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Inhalt

Wien 1774. Der Sohn eines reichen Kaffeehändlers ist ein Lebemann und Ewigstudent. Joseph Lafarche verbringt seine Zeit lieber im Weinkeller als auf der Universität. Nach einer durchzechten Nacht gibt es ein böses Erwachen – er selbst liegt auf einem Seziertisch und sein Kumpan Franz ist tot. War es ein Unfall oder steckt mehr dahinter?

Joseph kann sich an nichts mehr erinnern. Der herbeigerufene Criminal-Commissär Korenyi hat es nicht eilig, einem Verbrechen auf die Spur zu kommen. In seinem Revier herrscht Ordnung, doch um seine Ruhe ist es bald geschehen. Josephs Schwägerin wird brutal entführt. Eine erste Spur führt zu Graf Traun, einem eifrigen Bewerber um die Hand der jungen Frau. Dessen Geldsorgen lassen ihn aber in einem ganz anderen Licht erscheinen ...

Beata Solanger widmet sich der Zeit von Maria Theresia. Ihre Romane entführen Sie in den Alltag und das Leben im damaligen Wien. Mit Das Kaffeekomplott veröffentlicht sie ihren zweiten Roman.

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet: www.editiohistoriae.at

1. Auflage – Copyright © 2012 editio historiae, Verlag

MMag. Dr. Marianne Acquarelli, 1180 Wien

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Redaktion: MMag. Dr. Marianne Acquarelli

Layoutgestaltung: MMag. Dr. Marianne Acquarelli

Titelbild: © Florapresenta Blumen & Pflanzen GmbH, Beckershof 3, 24558 Henstedt-Ulzburg, www.florapresenta.de, mit freundlicher Genehmigung

Satz: Adobe InDesign bei editio historiae

ISBN für Format epub: 978-3-9502862-9-8

Wirklich gelebt haben:

 

Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich (1717-1780)

 

Matthäus Collin, Professor für Anatomie an der Universität Wien (1739-1817)

 

Muhammad Bey Abū ad-Dahab, Mamlukenführer in Ägypten

 

Ignaz von Maurer*, Criminalsenatspräsident im Jahr 1786, im Roman: Criminal-Gerichtsvorsteher

 

Peter Fiebich*, Criminaldetektiv im Jahr 1786, im Roman: Detektivkandidat

 

Amadeus Woffen*, Criminal-Commissär im Jahr 1786, im Roman: beigegebener Polizey-Beamter (Offiziant)

 

*Die Angaben zu diesen drei Herren beziehen sich auf den auf Tatsachen beruhenden Fall des Franz Zaglauer von Zahlheim. Dieser hatte im Jahr 1786 seine Geliebte ermordet und anschließend beraubt. Peter Fiebich und Amadeus Woffen haben den Verbrecher aufgespürt und überführt. Ignaz von Maurer hat die Verhöre geleitet. Zu diesem Zeitpunkt war die Todesstrafe aufgehoben gewesen. Doch aufgrund der Schwere des Vergehens hat Joseph II. selbst auf der Vollstreckung der Todesstrafe bestanden. Am 10. März 1786 wurde der Mörder auf dem Hohen Markt öffentlich hingerichtet.

Wirklich gegeben hat es:

 

Schranne, Stadt- und Landesgericht von Wien von 1473 -1839 auf dem Hohen Markt.

 

Malefizspitzbubenhaus, Schergenhaus und Untersuchungsgefängnis in der ehemaligen Himmelpfortgasse, dort wurden bis 1776 auch die „peinlichen“ Befragungen durchgeführt, bestand von ca. 1480 bis 1785 (Neubau 1722 mit einer Kreuzigungszene auf dem Ölberg als Fassadenschmuck).

 

Esterhazy-Keller, Stadtheuriger seit 1683, existiert noch heute: 1010 Wien, Haarhof 1.

