen.

„Ich muß jetzt unbedingt eine rauchen.“ Mein Banknachbar hatte sich als erster gefangen, ich schloß mich ihm an und ging mit Max aufs Klo. Er fummelte umständlich seine letzte Zigarette aus der Packung, steckte sie an und wir zogen abwechselnd dran.

Max Rosen war ein Hüne, grobschlächtiger und prima Kumpel. Gleichzeitig, wegen zweimaligem Durchlauf der Klassen Sieben und Neun, war er der Älteste. Da ich nicht der Kräftigste war, konnte man unser Verhältnis als sogenannte Zweckgemeinschaft sehen. Ich ließ Kumpel Max von meinem unter dem Klassendurchschnitt liegenden Wissen profitieren und brauchte dafür von keiner Seite körperliche Attacken befürchten, weil Max so was wie mein Bodyguard war.

„Komm,“ unterbrach er die Stille, „laß uns zurück zu den Anderen.“

Wir gingen in unseren Klassenraum. Inzwischen herrschte der übliche Lärm und von Bedrücktheit war nichts mehr zu spüren.

Wenn ich mich recht erinnere, saß Christina Klein eigentlich die ganzen Jahre immer direkt vor mir. Manchmal spielte sie nachdenklich mit ihrer Halskette und ich stierte auf ihren viel zu eng sitzenden Pulli. Christina war wirklich ein hübsches Mädchen.

Sie erzählte nicht viel von sich und wir wußten von ihr kaum mehr, als das sie aus ganz ärmlichen Verhältnissen kam. Die Gegend, in der sie wohnte, gehörte nicht zu den feinsten Adressen. Christina schämte sich deswegen.

Neben ihr saß Paula Kroll, irgendein Pauker hatte ihr mal den Platz zugewiesen. Eigentlich mochten sich beide nie so ganz richtig leiden, akzeptierten sich aber gegenseitig. Wobei diese Toleranz deshalb Bestand hatte, weil Paula Christina abschreiben ließ. Man muß wissen, daß Paula im Gegensatz zu Christina nicht besonders hübsch war. Für ihr Alter schon ein bißchen zu pummelig, die Haare streng nach hinten gekämmt und überhaupt nicht aufgemotzt, dafür eine Intelligenzbestie. In allen Belangen ein großer Kontrast zu Christina.

Einmal ließ Paula bei einer Mathearbeit, weil sich beide in der Pause davor in die Wolle gekriegt hatten, die arme Christina nicht abschreiben und die handelte sich prompt eine Fünf ein. Seit dieser bitteren Erfahrung war Christina zu ihrer Banknachbarin, zumindest vor anstehenden Klassenarbeiten, immer besonders nett.

Paula war in unserer Klasse allgemein recht beliebt. Ausschlaggebend dafür war natürlich auch die Bäckerei ihres Onkels. Aus der brachte sie uns öfter Köstlichkeiten vom Tag vorher oder noch ältere Teilchen mit, die im Geschäft nicht mehr verkäuflich waren. Aber darüber sahen wir, genüßlich an eingebeulten Plunderstücken kauend, großzügig hinweg.

Wenn Lutz Kempowsky mich kopfschüttelnd und leicht entrüstet ansah, dann war mir klar, daß ich mal wieder die Frage eines Lehrers falsch beantwortet hatte. Hinter Paula war er die Nummer Zwei unserer Schlauköpfe und das er nicht Primus war, wurmte die hinterhältige Type mächtig. Ob Lutz mich nun aufgrund meines mangelnden Wissens öfter schockiert ansah oder nicht, war mir völlig egal. Christina hatte seinetwegen besonders zu leiden, bei jeder Gelegenheit machte er sich über das Milieu. aus dem sie kam, lustig. Lutz war ein Intrigant, schwer genießbar und wäre da nicht die Klassengemeinschaft gewesen, ich hätte ihn nicht mal mit dem Hintern angeguckt. Wie ich Jahre später erfuhr, sollte Lutz zu einem der ganz großen Erfinder werden, nämlich dem Mobbing. Eigentlich schade, daß manch schlauer Mensch einfach zu dämlich ist mit seinen Mitmenschen menschlich umzugehen.

