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Inhalt

Prolog

Die Ukraine – Wo liegt sie?

Von der Hauptstadt in die Provinz

Bewegte Geschichte

»Kazantip« – Tanz auf dem Atommeiler

Die Ursprünge der Ukraine

Ist Ukrainisch nur ein russischer Dialekt? Kleine Lesehilfe für Schewtschenko, Borschtsch und Chreschtschatyk

Der Majdan – Revolution in Orange

Die Sprache als Brühe zum Garkochen der Widerspenstigen

Verabscheuen Ukrainer alles Russische? Nein, aber.

Probleme, Probleme – Die russisch-ukrainischen Beziehungen nach der Unabhängigkeit

Hungersnot, Holodomor – Holocaust?

»Vom San bis an den Don« und »Das Lied der Deutschen«

Über Panzer, Raketen und das beste Flugzeug der Welt

Tschornobyl – Erster Monat

Privatisierung, Verteilungskämpfe und Korruption

Religion – Die Gretchenfrage

Drei Flächen eines Brillanten

Das Riesenglück des Danylo Samojlowytsch

Im Anfang war die Röhre

Das rätselhafte Leben Jurij Kondratjuks und Olexandr Scharhejs

Der diskrete Charme Europas

Dicht beieinander Kleine vergleichende Gesellschaftskunde

Wie viel isst man in der Ukraine, und trinkt man Wodka nur aus 100-Gramm-Gläsern?

Der »Irre Löwe« und der Grand Prix von Paris

Die Bedeutung des Specks für die Demokratie

Die ukrainische Küche und ihre besten Rezepte

Borschtsch, wie ihn meine Mama kocht

Warenyky

Einige ukrainische (Ess-) Kleinigkeiten

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Basisdaten

Kontaktadressen und Einreisebestimmungen

Viktor Timtschenko

Ukraine

Einblicke in den neuen Osten Europas

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Für meine Mutter und meine Frau, die mir das Sprechen beigebracht haben.

Die Schreibweise der ukrainischen Namen folgt der Transkription aus dem Ukrainischen und nicht – wie früher – aus dem Russischen, weshalb beispielsweise Kiew als Kyiw und Lwow (Lemberg) als Lwiw erscheint. Odessa, im Ukrainischen nur mit einem s, wird der Aussprache folgend im Buch mit zwei s geschrieben. Es wurde keine wissenschaftliche Transliteration verwendet, sodass Weichheitszeichen auch nicht mit Apostroph dargestellt werden.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, April 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2009)

© Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Internet: www.linksverlag.de; mail@linksverlag.de

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos aus der

ukrainischen Hauptstadt Kyiw;

Titelseite: Majdan Nesaleshnosti (Unabhängigkeitsplatz)

mit der Unabhängigkeitssäule, dem unterirdischen Kaufhaus

»Globus« und dem Hotel »Ukraina« (Viktor Timtschenko, 2008)

eISBN 978-3-86284-157-8

Die Ukraine – Wo liegt sie?

Gerade nach Deutschland gekommen und mit jämmerlichen Sprachkenntnissen ausgestattet, startete ich 1990 – vermutlich dank meines unwiderstehlichen ukrainischen Charmes und des Journalistenmangels – als Wirtschaftsredakteur einer in Wendewirren geborenen Leipziger Zeitung. Als Ostjournalist, der bis heute vom Westen etwas Nachhilfe in Sachen Marktwirtschaft braucht, wurde ich mit vielen anderen zur Hauptjahresversammlung der Aktionäre der Dresdner Bank nach Frankfurt am Main eingeladen. Übrigens ohne bis dahin auch nur eine einzige Aktie gesehen zu haben. Zum Ausklang hatte man für uns einen Ausflug mit dem Management der Bank in ein hübsch gelegenes Restaurant vorbereitet. Eine damals für das Filialennetz der Bank in Ostdeutschland zuständige Dame, neben der ich zu sitzen kam, war sichtlich überrascht, dass manche ostdeutsche Journalisten so schlecht Deutsch sprechen. Sie zeigte aber diskret Verständnis für mein sozialistisches Bildungsniveau und fragte mich, woher genau ich käme, um vielleicht dort außerordentliche Vorkehrungen bei der Einstellung von Mitarbeitern zu treffen. Ich wollte erst die Preußen niedermachen und sagen, ich käme aus Berlin. Dann wurde mir der Ernst der Lage aber bewusst, und ich gab zu, aus der Ukraine zu stammen. Die Dame geriet ganz aus dem Häuschen: »Die Ukraine – wo liegt die?«, fragte sie mich allen Ernstes.