 

Vize-Domamt, das Gebäude steht neben der Peterskirche und war bis 1745 das landesfürstliche Amt mit Zuständigkeit für die Verwaltung der Güter in Niederösterreich. Das Gebäude beherbergte eine Zeit lang im zweiten Stock den Anatomischen Unterricht für die Medizinstudenten, bis 1784 ein neues Anatomisches Theater im Universitätsgebäude eröffnet wurde.

 

Alma Mater Rudolphina, Bezeichnung der nach wie vor bestehenden Wiener Universität. Sie wurde am 12. März 1365 von Rudolph IV. gegründet.

 

Gasthaus „Zu den drei Hacken“, zählt zu den ältesten Gastwirtschaften der Stadt Wien, existiert noch heute: 1010 Wien, Singerstraße 28.

 

Gasthaus „Zum wilden Mann“, war eine der besseren Wirtschaften im damaligen Wien und befand sich in der Kärntner Straße 17, später wurde es in ein Hotel umgebaut, das bis 1873 bestand.

 

Gasthaus Weißer Schwan, gehörte Mitte des 18. Jahhunderts zu den vornehmsten Gaststätten Wiens und lag am Neuen Markt 6. Es war damals auch üblich, in die Haushalte höher gestellter Personen Speisen und Getränke zu liefern sowie Personal zur Verfügung zu stellen.

 

Café Taroni, im Jahr 1750 hat Jean „Schani“ Taroni die Erlaubnis erhalten, am Graben vor seinem Café, das nur Männern zugänglich war, ein Zelt aufzustellen, um den Damen im Sommer Erfrischungen, Eis und Kaffee anzubieten. Daher kommt die noch heute gebräuchliche Verwendung „Schanigarten“ für eine Sitzgelegenheit im Freien bei einem Gastwirten.

 

Spittel Berg, der Name leitet sich von einem Bürgerspital ab, das auf dem Spital Berg gestanden hatte. Nach der Türkenbelagerung 1683 wurden außerhalb der Stadt günstige Wohnmöglichkeiten errichtet. Schon nach kurzer Zeit hatte sich dort ein übles Viertel mit blühender Kellnerinnenwirtschaft (Prostitution) entwickelt.

 

Neuer Stephansfreithof, nachdem der Friedhof rund um St. Stephan nicht mehr ausreichte, war eine Zeit lang ein Friedhof bei der Alser Straße in Verwendung, bis Joseph II. die Kommunalfriedhöfe einrichten ließ.

Maße und Geldeinheiten:

 

1 Wiener Fuß = 316, 08 mm ist gleich 12 Zoll

 

1 Wiener Zoll = 26, 34 mm ist gleich 12 Linien

 

1 Pfund = 560 g

 

1 Gulden (fl.) ist unterteilt in 60 Kreuzer (kr.)

 

Zur Orientierung:

 

Zur Mitte des 18. Jahrhunderts boten die meisten Gaststätten in Wien regelmäßig Menüs zu 7, 9, 12, 17 und 24 Kreuzern an, wobei es die teuerste Variante nur in den vornehmen Wirtschaften gab.

 

Quelle: Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Band 1-5 (Wien 2004).

Vorwort

Im Jahr 1749 wurde unter Maria Theresia die „Hofkommission in Polizey-, Sicherheits- und Armenpflegsachen“ ins Leben gerufen. Auslöser für die Gründung dieser Hofstelle gab es vor allem einen: In Wien hatte das Bettlerunwesen überhand genommen. Deshalb sollte die Polizei neu strukturiert werden, denn die Obrigkeit wollte die Bevölkerung mehr überwachen.

 

Die Verarmten wurden systematisch eingefangen und je nach körperlicher Verfassung einer Wohlfahrtseinrichtung oder einem Zwangsarbeitshaus übergeben. Eng einher ging die Erfassung der Bettler und Armen mit einem rigorosen Meldesystem. Für alle Einwohner und Fremde, die sich im Land aufhielten wurde eine Meldepflicht eingeführt, die von eigenen „Hausnachsehern“ in den Wohnstätten überwacht wurde.