Einmal hatte mir Kempowsky für eine Runde um den Block gönnerhaft sein Fahrrad überlassen, auf das Teil war die ganze Klasse scharf. Das Fahrrad an sich war nicht so sensationell, dafür aber die englische Nabenschaltung. Als diese, für damalige Verhältnisse technische Raffinesse, mich nach einem Schaltvorgang plötzlich nur noch im Leerlauf strampeln ließ und ich Lutz das Malheur beichtete, mußte ich mir von ihm Sauereien in bezug auf meine Person anhören, die meine spätere Einstellung zu bestimmten Menschen mit Sicherheit beeinflußt haben. Natürlich bestand er darauf, daß ich die Kosten der Reparatur zahlen mußte. Diese blöde englische Schaltung ließ mich drei Nächte nicht schlafen und brachte mir zu Hause erheblichen Ärger ein, als ich meinem Vater endlich die Geschichte erzählte und die Rechnung präsentierte. Das mir in Aussicht gestellte Fahrrad eines Bäckergesellen, für dreißig Mark und natürlich gebraucht, blieb deshalb weiter mein Traum.

Direkt unter dem Schwarzweißdruck „Gemalte Stadtansicht von Berlin“ saß unsere mondäne Hannah, Paulas Busenfreundin. Im Grunde war Hannah ein ganz liebes Mädel, nur mit übertriebenem Hang zu Extravaganz und starker Ichsucht. Sie war meine erste Freundin gewesen, mit ihr hatte ich leidenschaftliche Küsse ausgetauscht und an ihr ungeschickt das Fummeln geübt. Es gab aber noch einen Nebenbuhler, nämlich Lutz. Er war unsterblich in sie verliebt, blieb bei ihr aber chancenlos. Hannah duftete so verführerisch, daß mir jedesmal ganz schwindelig wurde. Auf einer bestimmten Bank im Stadtpark fing ich mir in dem saukalten Winter, als ich mit ihr „ging“, mehrmals eine Grippe ein. Zu Hause befürchtete man schon ein chronisches Leiden, aber ich war deshalb weniger besorgt, ich kannte schließlich die wahre Ursache meiner häufigen Unpäßlichkeit. Aufgrund dieser ersten Erfahrungen hätte ich mich liebend gern noch öfter bibbernd und hustend ins Bett gelegt. Aber die große Liebe war nicht lange von Bestand, sie hielt mal gerade bis zum Beginn des Frühlings. Eigentlich tat es mir besonders wegen der wärmeren Jahreszeit leid.

Für Hannah gab es nichts Wichtigeres auf der Welt als Hannah Lorenz. Eigentlich war sie deshalb zu bedauern. „Wie geht es dir“ war so eine Frage von ihr und weil sie ja auch nicht wirklich wissen wollte wie es mir ging, beantwortete sie sie gleich mit „mir geht es heute nämlich gar nicht gut.“ Ich warf ihr ihren Egoismus und sie mir meine Macken vor. Wir haben uns dann lieber getrennt.

Conrad Schmelzer war mein „Intimus“. Den Blödsinn, den wir im Laufe der Jahre verzapften, ging auf keine Kuhhaut. Demzufolge hatten wir natürlich mehr als ein Geheimnis miteinander. Richtigen Spaß gab es mit einem geklauten Magazin. Stundenlang blätterten wir darin und begutachteten halbnackte Mädchen, bis jeder sich für seine „Traumfrau“ entschieden hatte. In der Beziehung waren unsere Geschmäcker höchst gegensätzlich. Conrad bevorzugte üppige Blondinen, mir dagegen waren schlanke Schwarzhaarige lieber. Darüber entbrannte zwischen uns eine heftige Diskussion, bei der jeder hartnäckig seinen Standpunkt vertrat und bei dem es auch keine Kompromisse gab. Eigentlich absurd, daß wir beide etwa ein Jahr darauf ein und dasselbe Mädchen ganz toll fanden. Erst „ging“ Conrad zwei Jahre mit der brünetten Sabine, bis die Freundschaft zerbrach. Danach entdeckten Sabine und ich unsere Liebe zueinander.

Mein Intimus hatte eine Bombenidee! Wir zogen los und spendierten uns einen ganzen Kasten Bier. An einem trüben Novembertag verschwanden wir mit unserem Magazin und dem Alkoholvorrat in einer stillgelegten Ziegelei. Schon auf dem Weg zu unserem Versteck wurde der Kasten leichter und wir immer lustiger. Später bekam ich Heißhunger auf Schokolade, latschte ungerührt trotz heftiger Proteste seitens Conrad los und besorgte ein paar Tafeln bei unserem Kaufmann.