Die Antwort war einfach. Ich nahm ungeniert ihren Teller mit der angeschnittenen Schweinslende und rückte ihn in die Mitte des Tisches. »Das ist Deutschland«, erklärte ich und platzierte die Salatschüssel daneben, »und hier liegt Polen.« Nun schob ich meinen Teller samt Messer und Gabel rechts neben die Schüssel und zeigte mit dem Finger darauf: »Und das ist die Ukraine.« Der besseren Anschauung wegen wollte ich noch ein Glas vom dunkelroten, fast schwarzen Spätburgunder neben meinem Teller vergießen und so das Schwarze Meer mit der Halbinsel Krim in seiner ganzen Herrlichkeit präsentieren, doch hier unterschätzte ich meine Tischnachbarin: Sie hatte davon schon gehört, wie auch von Kyiw, dem Donezbecken und Tschornobyl (russ. Tschernobyl). So verlief meine erste Konfrontation mit den Ukrainekenntnissen der (West-) Deutschen.

Für die meisten Deutschen, im Osten wie im Westen, war die Ukraine auch noch nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 eine unbekannte Größe. Russland – ja, aber die Ukraine ... Die in der Sowjetunion erfahrenen Ossis zeigten sich mitunter etwas besser informiert, wenige verblüfften mich sogar mit genauen Kenntnissen. Für die Überzahl aber war die Ukraine ein Land »da rechts unten« auf der Landkarte Europas.

Es dauerte relativ lange, etwa bis zur »Orangenen Revolution« 2004, bis die Deutschen die Ukraine in ihren Köpfen vom großen Russland trennten und als selbständigen Staat betrachteten.

Dabei ist die Ukraine nicht gerade klein. Man spricht in der Ukraine gern über das Land, das – mit 603 700 km² – das größte in Europa ist. Dabei hört man ab und an etwas gedämpfter: »Außer Russland natürlich«. Und ergänzt ganz verlegen: »Nur flächenmäßig.« Was die Bevölkerung anbelangt, ist z. B. Deutschland fast doppelt so groß. Andere Größen sind eher weniger beeindruckend. So wurden 2008 in der Ukraine nur etwa 6000 Dollar pro Kopf Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwirtschaftet, in Frankreich und in Deutschland sind diese Zahlen etwa siebenmal höher.

Andere Zahlen sind eher weniger beeindruckend. Beispielsweise wurden 2007 in der Ukraine etwa 6941 Dollar pro Kopf Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwirtschaftet, in Frankreich und in Deutschland sind diese Zahlen etwa siebenmal höher.

Ich habe mich schon immer schwergetan mit der Neigung mancher Landsleute, jeden See zum tiefsten, jeden Berg zum höchsten oder jedes Feld zum fruchtbarsten zu erklären. Ich halte mich da an das Sprichwort: »Klein ist ein Goldstück, aber wertvoll; groß ist die Wiese, aber nur zum Wäschetrocknen zu gebrauchen.«