 

Für die Einhaltung der Regelungen wurden eigene landesfürstliche Commissäre und Unter-Commissäre für je ein Wiener Stadtviertel eingesetzt, die auch alle anderen Bereiche des täglichen Lebens zu überwachen hatten. Dazu gehörten die Nachschau bei den Handwerkern, ob sie ihre Arbeit ordentlich verrichteten ebenso wie Angelegenheiten des Theaterwesens.

 

Diesen Bezirksaufsehern waren die polizeilichen Organe unterstellt – Polizeyaufseher und zugegebene Polizey-Beamte (wurden auch Offizianten) genannt – und Geheimagenten als Hilfsorgane. Deren Tätigkeiten und Pflichten betrafen die Belange des täglichen Lebens und das geordnete Zusammenleben in der damals schnell wachsenden Stadt.

 

Unabhängig davon agierten die Organe der Tag- und der Nachtwache, die einzugreifen hatten, wenn Zank und Streit ausbrachen. Hauptsächlich hatten sie sich aber um den Erhalt der Straßen und den Verkehr zu kümmern. Für die Nachtwächter gab es genau einzuhaltende Vorschriften über das Reinigen und Anzünden der Nachtbeleuchtungen und das Ausrufen der vollen Stunden.

 

Strafrechtliche Angelegenheiten wurden im Rahmen der Sittlichkeit gesehen. Um die Ausrottung aller Gott beleidigend- und landesverderblichen Laster hatte sich die Staatssicherheits-Polizey zu kümmern. Bei der Verfolgung dieser Laster wurde zwischen politischen Verbrechen und Criminal-Verbrechen unterschieden.

 

Aus den Polizey-Maßregeln gegen geheime Umtriebe und Anschläge geht hervor, dass sämtliche Criminal-Vorfallenheiten den Criminal-Gerichten zu melden und zu überantworten waren. Die politischen Behörden der Staatssicherheit waren dazu angehalten, Ergebnisse von der Ausfindigmachung einer That aus eigener Industrie unverzüglich den Criminal-Gerichten zu übergeben.

 

Dem Criminal-Gerichtsvorsteher unterstanden Untersuchungs-Commissäre, Offizianten und Kanzellisten, die für die Pflege in Malefizangelegenheiten zuständig waren. In Wien hatte das Criminal-Gericht vom Mittelalter bis Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Sitz in der Schranne am Hohen Markt, früher Hoher Marckt.

 

Der vorliegende Roman spielt zum größten Teil in Wien, doch die Geschichte nimmt ihren Anfang in Venedig ...

1

Venedig 1774

Die schwarze Gondel glitt lautlos über die Lagune. Die Serenissima war in tiefen Schlummer gesunken. Selbst die hartnäckigsten Nachtschwärmer hatten in das eigene Bett gefunden oder lagen in den Armen ihrer neuesten Eroberung.

Zu dieser Stunde war alles ruhig. Das trübe Wasser der Lebensadern Venedigs plätscherte glucksend an den Bootsrand und verschluckte das leise Geflüster der Männer in der Gondel.

Nur zwei der fremdländisch aussehenden Insassen führten eine leise Unterhaltung. Die dürre Gestalt eines dritten Mannes stand unsicher am Heck des Gefährts. Mit zusammengepressten Lippen konzentrierte er sich auf das lange schmale Ruder, das er unablässig aus dem Wasser zog und wieder hineinstieß, um dem gemeinsamen Ziel näherzukommen.

Ganz wollte es ihm nicht glücken. Mehrere Male hatte er das Ruder zu weit herausgehoben und dabei fast das Gleichgewicht verloren. Oder er hatte zu lange gewartet, um seine Antriebshilfe wieder einzuholen, wobei ihm das schmale Holz fast zur Gänze ins Wasser geglitten wäre.

Die Verfehlungen blieben nicht ungestraft. Doch mehr als auf der Haut brannte der letzte Peitschenhieb auf seiner Seele. Mit jedem Atemzug wurde er an seine Ungeschicklichkeit erinnert. War es das überhaupt? Oder war es nur die Unerfahrenheit in einem ihm gänzlich unbekannten Land.