So saßen wir auf alten Ziegelsteinen, den Bierkasten zwischen uns, tranken und futterten. Eine für den Magen nicht unproblematische Kombination, aber wir fühlten uns wie im Paradies! Als ich meinen Anteil gegessen und das sechste Bier geschafft hatte, konnte ich problemlos kotzen. Wieder zurück, war Conrad verschwunden. Später haben wir noch lange gestritten, wer von uns als erster abgehauen war. Schade, unser Magazin hatten wir vergessen.

Die Anzahl der Klassengemeinschaft von dreiundzwanzig Schülern blieb die Jahre über konstant. War mal wegen Nichtversetzung ein Abgang zu beklagen, glich sich das sofort wieder mit einem Zugang aus der nächst höheren Klasse aus. Ebenso veränderte sich das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter nicht, mit zwölf Schülerinnen blieb der feminine Anteil immer leicht übergewichtig.

Wie in jeder Gemeinschaft gab es auch damals bei uns schon richtige Persönlichkeiten. Menschen, von denen es sich lohnt über sie zu berichten - und über sie zu schreiben. Unbeirrbare, mit klaren Vorstellungen, eigener Meinung und mit Profil. Egal, welche positiven oder negativen Eigenschaften sie hatten und zu welchen Individuen sie sich später auch entwickelten, ich rede hier von Eigenart und Ausstrahlung. Und von welcher Seite ich es im Nachhinein auch betrachte, sieben meiner ehemaligen Mitschüler sind es, über die ich berichten will. Alle anderen gehören zur Kategorie der weniger Bedeutsamen.

Zu dieser Kategorie gehörte Norbert ganz sicher nicht. Ein stiller, in sich gekehrter, aber ganz sympathischer Mensch. Er stand immer ein bißchen abseits und gehörte dennoch dazu. Norbert Steiner hatte es Zuhause nicht leicht, seine zänkische und eigensinnige Mutter war das Problem. Sie machte ihm und seinem Vater das Leben zur Hölle. Norbert verstand nicht, daß sein Vater nicht mal gehörig mit der Faust auf den Tisch schlug und für klare Verhältnisse sorgte. Norbert war froh, wenn er morgens mit dem Fahrrad die Kneipe seiner Eltern verließ und ihm graute jedesmal vor dem Geläut, das die letzte Schulstunde beendete.

So war es nicht verwunderlich, daß es ihn zu Christina hinzog und aus anfänglicher Freundschaft später Liebe wurde, kein oberflächlicher Sex. Sie versuchte ihn zu verstehen, fragte nicht viel, ließ ihn reden und sie hörte sich seine Sorgen an. Christina wollte nicht, daß Norbert immer so bedrückt war, aber ihr ging es ja selber nicht besser. Nur gab es dafür bei ihr einen ganz anderen Grund.

Es war recht ungewöhnlich, daß niemand von uns etwas von ihrem Verhältnis mitbekam. Solche Dinge sprachen sich normalerweise in Windeseile in der ganzen Schule rum. Ich erfuhr davon auch nur deshalb, weil ich mich mit Norbert prima verstand und er mir in einer Situation, als es ihm mal wieder ganz besonders dreckig ging, alles erzählte. Auch die Sache mit Christina und das Norbert glaubte, seine Liebe fürs Leben gefunden zu haben. Ich mußte ihm versprechen nicht darüber zu reden.

„Versprochen Norbert, geht außer euch beiden ja auch keinen was an.“

„Ja.“

Letztes Beisammensein

Für unsere Abschlußfeier am Samstag abend hatte man den großen Saal im ‚Deutschen Eck‘ reserviert. Anzug, Krawatte und anständiges Benehmen war angesagt! Unsere Klassenkameradinnen waren am Tag vorher beim Friseur gewesen, bei den meisten von ihnen hatte sich der Aufwand gelohnt. Die örtliche Prominenz, ein Reporter von der Heimatzeitung sowie unsere Eltern waren Wochen vorher schriftlich eingeladen worden.