Die Ukraine ist ein so schönes Land, das selbst noch jeder Übertreibung standhalten würde: Da sind die atemberaubenden unendlichen Federgrassteppen im Donezbecken; die wunderschönen, gen Himmel ragenden Kathedralen in Kyiw; die heilenden Mineralwasserquellen in Truskawez; wir haben die Schwarzmeerstrände in Odessa; die großartigen Granitfelsen bei Mykolajiw; die griechischen Ausgrabungen in Chersones bei Sewastopol; es gibt die uralte unterirdische Kirche in Tschernihiw; den Switjas-See in Wolhynien; den märchenhaften Heilsalzschacht in Solotwyne; den berauschenden Nationalpark Askanija Nowa bei Cherson; die Kosakeninsel Chortyzja am Dnipro; nicht zu vergessen die winters wie sommers beeindruckenden Karpaten mit den – Tatsache! – größten Buchenwäldern Europas, die seit 2007 auch zum Weltnaturerbe der UNESCO gehören und inzwischen mehrere Skilifts und Pisten aufweisen; die kinderfreundlichen Kurorte am Asowschen Meer und natürlich Jalta auf der Krim; die Krim sowieso, mit mediterranem Klima, warmem Meer, geheimnisvollen Buchten, dem botanischen Garten »Nikita«; aber auch Alupka mit dem spektakulären Prachtbau Schwalbennest und dem Woronzow-Palast, in dem 1945 die Alliiertenkonferenz stattfand, die die Zukunft Deutschlands besiegelte; schließlich die sagenumwobenen Bergklöster, der Khan-Palast in Bachtschisarai, die Altstadt von Jewpatorija und Kreuzer an der Skyline bei Sewastopol ... All das sollte nicht reichen, um zu sagen: Die Ukraine ist ein wunderschönes Land!?

Nein, der ukrainische geographisch-geodätische Geist der Aufsässigkeit meldet sich verdrießlich zu Wort: »Und außerdem liegt das Zentrum Europas in der Ukraine, nicht weit von dem Karpaten-Städtchen Rachiw!«

In einer Zeit, in der schläfrige Brüsseler Behörden den Beitritt der Ukraine in die EU hinauszögern, sind wir bereits in Europa, und zwar nicht irgendwo am Rande, wie Portugal oder Norwegen, sondern in der absoluten Mitte, schwärmen Ukrainer. Dieses Zugehörigkeitsgefühl ist so stark, dass sie nicht lockerlassen möchten: Es gibt in der Ukraine einen Verlag »Zentrum Europas«, einen Wasserfall gleichen Namens und ein Folklorefestival »Europa-Zentrum«.

Diese Meinung – gelegentlich sogar vom Präsidenten Viktor Juschtschenko ausländischen Journalisten gegenüber vorgetragen – wird buchstäblich und unübersehbar untermauert von drei Monumenten im Dorf Dilowe nahe der rumänischen Grenze. Bereits 1887 stellten hier Geographen der Wiener Kaiserlich-Königlichen Akademie der Wissenschaften des Österreichisch-Ungarischen Reiches (die Karpaten gehörten damals als Königreich Galizien und Lodomerien zum k. u. k.-Reich), das Zentrum Europas fest. Mit einer kleinen Abweichung von wenigen Metern orteten fast 100 Jahre später sozialistische Wissenschaftler, gewiss in Anwendung der geodätischen Errungenschaften des Marxismus-Leninismus, hier erneut das Zentrum Europas und errichteten ein weiteres Achtungszeichen. Damit nicht genug, investierte der Staat nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung 1991 viele Dollar in ein drittes, noch pompöseres Monument. Im Bewusstsein endlich errungener Freiheit gestattete man sich ebenfalls eine leichte Abweichung von den beiden bereits präzise berechneten Standorten. Etwaigen Anfechtungen begegnen die Ukrainer gelassen; schließlich sei der Null-Meridian im englischen Greenwich auch mehrmals verschoben worden.

Und spricht es nicht für sich, dass es von Rachiw in Richtung Nordosten bis nach Kyiw 500 und nach Moskau 1500 Kilometer sind, gen Westen nach Budapest 380, bis nach Wien 600, etwa 1000 nach Berlin, 1730 bis nach Genf und gen Süden 1850 nach Rom? Zentraler geht es ja wirklich kaum!

Und dennoch: Liegt das Zentrum wirklich dort?