Und dieses viele Wasser! Dort, wo er herkam, fegte heißer Wind über die von der Sonne verbrannten Hügel und manchmal brauchte es Tage, um die nächste Oase oder Wasserstelle zu erreichen.

Hier, in dieser von Allah verwunschenen Stadt voller Ungläubiger, ging man vor die Tür und hatte nasse Füsse. Der junge Mann schüttelte unwillig den Kopf. Warum war es ausgerechnet ihm so bestimmt worden? In diesem feuchten Loch einem Mann gehorchen zu müssen, dessen Peitsche sehr locker am Gürtel saß.

Der jüngste Striemen an seinem Bein schmerzte ob der Schmach über die unverdiente Strafe um ein Vielfaches mehr.

„Ahmed, pass‘ auf!“, Mustafa fuhr den unfreiwilligen Gondoliere barsch an, als sie eine der extrem niedrig gebauten Brücken passierten.

Die venezianischen Bootsführer mussten blitzschnell reagieren, wenn sie nicht näher Bekanntschaft mit den wuchtigen Steinbalustraden machen wollten. Unsicher ließ sich der dürre Junge auf die Knie fallen und zog den Kopf ein. Einen leisen Fluch unterdrückte er tapfer, denn Mustafas Hand war schon wieder Richtung Peitsche gezuckt.

„Eines Tages bekommt er alles zurück. Aber er wird nicht nur einen seiner Zähne für meinen geben“, Ahmed behielt seinen Schwur für sich, während er sich mit der Zungenspitze über die Lücke fuhr, wo ein paar Wochen zuvor noch ein durchaus gesunder Zahn gesteckt hatte. An die Narbe auf der Lippe wollte der junge Mann gar nicht denken.

Jeder praktisch denkende Venezianer hätte den Weg vom Palazzo Vendramin-Calergi zum fondaco dei Tedeschi direkt über den Canale Grande gewählt. Doch Mustafa hatte aufgrund der heiklen Mission darauf bestanden, die verwinkelten Kanäle des Cannaregio abzufahren, um auf keinen Fall einem der städtischen Nachtwächter zu begegnen.

Bei jeder Kreuzung hatte der Anführer der kleinen Truppe seine Entscheidung bereut, den jungen Ahmed weiter in die Kunst des Gondelfahrens einzuweihen. Nach vielen Zurechtweisungen waren sie endlich in den rio fondaco Tedeschi eingebogen und für das neuerliche Missgeschick am ponte Olio hätte Ahmed fast wieder einen Hieb kassiert.

Doch der Junge hatte Glück. Mustafa wurde abgelenkt durch seinen Gefährten Osman, der seinem Herren ruhig die Hand auf die Schulter legte und auf eine günstige Anlegestelle in dem schmalen rio neben dem Kontor zeigte. Er selbst hätte diese Gelegenheit nicht so schnell ausgemacht. In den Seitengassen des Canale Grande war es stockdunkel.

Auf der Vorderseite des fondaco waren die Umrisse zahlreicher, dort vertäuter Transportgondeln auszumachen, die sanft mit den Bewegungen des Wasser schaukelten. Das Lebenselixier der schwimmenden Stadt war unverkennbar der Handel, wobei in Venedig die meisten Handelswege aus dem Osten und Süden zusammenführten.

Das Rennen um die italienische Vorherrschaft hatte die Serenissima für die sogenannte „Ägyptenroute“ gewonnen. Während die beiden anderen Seerepubliken Amalfi und Pisa schon Jahrzehnte zuvor in die Bedeutungslosigkeit versunken waren, hatte sich Genua aufgrund seines geografischen Vorteils nach Westen orientiert und die genuesischen Kaufleute gaben von Sevilla aus den Ton im Handel mit der Neuen Welt an.