Die Lehrerschaft hatte sich mächtig in Schale geworfen, sogar Dr. Köhler! In den Unterricht kam er nicht unbedingt im besten Outfit, eingerissene Kleidung wurde aber immer ganz akkurat von seiner Frau ausgebessert. Das in Papier eingewickelte Frühstücksbrot trug er in der linken Jackentasche und die war im Laufe der Jahre ausgebeult und etwas fettig geworden. In der letzten Unterrichtsstunde guckte sich Dr. Köhler immer einen Schüler aus, der ihm seine Hefte und Bücher nach Hause tragen „durfte“. Dabei lag Köhlers Wohnung nur einen Katzensprung von der Schule entfernt. Auf dem kurzen Weg versuchte er seinen Begleiter davon zu überzeugen, unbedingt den von ihm geleiteten Esperantokursus zu belegen. Überwiegend Schülerinnen nahmen daran teil und schrieben in der Hilfssprache an schwedische, portugiesische und italienische Brieffreunde. Dr. Köhler versuchte uns ernsthaft glaubhaft zu machen, daß Esperanto global einmal so verbreitet sein würde, um Englisch als Weltsprache abzulösen. Überhaupt war es eine Marotte von ihm Thesen aufzustellen, die er felsenfest untermauern konnte. So „bewies“ er uns im Physikunterricht, daß es wegen Unüberwindbarkeit der Schwerkraft nie möglich sein würde, jemals zum Mond zu fliegen und da zu landen. Zwölf Jahre später setzte der erste Mensch seinen Fuß auf den Trabanten und hißte dort die amerikanische Flagge.

Ohne Frage war ich der geschickteste Fliegenfänger der Klasse. Störte so ein Insekt den Unterricht, dann war meine Kunst, mit halb geöffneter Hand hinterrücks den Eindringling einzufangen und danach an die Wand zu klatschen, gefragt. Das war eine meiner leichtesten Übungen. Äußerst dankbar über die Abwechslung verfolgten meine Mitschüler das Spektakel und halfen dabei, mir immer wieder den neuen Ruheplatz der Fliege zu zeigen. Manchmal brachte mich so ein Mistvieh zur Weißglut, weil es mit mir ein munteres Versteckspiel trieb und sich partout nicht einfangen lassen wollte.

Einmal legte Dr. Köhler sein Lehrbuch auf meinen Tisch, setzte sich mit seinem Hintern auf denselbigen und hielt von dort aus den Biologieunterricht ab. Mein Jagdtrieb wurde durch eine, auf dem geöffneten Buch gelandete Fliege, geweckt. Leider hatte ich ein Eselsohr übersehen und anstelle die Fliege zu erwischen, hörte man ein schneidendes Geräusch und ich hielt völlig verdattert eine zerfledderte Buchseite in meiner Rechten.

Weil sich die gesamte Klasse dann auch noch vor Lachen nicht mehr einkriegte, war das für den guten Doktor der Gipfel der Unverschämtheit. Unter verbalen Drohungen verließ er das Klassenzimmer und wir kamen dadurch zu einer längeren Pause.

An dem Abschlußabend hielt Dr. Köhler, im feinsten Zwirn mit Nadelstreifen, weltmännisch ein Glas Sekt in der Linken und unterhielt sich mit uns „Ehemaligen“ über verübte Schelmenstücke, als hätte er daran immer einen Heidenspaß gehabt. Seine häßliche Frau sah ihn dabei so stolz an das uns klar war, wie Dr. Köhler ihr zu Hause den kumpelhaften und toleranten Lehrer vorspielte.

Max Rosen konnte tanzen, das war die Überraschung des Abends! Er hatte Paula gleich beim ersten Titel aufgefordert und beide schienen überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen. Nach jedem abgelaufenen Stück legte unser Sportlehrer und Musikliebhaber „Rübe“ Roth sofort eine neue Scheibe auf den Plattenteller. Außer den beiden hatten sich nur noch Christina und Norbert aufs Parkett gewagt. Conrad vergaß vor Überraschung wegen Max‘ ungeahntem Talent an seinem Bierglas zu nippen.

„Jetzt ist die olle Götzke dran.“ Lutz erhob sich pomadig vom Stuhl und steuerte auf unsere Religions- und Kochlehrerin zu.

„Mir ist zu Ohren gekommen, daß sie studieren wollen. Da haben sie sich ja richtig was vorgenommen, wird nicht ganz leicht werden.“

Aus Kempowskys Mimik war das Bedauern seiner voreiligen Tanzaufforderung zu lesen, auf solche Gespräche hatte er überhaupt keine Lust.