Der polnische Regisseur Stanislaw Mucha hat einen Film – »Die Mitte« – gedreht, in dem er den Versuch unternahm, in all den Ländern zu filmen, wo solche Steine vom »Zentrum Europas« liegen. Insgesamt waren es 12 – darunter Deutschland, Österreich, Tschechien, die Slowakei, Polen, Litauen und eben die Ukraine.

Aber spätestens, wenn Mucha verblüfft feststellt, dass die Einwohner von Rachiw im Durchschnitt vier bis fünf Sprachen sprechen, teilt man das Gefühl, sich echt in der Mitte Europas zu befinden. Der babylonische Wirrwarr aus Ukrainisch, Polnisch, Russisch, Deutsch, Jiddisch, Rumänisch, Ungarisch, Italienisch, Serbisch, Slowakisch ist entstanden, ohne dass die Menschen ihr Städtchen verlassen mussten, aber trotzdem vorübergehend bis zu neun verschiedenen Staaten angehörten. Das ist Ausdruck der wechselvollen Geschichte des Landes, von der noch ausführlicher die Rede sein wird.

Von der Hauptstadt in die Provinz

Ich setze mich in den Zug und fahre von Chmelnyzkyj, einem Gebietszentrum im Westen des Landes, über Kyiw Richtung Debalzewe, einem eher unbekannten Eisenbahnknoten im »fernen Osten« der Ukraine. Ich fahre zu meiner Mutter, also in meine Heimat, nach Hause.

Vergessen Sie alles, was Sie von Bahnreisen in Deutschland erwarten, in meinem Heimatland ist Reisen noch ein wirkliches Abenteuer! Von wegen planen, buchen und losfahren! Für die über 1300 Kilometer lange Strecke zwischen dem Westen und Osten der Ukraine und den immerhin 900 Kilometern auf der Nord-Süd-Achse brauchen die Züge bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 50 km / h lange, sehr lange. Also führen die Züge nahezu ausschließlich Schlafwaggons, daher ist eine Platzbuchung Pflicht. Somit ist die Anzahl der Plätze logischerweise immer begrenzt, und das Abenteuer beginnt beim Kauf der Fahrkarte. In den Sommermonaten sind die Plätze gen Süden (und zurück) grundsätzlich ausverkauft, in den restlichen Monaten ist es Glücksache, ob man für den gewünschten Tag eine Fahrkarte bekommt. Man kann am Schalter nie sicher sein, von Online-Kauf ganz zu schweigen, das ist Zukunftsmusik. Der Weg zum Bahnhof ist unumgänglich, und wenn man in der Schlange steht, steigt die Spannung.

Wo immer es Engpässe gibt, sind stets auch gerissene Typen zur Stelle, die daraus ihren Vorteil ziehen. Auf den Bahnhöfen verfügen sie über nützliche Connections zu den Frauen hinter den Schaltern, die ihnen die Mangelware Fahrkarte zu einem gewissen (privaten) Aufpreis feilbieten. Wer also zu einem bestimmten Zeitpunkt reisen muss und über keine Beziehungen verfügt, ist darauf angewiesen, diesen Halunken die Karte zum doppelten oder dreifachen Preis abzukaufen. Da die Nachfrage immer groß und die Handelsspanne attraktiv ist, entwickelte sich dieser Markt vor einigen Jahren zu einer »Geschäftsbranche« mit mafiaähnlicher Struktur. Die ukrainische Eisenbahn sah sich deshalb gezwungen, Fahrkarten nur noch gegen Vorlage eines Personalausweises zu verkaufen. Die Billetts werden wie schon früher nicht im Zug selbst, sondern vor dem Einstieg kontrolliert. Der Schwarzhandel ging zurück. Seit Ende 2007 kann man Fahrkarten wieder anonym kaufen. Ob das ein Zugeständnis an die Datenschützer war, die das personengebundene Verfahren anprangerten, oder an die kriminelle Lobby, ist ungewiss. Fest steht: Der Erwerb von Fahrkarten bleibt ein Problem und mutet in unserem computerisierten Zeitalter anachronistisch an. Wer in Spitzenzeiten nach zeitraubendem Nervenkitzel tatsächlich nicht nur für den geplanten Tag, sondern vielleicht auch noch eine Fahrkarte für einen Abteilwagen ersteht, hat wahrlich Grund zu feiern. Man kann sich in diesem Fall nämlich auf eine bequeme, beschauliche Reise freuen. Diese ist möglich in einem Abteil der ersten Klasse für zwei Personen und wird vorwiegend von Kunden aus der oberen staatlichen Verwaltungsschicht genutzt, die auf Staatskosten reisen. Reiche Unternehmer oder Politiker bevorzugen wie überall auf der Welt Auto oder Flugzeug.