Die Venezianer bedrückte dieser Umstand, kamen doch Gewürze, Gold und andere Schätze zusehends aus den Kolonialgebieten und füllten die Taschen der englischen, niederländischen, spanischen und portugiesischen Händler. Kaum noch konnte die Stadt ihre Vorreiterrolle im Handel zwischen dem Orient und Europa durch alte Kooperationen halten, denn schon längst kontrollierten andere den Fernhandel, wie etwa die Holländisch-Ostindische Kompanie, die ihre Hand fest auf Ceylon gelegt hatte.

Das osmanische Reich hatte wegen seiner ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland, Österreich und Polen keinen direkten Zugang zum europäischen Markt. Jegliche Handelsmöglichkeit der Pforte mit Europa lief über Venedig.

Die Venezianer saßen in der Lagune in einer Art neutraler Zone und ließen sich ihre guten Kontakte entsprechend abgelten. Ein Faktum, das vor allem bei einem beliebten Getränk der Zeit enorme Summen ausmachte – der gefragteste Tasseninhalt war nun einmal qahwa[1].

Ahmed war stolz auf sich. Ohne weitere Zwischenfälle hatte er die schmale Gondel auf den freien Platz nahe beim ponte Olio manövriert. Doch statt eines Wortes der Anerkennung hatte Mustafa wieder nur ein Knurren für seinen Gehilfen übrig.

Es ging dem engen Vertrauten des großen Bey[2] gewaltig gegen den Strich, aus der Heimat einen so grünen Jungen überantwortet zu bekommen. Dabei war es groteskerweise nur um einen Gefallen für irgendeinen entfernten und völlig belanglosen Verwandten des Bey gegangen!

Mustafa Ibn Radh hatte sich seine Leute immer selbst ausgesucht. Der verschwiegene Osman war ein echter Glücksgriff gewesen: ein ausgezeichneter Kämpfer, schnell von Begriff und mit einer Loyalität ausgestattet, die ihresgleichen suchte. Dieser treue Gehilfe vereinte all jene Eigenschaften in sich, die dem ungeschickten Ahmed so fern lagen wie Mekka von Venedig.

Mustafa ignorierte den gekränkten Blick seines unwilligen wie aufmüpfigen Schülers und lauschte angestrengt in die dunkle Nacht. Außer einigen Schnarchgeräuschen, die aus offenen Fenstern auf den Canale drangen, störte kein Laut seine Ohren.

„Nachher steuert Osman.“ Mustafa würgte diese Worte zwischen seinem Bart hervor und spuckte nur knapp vorbei an Ahmed ins salzige Wasser.

Der Junge biss die Zähne zusammen. Zu Hause wäre er jedem Mann, der es gewagt hätte, den Sohn des Dorfvorstehers so zu beleidigen mit dem Messer an die Kehle gefahren, doch hier an diesem verfluchten Ort war er dem grausamen Handlanger des Bey hilflos ausgeliefert.

Mit der Beweglichkeit eines Panthers sprang Mustafa aus der Gondel auf die schmale Treppe, die hinauf zur salizada[3] vor dem fondaco dei Tedeschi führte und deutete Osman mit einem stummen Blick, für die richtige und mit einem Handgriff lösbare Vertäuung zu sorgen.

Ahmed stand wieder nur beleidigt daneben und dachte nicht daran, von diesem Meister des Diebstahls und der unentdeckten Flucht zu lernen. Ibn Radh musste alle Willenskraft aufbieten, um seine rechte Hand zur Untätigkeit zu zwingen, sonst hätte dieser dumme Junge erneut die Sprache der Demut zu spüren bekommen.

Mit einem Seufzer schloss Mustafa die Augen. Sein Geist musste frei sein, um dem Willen Allahs zu folgen. Frei von Ärger über die Widrigkeiten des Schicksals und frei von störenden Gedanken. Die Umstände bei seinem Aufenthalt in Venedig musste der erfahrene Offizier in den hintersten Winkel seines Kopfes verbannen. Das Ziel war wichtig.