„Ja, sicher wird es nicht leicht werden. Aber wenn ich in einem großen Konzern erfolgreich sein will, dann geht es heute nun mal nicht mehr ohne Studium.“

„Machen sie einfach nur so weiter wie im Unterricht, dann kann schon nichts schiefgehen. Ich jedenfalls traue ihnen eine Menge zu.“

Wir konnten nicht hören was gesprochen wurde, sahen aber wie sie ihn anhimmelte. In den kurzen Pausen zwischen zwei Musiktiteln hoffte Lutz darauf, seine Tanzpartnerin würde sich bei ihm bedanken und er könne sie wieder zurück an ihren Tisch führen. Aber die gute Frau Götzke dachte überhaupt nicht daran, so oft hatte man sie in ihrem langen Leben bestimmt noch nicht zum Tanz aufgefordert. Außerdem war „Rübe“ Roth beim Plattenwechsel recht eifrig. Als Lutz endlich aus ihrer Umklammerung entlassen wurde, ging er mit gerötetem Gesicht und verschwitztem Hemd direkt auf die Toilette um sich frisch zu machen. Conrad und ich wollten uns das nicht entgehen lassen und liefen hinterher.

„Na, war’s schön? Hast ja richtig was drauf, Alter. Nun beeile dich mal, deine Tanzpartnerin wartet schon ungeduldig auf ihren Gigolo, sie mag hübsche Männer. Nachher schnappt der alte Grimm sie dir noch weg.“

Lutz sah uns beide nicht besonders freundlich an. Er murmelte ein paar unverständliche Flüche und verließ fluchtartig das Klo.

„Freiwillig fordert der sicher so schnell keine mehr auf. ‚Spargel Anja‘ wird sich nach einem neuen Tanzpartner umsehen müssen. Dabei hat sie ihn doch richtig herrlich angeschmachtet.“

‚Spargel Anja‘ war wirklich gut zu leiden. Auffallend schlank und von überdurchschnittlicher Körpergröße, ohne erkennbaren Po oder Busen, immer beigefarben gekleidet. Nicht schwer zu erraten, wie sie zu ihrem Spitznamen kam. Gleich in der ersten Unterrichtsstunde bei ihr stellten wir verblüfft fest, daß sie pausenlos futterte. In ihrer Umhängetasche verbarg sie mehrere Kekstüten, aus denen sie sich bediente. ‚Spargel Anjas‘ Freßsucht, in Verbindung mit ihrer dürren Figur, sorgte bei uns für angemessenen Gesprächsstoff. Wir erklärten es uns damit, daß sich die Nahrung sofort auflösen und demnach ein ständiger Durchmarsch in ihrem Körper stattfinden müsse. Da sie die Unterrichtsstunden aber immer durchhielt, ohne mal kurz zu verschwinden, machten wir uns bald keine Gedanken mehr über ihre Verdauung.

Mit zu den Höhepunkten in meiner Schullaufbahn gehörte für mich ‚Spargel Anjas‘ Kochkurs. Noch heute muß ich jedesmal, wenn ich eine simple Dose Erbseneintopf mit Würstchen aufmache und die Mahlzeit vorsichtig erhitze, an meine ehemalige Lehrerin denken. Für unsere Mitschülerinnen war der Kochunterricht Pflicht, zusätzlich aber waren drei Plätze für Jungs reserviert, bei uns natürlich auf freiwilliger Basis. Conrad und Max ließen sich von mir eintragen und da wir drei Lernbegierigen ganz oben auf der Liste standen und auch sonst mit ‚Spargel Anja‘ vorher nie Probleme hatten, durften wir bei ihr lernen, wie man preiswert und gleichwohl geschmackvoll kochen kann.

„Für später mal, falls einem die Frau durchgeht, könnte das ganz nützlich sein“, dachte Max sicherheitshalber schon gleich mit an die Zukunft. „Und außerdem erwischt man vielleicht eine, die nicht mal einen Pott mit Wasser kochen kann.“

„Sie hätten besser Nachhilfeunterricht in Mathematik nehmen sollen, anstatt ihren Betätigungsdrang am Herd zu vergeuden. Müssen sie aber wissen, vielleicht verhilft ihnen später mal ein saftiges Schnitzel zum beruflichen Durchbruch und sie machen als Koch Karriere. Der Unterricht bei mir wird für sie in dem Fall wenigstens nicht ganz umsonst gewesen sein, schließlich müssen sie als Koch in der Lage sein und ausrechnen können, welche Mengen an Zutaten fürs Hauptgericht benötigt werden.“

Der Appell war an mich gerichtet und Lehrer Grimm lag mit seinen Überlegungen nicht unbedingt falsch. Für mein Problemfach Mathe hätte ich wirklich mehr tun müssen. Nur, ich erwartete beim Kochunterricht einfach den größeren Spaß.