Die ukrainische obere Mittelklasse reist im »Coupé« der Zweiten Klasse, einem Abteil mit Schlafgelegenheiten für vier Personen und einem Tisch in der Mitte. In solch einen Waggon passen insgesamt 36 Personen.

Die untere Mittelklasse muss sich mit einem Plätzchen in einem sogenannten Platzkarten-Waggon begnügen, der dem Coupé-Waggon fast gleicht, nur gibt es keine Türen vor den Abteilen. Da es in diesen Waggons etwas enger zugeht, können damit immerhin 52 Passagiere befördert werden. Tagsüber geht es hier relativ kultiviert zu. Gegen Abend wandelt sich solch ein Waggon gern zu einer Art kleiner Militärkaserne oder gleicht einem Flüchtlingslager: Es wird auf engstem Raum gegessen, getrunken, gelesen; Frauen und Männer kleiden sich zur Bettruhe um. Alles schön gemeinsam. Und wer nachts zur Toilette muss, nimmt die Parade der besockten Füße ab ...

Über den Zustand der Toiletten breiten wir den Mantel des Schweigens. Doch es sei gesagt, dass es sich bessert mit den »Örtchen«; sie sind inzwischen sauberer, man findet Seife und Papier. Schwierig wird es aber doch, wenn man beispielsweise schon zwölf Stunden von insgesamt 24 auf der Strecke von Berlin nach Kyiw unterwegs ist und die Örtchen bei jedem Halt vom Zugpersonal geschlossen werden, da die Konstruktion keine Behälter vorsieht und man den Bahnhof nicht verschmutzen will … Und so ein Halt kann Stunden dauern, vor allem bei Radwechsel, denn – Sie wissen es vielleicht noch aus der Schule – die sowjetischen Bahnspuren waren schon immer eine Hand breiter als die europäischen, und sie sind es noch immer.

Ich fahre in solchen Zügen von Kindesbeinen an, und wer sich wie ich immer wieder auf das Abenteuer einlässt, wird mit überraschenden Vorzügen belohnt: Jeder kann sich in frische Wäsche betten, seit kurzem wird sie eingeschweißt in einen Plastikbeutel ausgehändigt. Und natürlich der Tee! Nirgendwo schmeckt er so gut wie im Zug. Man schlürft Tee und plaudert mit den Mitreisenden. Wenn Sie in einem inländischen Zug durchblicken lassen, dass Sie aus Deutschland kommen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie sich auf ein Abendbrot mit hochprozentigem Wässerchen einlassen. Aber auch auf eine Debatte bis Mitternacht über Umwelt, steigende Preise, die NATO, über Raumfahrt, Gott, Landwirtschaftserfolge bzw. -niederlagen, über Familienplanung, die EU, korrupte Politiker, Hühnerzucht und Fußball. Sie hören Geschichten über die Schwiegertochter (alternativ: Schwiegermutter), Armeeerinnerungen oder Überlegungen zur großen (alternativ: geringen) Bedeutung der Ukraine in der Welt. Damit ist die Themenpalette nur angerissen, aber noch lange nicht ausgeschöpft.