Sein Volk und seine Heimat sollten wieder auferstehen. Losgelöst von den Herren der Pforte[4], die seinem geliebten Ägypten zwar die Steuern herauspressten, sonst aber herzlich wenig taten, außer jedes Jahr einen neuen pāšā[5] zu schicken – mit dem einzigen Unterschied, dass der frisch gekürte osmanische Gouverneur noch kostspieliger lebte als sein Vorgänger.

Nun wollte der erleuchtete Muhammad Bey Abū ad-Dahab, in dessen Adern reines Mamlukenblut floß, dem alten Tscherkessensultanat neues Leben einhauchen und Ägypten zu der Position im Spiel der Weltmächte zurückführen, die ihm seit Jahrtausenden zustand.

Mustafa umklammerte den Anhänger, der an einer goldenen Kette um seinen Hals hing. Seine rauhen Fingerkuppen nahmen jede der fein ziselierten Linien des Reihers auf, so als würde die Kraft des altägyptischen Gottes Benu direkt aus dem Amulett in ihn hineinfließen.

Schon glaubte Ibn Radh die Wärme der ersten Morgenröte zu spüren, wenn Benu als neugeborenes Wesen in Form eines Reihers seine Schwingen ausbreitete und mit kräftigen Schlägen die letzten Reste der Nacht und der Dunkelheit vertrieb.

Sein Schwur auf Phönix, wie er in den griechischen Schriften genannt wurde, hielt Mustafa aufrecht, gab ihm die Kraft seine Mission voranzutreiben. Benu konnte nur wiederauferstehen, wenn er nicht auf tönernen Füssen stand, sondern auf einem soliden Fundament.

Doch dafür brauchte Ägypten Geld. Der ehrenwerte Bey hatte richtig erkannt, dass die Freiheit von den Osmanen einen Preis hatte. Einen Preis, der nur mit einem starken Heer bezahlt werden konnte. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines autonomen Mamlukenstaates konnte aber nur durch intensiven Handel mit weltweit gefragter Ware errungen werden – doch ohne Einmischung der Pforte und der Serenissima.

Die großen Gewinne konnten die ägyptischen Händler nur im direkten Kontakt mit den Abnehmern in Österreich und Preussen machen. Aber wer waren diese Händler? Wo waren sie zu finden? Fragen, auf die Mustafa Ibn Radh Antworten in Venedig zu finden gehofft hatte.

Nach vielen Monaten und unzähligen Gesprächsversuchen war der von höchster Stelle beauftragte ägyptische Spion keinen Schritt weitergekommen. Die Venezianer waren nicht umsonst zu einer Handelsmacht aufgestiegen – ihre Geschäftskontakte und Handelsabmachungen waren besser gehütete Geheimnisse als das, was sich im Bett des Duca tat.

Ibn Radh hatte mit dem Schicksal zu hadern begonnen. Er war ein alay begi[6], gewohnt an hunderte Untergebene, die einen Befehl ihres ağa[7] mit blindem Gehorsam ausführten und nun war er hier mit nur mehr einem Mann – er weigerte sich, Ahmed als etwas Ernstzunehmendes anzuerkennen – und fühlte sich wie ein sürgün[8].

Trotz aller Privilegien, mit denen ihn der Bey ausgestattet hatte, war Mustafa zutiefst unzufrieden. Er war seinem Ziel, die Geldtöpfe im Kaffeehandel nach Europa anzuzapfen, keinen Schritt nähergekommen.

Und er war müde. Selbst unter Aufbringung allen interkulturellen Verständnisses, kam Mustafa Ibn Radh dem venezianischen Wesen nicht auf den Grund. Eine Art von Oberflächlichkeit, gepaart mit nervenaufreibender Dauerfröhlichkeit entsprach so gar nicht dem, was er beim osmanischen Heer kennengelernt hatte.

Er hatte das Gefühl, dass er in den letzten Monaten nicht ein ernst gesprochenes Wort gehört hatte. Den Rest seines Verstandes raubte ihm nun der carnevale. Nein! Trotz aller Worte des ehrenwerten Bey – er war ein sürgün.