Und den hatten wir reichlich! Einmal wurden Max, Hannah und Christina dazu eingeteilt, eine französische Gemüsesuppe anzurichten. Conrad und ich waren dem Trupp angeschlossen, der sich um die Hauptmahlzeit kümmerte. Da beim besten Willen in der Schulküche keine feuerfeste Terrine auffindbar war, sollte Max so ein Teil im gegenüberliegenden Schulgebäude ausleihen. Weil aber um die Zeit in allen Klassen Unterricht und kein Mensch anzutreffen war, ging Max zielstrebig in den Keller und fand sofort die gesuchten Räumlichkeiten. Die Auswahl an Terrinen war reichlich und genau das wurde zum Problem. Welche davon war nun feuerfest? Max klopfte alle fachmännisch ab und entschied sich dann für die dickwandigste Schüssel. Stolz stellte er sie bei Hannah und Christina ab. Er durfte sogleich seine organisierte Terrine mit Tomaten und Speckscheiben auslegen, eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe! Christina verteilte darin den dickflüssigen Gemüsebrei, bedeckte alles mit Weißbrotscheiben und Hannah streute Reibekäse drüber. Als letzter Pfiff kamen noch Butterflöckchen oben drauf und das komplette Kunstwerk mußte nur noch in den vorgeheizten Backofen geschoben werden.

„Soll richtig schön heiß sein, darf aber oben drauf nicht schwarz werden,“ lautete Max‘ fachmännischer Rat. Danach läutete es zur Pause und wir gingen nach draußen.

Was für ein Chaos nach unserer Rückkehr! Die Hitze in der Backröhre hatte die natürlich nicht feuerfeste Terrine gesprengt und der flüssige Brei sorgte für Sauerei im und vorm Backofen. Es stank fürchterlich! Max war die ganze Sache ausgesprochen peinlich und unsere liebe ‚Spargel Anja‘ konnte ihre Wut über soviel Dämlichkeit nicht unterdrücken. Wir anderen verzogen uns vorsichtshalber in die hinterste Ecke der Küche, mußten uns letztlich dann aber doch an den Aufräumarbeiten beteiligen.

Weil sich ähnliche Vorfälle häuften und wir drei Jungs offensichtlich mehr Blödsinn als Wißbegier im Sinn hatten, wurden wir zu Persona non grata beim Kochkurs erklärt. Meine so dringend notwendigen Nachhilfestunden in Mathematik wollte ich trotz allem nicht in Anspruch nehmen.

Weit nach Mitternacht setzten wir „Ehemaligen“ uns noch mal zusammen. Wir hatten das vorher nicht abgesprochen, es ergab sich einfach so. Jedem am Tisch war klar, daß wir in dieser Zusammensetzung nie wieder beieinander sein würden. In den nun hinter uns liegenden Jahren waren wir eine Gemeinschaft gewesen, in denen wir geformt wurden und Zeit zur Reife bekamen. Ganz entscheidende Jahre! Bei Auflösung dieser Tischrunde würde jeder im selben Moment seine schützenden Eischale ablegen, Verantwortung übernehmen müssen sowie beträchtlichem Erfolgsdruck ausgeliefert sein.

„Dickes Herzchen“ setzte sich zu uns mit an den Tisch. Dr. Lange war nicht nur Klassenlehrer, sondern für die meisten auch Vorbild gewesen. Nur ihn und ‚Spargel Anja‘ hatten wir ausdrücklich darum gebeten, uns weiter mit ‚du‘ anzureden.

„Wir sollten auf eure Zukunft anstoßen. Ich habe bei niemanden von euch Angst, daß er es nicht schafft. Auch nicht bei denjenigen, die ihren Abschluß nur mit Mühe erreicht haben. Ab sofort werden die Karten neu gemischt, es liegt an jedem Einzelnen, aus dem verteilten Blatt das Beste zu machen. Behaltet die vergangenen Jahre gut in Erinnerung. Vielleicht braucht der eine oder andere keine Matheformeln mehr, wahrscheinlich wird in Zukunft auch von niemandem verlangt werden Pflanzen zu bestimmen. Nun, wir haben euch auch Wissen vermittelt, von dem vielleicht mancher behauptet, es sei unnötig gewesen euch das beizubringen. Trotzdem, es ist nie verkehrt viel zu wissen. Ganz wichtig aber ist etwas anderes was ihr mitnehmt, nämlich eure gemachten Erfahrungen, die guten wie die schlechten. Ebenso wie ihr lernen mußtet miteinander auszukommen und Respekt vorm Mitmenschen zu haben, auch wenn das nicht immer leicht war. In dem Punkt sehe ich Schwierigkeiten auf euch zukommen, die zukünftigen Berufskollegen werden nicht alle die Fähigkeit mitbringen und einen fairen Umgang beherrschen. Um zu bestehen, müssen manchmal auch die Ellenbogen eingesetzt werden, das wird euch nicht erspart bleiben. Sicher, mit Zensuren werdet ihr nicht mehr bewertet, dafür müßt ihr euch in Zukunft anders beweisen. Bleibt konsequent beim verfolgen gesteckter Ziele, aber prüft euch immer wieder aufs Neue und kommt nie in die Situation, mal selbst vor euch ausspucken zu müssen, dann nämlich habt ihr versagt.“