Will ich meine Ruhe haben, schweige ich lieber: Ich habe es leicht, ich spreche Ukrainisch akzentfrei und kleide mich unauffällig. Diesmal sitzen mir zwei Hochschullehrer aus Riwne gegenüber, einem Gebietszentrum im Westen. Sie wollen nach Slowjansk im Donezbecken, wo sie für Fernstudenten ihrer Hochschule Vorlesungen halten werden. Sie plaudern über ihre Studenten und ihre älteren Kollegen Professoren. Alle seien faul; Erstere, weil sie nicht lernten, Letztere, weil sie ihre jüngeren Kollegen auf die 18-stündige Tour nach Slowjansk schickten. Sie stöhnen über das ihnen zugemutete zweifelhafte Vergnügen. Es erstaunt mich, wie offen die beiden über Schmiergelder reden, die sie und ihre Kollegen von den Studenten bekommen. Gezahlt wird für die Immatrikulation, für Semesterprüfungen, für Studienarbeiten und sogar Diplome.

Ich weiß, dass sie nicht viel verdienen, umgerechnet etwa 230 Euro im Monat, ein Professor bekommt ungefähr 280 Euro, ein Student aber ein Stipendium von nur 20 Euro. Woher also das Geld kommt, bleibt ein Rätsel.

Zu meiner Studienzeit war es nicht üblich, die Dozenten zu »schmieren«. Natürlich kauften wir am Prüfungstag für den Lehrer einen üppigen Blumenstrauß, stellten Mineralwasser auf den Tisch, aber schmieren – das wäre unerhört gewesen! Erst später hat sich das fest eingebürgert. Inzwischen gelten für die verschiedensten Leistungen an den Hochschulen feste Tarife – angegeben in Dollar, in »Bucks«, wie moderne Ukrainer auf amerikanische Art sagen. Hochschullehrer und Ärzte werden fast alle »geschmiert«, mehr noch als Richter, Verkehrspolizisten, Feuerwehrleute, Hygienekontrolleure oder Verwaltungsbeamte …

Ursache der Korruption sind die niedrigen Löhne; sie sind wirklich miserabel! 2008 lag der Durchschnittslohn bei 1800 Hrywnja brutto, das entsprach etwa 240 Euro. Aber ein Durchschnittslohn sagt nichts über die Extreme, es gibt zum Beispiel große regionale Unterschiede. In Kyiw, mit seinen zahlreichen Staatsbediensteten, Politikern, Bankern; in Donezk, Saporishsha oder Dnipropetrowsk, wo Bergbau und metallverarbeitende Industrie zu Hause sind, fallen die Löhne höher aus. In den ländlichen Gegenden, in Ternopil, Tschernihiw, Cherson, Wolhynien, Chmelnyzkyj oder Winnyzja sind es am Monatsende meist nicht mehr als 140 bis 150 Euro. Hier entspricht der Verdienst von Ärzten und Lehrern noch lange nicht dem Landesdurchschnitt.

Die Löhne der Beamten und die Renten (um die 110 Euro) steigen zwar Jahr für Jahr, aber mit ihnen auch die Teuerungsrate – um 12 bis 22 Prozent (2008) jährlich. Das Lebensniveau der Ukrainer verbessert sich sichtbar, doch viel langsamer, als man sich wünscht.

Die Löhne der Arbeitnehmer in privaten Betrieben sind differenzierter gestaffelt. In Kyiw sind erfreuliche 800 Euro im Monat üblich, in der Provinz aber auch 50 Euro möglich.

Manche hauptstädtischen Unternehmen vergeben ihre Produktionsaufträge nicht an »Billigländer« wie China oder Indien, sondern an Firmen in der ukrainischen Provinz und halten damit die Kosten niedrig.

Die »Privaten« sind dafür bekannt, einen Teil des Lohns häufig »schwarz« zu zahlen. Für die Firmen ist das günstig; sie müssen dafür keine Sozialleistungen abführen. Die »schwarzen Zuwendungen« werden monatlich in einem Kuvert gezahlt. Diese Kuvertlöhne sind für rapide steigende Autoverkaufszahlen in der Ukraine verantwortlich – trotz zweitschlechtestem Einkommensniveau in Europa.