Angestrengt starrte ağa Mustafa auf die schlichte Fassade des fondaco. Mustafa hatte lang genug über den Plänen des riesigen Hauses gesessen. Zum Canale hin fanden sich zwar die großen Bögen mit dem Haupteingang. Dorthin gelangte man aber nur übers Wasser und diesem Element misstraute der erfahrene Soldat aus Überzeugung.

Zusätzlich konnte er den eigenartig gebauten Nussschalen der Venezianer nichts abgewinnen und er wollte nicht auf ein solches Gefährt angewiesen sein, sollte die Situation eskalieren. Es hätte auch keinen Sinn ergeben, sich vom Wasser her zu nähern, denn alle Fenster der unteren Stockwerke waren mit Gittern verriegelt.

Um zum piano nobile[9] zu gelangen, hätte man fliegen müssen. Damit blieb nur die Rückseite des Kontors – doch auch hier vergitterte Fenster und eine verriegelte Tür.

Mustafa holte einen kurzen Dolch aus der Scheide an seinem Stoffgürtel und kauerte sich neben das Portal. Mit der Klinge machte er Kratzgeräusche an der Tür, während Osman in ein klägliches Miauen einfiel. Der getreue kethüdâ[10] hatte schon einige Tage zuvor dafür gesorgt, dass die Hauskatze des fondaco – solche gab es in jedem venezianischen Haushalt zur Bekämpfung des Rattenproblems – in den Tiefen der Lagune verschwunden war.

Nach einer Weile unterbrachen die Männer das Schauspiel und lauschten – keine Reaktion aus dem fondaco. Mustafa fing wieder an zu kratzen und deutete Osman lauter zu jaulen.

Plötzlich gebot der Anführer seinem Gehilfen Einhalt. Schlurfgeräusche drangen durch die Türe und laute Flüche machten den Unmut über die nächtliche Störung deutlich. „Porca puttana, quel gattacio lo ammazo.“[11]

Ein mächtiger Schlüssel wurde in einem komplizierten Eisenschloss herumgedreht und ein Riegel unter einigem Ächzen zur Seite geschoben. Ein letzter Ruck und die Tür des Handelshauses stand offen.

Keinen Augenaufschlag später erstarrte der Nachtwächter vor Schreck. Die aufblitzende Klinge nahm er im schwachen Kerzenlicht kaum wahr. Fast unwirklich schnell hatte der Eindringling seine Kehle erreicht. Jeglicher Aufschrei erstickte im Gurgeln seines eigenen Blutes.

Mit weit aufgerissenen Augen kippte der Fondacowächter nach vorne direkt in Osmans Arme. Der geübte Kämpfer nutzte die Kräfte der Physik und bugsierte den leblosen Körper ohne große Anstrengung in Richtung des ponte.

Bar jeder Gefühlsregung ließ er den Toten neben der Gondel ins Wasser gleiten und sprang dann selber ins Gefährt. Auf dem Boden tastete er nach einem Seil, das am anderen Ende eine kleine Eisenkugel hielt und griff nach einem Bein des Nachtwächters, der mit dem Rücken nach oben neben der Gondel schwamm. Mit flinken Fingern befestigte er das Gewicht an einem Fuß des Toten und sah ungerührt dabei zu, wie der Beweis für seine jüngste Tat in Richtung Meeresgrund verschwand.

„Bei uns leben die Hunde noch, wenn wir sie im Meer versenken.“ Osman schickte diese Worte dem Nachtwächter hinterher, so als wollte er unterstreichen, welch gnädiger Tod ihm widerfahren war.

Mustafa war mit Ahmed durch den Türspalt geschlüpft und wartete auf Osman, der mit einem Lächeln auf den Lippen zu ihnen aufschloss. Mit einem knappen Nicken beantwortete er Mustafas stumme Frage nach der Korrektheit der Ausführung seiner Aufgabe.