Anne Blum machte den Vorschlag, irgendeiner von uns könnte doch vielleicht in ein paar Jahren mal ein Klassentreffen organisieren.

„Wäre doch schade, wenn wir uns aus den Augen verlieren würden. Und außerdem muß es bestimmt spannend sein zu erfahren, was jeder von uns so erlebt hat und was aus allen geworden ist. Ich sehe Lutz jetzt schon, wie er als Wirtschaftsboss im dicken Daimler mit Chauffeur vorfährt. Oder wie Paulas Entwürfe in Deutschland an allen Plakatsäulen kleben. Du fängst doch in dieser Werbeagentur an, oder?“

„Klar, nur entwerfen die keine Plakate. Aber Christina kommt mal beim Tageblatt ganz groß raus. Würde mich nicht wundern, öfter über sie was zu lesen.“

„Ehrlich, wir sollten das mit dem Klassentreffen wirklich machen. Wenn keiner was dagegen hat, nehme ich das in die Hand. Ihr müßtet mir nur immer eure aktuelle Adresse mitteilen.“

Das Anne die Sache organisieren wollte, war schon okay. Außerdem fanden wir das eine wirklich prima Idee, aber wahrscheinlich würden sowieso längst nicht alle zu so einem Treffen kommen.

Später gingen wir auseinander, bedrückt, jedoch schon mehr mit der eigenen Zukunft beschäftigt als mit nostalgischen Betrachtungen. Aber auch mit Lampenfieber und einer Portion Unsicherheit vor den Dingen, die uns erwarteten.

2. Kapitel

Lebenswege

Paula

Dirk schlich mürrisch durch die Wohnung und fluchte, weil er mal wieder seine Wodkaflaschen nicht fand. So kramte er, in der Hoffnung vielleicht dort fündig zu werden, den Küchenschrank aus. Er verteilte alles auf dem Fußboden und ließ, als er auch da kein Glück hatte, den Krempel auf der Erde liegen. Lisa dachte sich dauernd neue Verstecke aus. Wo trieb die sich eigentlich um diese Zeit noch rum? Eigentlich müßte sie längst von der Arbeit zurück sein, jetzt war es schon fast halb acht.

Als das Telefon läutete, stürmte er auf den Flur. Paula hatte bereits abgenommen.

„Wer ist dran? Etwa Lisa? Los, gib her.“

Paula winkte ab, aber Dirk riß ihr den Hörer aus der Hand. Er stand einen Moment wie erstarrt, dann brüllte er ins Telefon.

„Und du gehst mit denen nicht auf die Piste, du kommst sofort nach Hause! Kann mir schon denken was du vorhast. Ich hänge hier rum und weiß nicht was ich machen soll, du hast mir meine Pullen versteckt. Aber die gute Dame geht lieber mit den Kollegen flanieren und macht wer weiß nicht was für Sachen.“

Dirk hörte sich Lisas Erklärung an, dann schrie er sie an.

„Erzähl mir doch nichts, von wegen gemütlich auf ein Bier. Du hast es doch faustdick hinter den Ohren! Ich will, daß du auf der Stelle hier antanzt. Lisa? Lisa! Na warte!“

Sie hatte mitten im Satz aufgelegt. Dirk glotzte ungläubig den Hörer an.

Vor zwei Jahren hatte Paulas Mutter diesen Typ angeschleppt und Dirk verstand es, sich bei ihnen einzunisten. Anfangs gab es auch nur selten Probleme, er steuerte pünktlich das Geld für seinen Lebensunterhalt mit bei und war sonst soweit auch ganz in Ordnung. Bis er sich richtig eingelebt hatte und sicher sein konnte, daß Lisa ihn nicht gleich wegen jeder Lappalie vor die Tür setzen würde.

Als er anfing, sich mehr um seinen Wodka als um Lisa zu kümmern, wurde das Zusammenleben in der kleinen Wohnung problematisch. Er besoff sich immer häufiger, kam morgens schwer aus dem Bett und erschien dadurch oft zu spät an seinem Arbeitsplatz. In der Metzgerei, in der er arbeitete, sah man sich das eine Weile an, dann wurde Dirk gefeuert. Seit der Zeit lungerte er den Tag über in der Wohnung rum. Da er nun arbeitslos war, meinte er weniger Geld abgeben zu können und Lisa ließ sich das gefallen.

Für Paula wurde die Situation unerträglich, sie verstand ihre Mutter nicht. Weshalb warf sie den Typ nicht einfach aus der Wohnung? Außerdem machte er ihr gegenüber in letzter Zeit öfter so komische Andeutungen. Paula war heilfroh, daß sie in Hamburg eine Ausbildungsstelle bekommen hatte und in ein paar Tagen ausziehen würde.

„Deine Mutter kann was erleben, wenn die hier auftaucht. Zieht die doch einfach mit irgendwelchem Volk durch die Gegend. Mein kleiner Engel,“ er grinste Paula mit dem ihm eigenen Charme an, „du weißt doch sicher, wo ich was zu trinken finde. Verrät mir meine Süße das Versteck? Soll nicht dein Schade sein.“

Er stand plötzlich hinter ihr und grapschte ihr an den Busen.

„Pfoten weg, du altes Dreckstück. Wenn du mich noch einmal anfaßt, dann passiert was. Los, zieh Leine, dein Fusel steht hinter der Waschmaschine. Knall dir die Birne zu, aber laß mich bloß in Ruhe. Schleich dich vom Acker!“

Doch so schnell gab Dirk nicht auf.

„Kannst zu mir ruhig mal ein bißchen nett sein. Ich sehe dir doch an, daß du scharf auf mich bist. Nun stell‘ dich nicht an. Komm schon, Paula.“

„Du redest so viel Scheiße,“ schrie sie ihn an. „Guck doch nur mal in den Spiegel! Du Jammerlappen in deinen alten Filzlatschen und dem schmuddeligen Unterhemd. Bist nicht nur fett und stinkst nach Fusel, schwitzt auch noch ständig und verpestest mit deinem Mief die Bude. Und du meinst wirklich, auf so einen Fleischkloß würde ich scharf sein? Hau endlich ab, pack deine Klamotten und laß dich hier nicht mehr blicken.“

Aus Paulas Augen blitzte der pure Haß.

Auf Dirk machten ihre Worte keinen großen Eindruck. Er ging einen Schritt auf Paula zu und versuchte sie zu küssen. Als sie ihm einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein verpaßte, ließ er endlich von ihr ab und trottete zur Waschmaschine.

„Umsonst war das eben nicht, du kleines Luder! Wir haben noch unseren Spaß, sei sicher.“

Gegen Mitternacht kam Paulas Mutter zurück.

„Hallo, noch nicht im Bett?“

„Mama, ich muß mit dir reden.“

„Ist schon zu spät, bin ziemlich kaputt. Kannst mir ja morgen sagen was du willst. Ich geh‘ ins Bett. Wo ist Dirk?“

„Der pennt, ist mal wieder voll.“

„Hat der das Chaos in der Küche angerichtet?“

„Muß wohl, frag ihn doch.“

„Nacht.“

„Nacht.“

So ging das schon eine Weile. Reden? Nicht heute, morgen. Ständig Ausflüchte. Doch Paula mußte unbedingt mit ihr sprechen um ihr klarzumachen, daß es so nicht weitergehen konnte. Außerdem wurde Paula den Eindruck nicht los, daß ihre Mutter in letzter Zeit Angst davor hatte, in ihrem Leben noch mehr als bisher zu versäumen. Das, was sie wirklich verpaßt hatte, versuchte sie neuerdings im Eiltempo nachzuholen. Deswegen schien ihr alles andere ziemlich egal zu sein. Wenn Paula an Dirks Annäherungsversuch dachte, dann war es dringend erforderlich mit ihr zu reden. Paula hatte Angst, daß wirklich etwas passieren könnte. Morgen würde sie sich nicht wieder abwimmeln lassen.