„Die Administrationsräume liegen dort hinten.“ Mustafa zeigte Richtung Canale Grande. Er nahm behutsam die Laterne, die der Nachtwächter auf einem kleinen Tisch neben der Eingangstür abgestellt hatte und deutete seinen Leuten mitzukommen.

„Was genau suchen wir, werter Ibn Radh?“ Ahmeds glitzernde Augen verrieten, dass er wahrscheinlich an Truhen voller Schätze oder Säcke voller Gold dachte.

„Schafskopf!“ Mustafa zischte den Jungen ungehalten an. „Wir brauchen dringend die Handelsdokumente aus dem ufficio[12].“

Ahmed, der in seinem Leben noch nie ein Wort geschrieben oder gelesen hatte, konnte sich wieder nur auf die neuerliche Beleidigung konzentrieren – Schafskopf, das hatte sofort eine Bedeutung, während sich der Begriff „Handelsdokument“ seinem Verstand völlig entzog. Auch sagten ihm die Zeichen wenig, die eingraviert in ein Messingschild auf der Tür standen, vor der die drei nächtlichen Besucher nun standen.

Doch Ibn Radh schien gefunden zu haben, was er suchte, und öffnete den Eingang zum Herz des Handels zwischen der Serenissima und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Die Osmanen waren bekannt für ihre ausgezeichnete, militärisch organisierte Verwaltung mit einer geradlinigen Befehlsstruktur. Der ağa gab einen Befehl aus, der sofort befolgt wurde. Aufzeichnungen wurden hauptsächlich im öffentlichen Bereich für die Verwaltung, für die Einhebung der Steuern und bei der Rekrutierung junger Soldaten gemacht.

Unter Händlern sprach man sich bei einem Kaffee ab – eine mündliche Übereinkunft und ein Handschlag genügten. Die korrekte Abwicklung jeglicher Vereinbarungen verstand sich schon als eine Frage der Ehre.

Es war offensichtlich ein Bedürfnis der europäischen Krämerseele, alles, aber auch wirklich alles, schriftlich festzuhalten.

Mit offenem Mund starrten die drei Entsandten aus Ägypten nun auf die deckenhohen Regale, die in dicht unterteilten Fächern tausende von Dokumenten enthalten mussten. Zwischen dicken Lederdeckeln stapelte sich Papier auf Papier und Foliant lag auf Foliant.

„Bei Allah ...“, entfuhr es Osman, der sich sonst kaum zu einer Äußerung des Erstaunens hinreißen ließ. Der schwache Schein der Laterne erreichte gerade das untere Drittel des Regals, vor dem die Männer standen. Eine großflächige Suche war undenkbar.

Unentschlossen strich sich Mustafa über seinen perfekt getrimmten Bart und starrte eine Weile grimmig vor sich hin. Dann sprach er ganz leise: „Wo hebst du etwas auf, das dir wichtig ist, Ahmed?“

Ob der plötzlichen Anrede fuhr der Junge fast zusammen. Erschrocken sah er sich um und wähnte schon jemand anderen im Raum, dem Ibn Radh gerade seine Gunst erwies.

„Äh, ... ganz in meiner Nähe?“ Ahmed hob unsicher seine schwarzen Augenbrauen.

„Genau.“ Mustafa lächelte kurz, drehte sich auf den Stiefelabsätzen in Richtung des größten Pults um und ging auf das Regal direkt daneben zu. In Arbeitshöhe lagen ein paar lose Blätter, die gerade erst in Bearbeitung gewesen sein durften. Der Anführer griff nach diesen Dokumenten und schüttelte den Sand runter, der die Tinte getrocknet hatte.

Gebieterisch winkte er Osman zu sich, damit er ihm die einzige Lichtquelle hielt.

Im flackernden Schein der fast heruntergebrannten Kerze überflog Mustafa die dicht beschriebenen Papiere, die zu einer Art Generalregister gehören dürften, auf dem die Warenflüsse festgehalten wurden.

Mehr und mehr verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen. „Unser Mann sitzt in Wien.“