Langsam begreifen aber die Bürger, dass sich aus dem Kuvertlohn keine Rente ergibt, und immer mehr Menschen streben deshalb »weißen Lohn« an, mag’s vielleicht auch etwas weniger sein. Wer also bei einem Einstellungsgespräch über die Höhe seiner Entlohnung verhandelt, muss abklären, ob es sich um eine »schwarze« oder »weiße« Summe handelt. Es ist zu hoffen, dass damit die immer noch gängige Schattenwirtschaft nicht von oben, sondern mit dem Druck von unten allmählich abgebaut wird.

Wenn mein Blick aus dem Abteilfenster hinaus über die unendlichen Steppengebiete um Poltawa und südlich von Charkiw schweift, fällt auf, dass die Räume zwischen den besiedelten Gebieten in der Ukraine größer, ausgedehnter, gewaltiger und deshalb eindrucksvoller als im dichtbesiedelten Deutschland sind. Fährt der Zug an Feldern vorbei, scheint mir, als gäbe es weniger brachliegende Felder als noch zu Beginn des neuen Jahrtausends. Viele Erntemaschinen ziehen ihre Bahn, auch abends und nachts. Ihre Lichter erhellen die dichten Staubwolken. Trotzdem ist die Landwirtschaft Knochenarbeit geblieben und wenig einträglich. Es sei denn, man nutzt die Gesetze der modernen Marktwirtschaft, wie meine Bekannten Georgij und Oxana aus Kyiw. Sie sind auf intelligente Weise zu neuem Reichtum gekommen und inzwischen Dollar-Millionäre geworden. Wie fast alle ukrainischen Millionäre treten sie eher bescheiden auf, obwohl man ihnen eine gewisse Lässigkeit anmerkt. Sie lieben Malerei und Musik. Oxana führt sogar eine eigene Galerie auf der berühmten Kyiwer Kunst- und Kulturmeile Andrijiwskyj uswis.

Von Beruf ist Georgij Informatiker. Als in der Sowjetunion privates Unternehmertum erlaubt wurde, schloss er sich mit ein paar Gleichgesinnten zu einer Gesellschaft zusammen und fing an, Programme zu schreiben und Computer zu verkaufen. Das brachte Geld, aber noch mehr Nachahmer. Irgendwann war das Geschäft nicht mehr lohnend, und die inzwischen marktwirtschaftserprobten Computerfreaks suchten sich ein anderes Beschäftigungsfeld. Sie kamen auf die Landwirtschaft, speziell auf Zuckerrüben. Heute haben er und seine Gesellschafter Tausende von Hektar Schwarzerde gepachtet und besitzen zwei Zuckerfabriken.

Wie es scheint, ist die moderne ukrainische Landwirtschaft eine echte Goldgrube. Doch brauchte es eine Menge Kalkül, bis Georgij und seine Partner da waren, wo sie heute sind. »Wir hatten alle keine Ahnung von Zuckerrüben und Zuckerherstellung, aber wussten, dass die Ukraine dafür den richtigen Boden hat und die Menschen viel Erfahrung mitbringen, auch wenn die Ernteergebnisse noch weit entfernt von der Weltspitze lagen«, erzählt er.

Als Erstes suchten sie geeignete Flächen. Sie studierten Erntestatistiken und sprachen mit den Leuten aus den Regionen, werteten Satellitenbilder aus und ließen Bodenproben analysieren. Erst dann haben sie die Felder gepachtet. Maschinen kauften sie im Westen, wie auch Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel, zum Teil auf Kredit und in der Hoffnung, es würde sich rentieren. Sie orientierten sich an westlicher Technologie, um mehr als den bis dahin üblichen Ertrag zu erwirtschaften. In den ersten Jahren waren die Kyiwer abwechselnd Tag und Nacht auf den Feldern und gingen rigoros gegen Schlamperei vor. Nachsicht gegen nicht ausgenüchterte Traktoristen hätte sie Hunderttausende kosten und in den Ruin führen können.

Jetzt seien sie über den Berg, so Georgij. Die Technologie sei erprobt, die Arbeiter zuverlässig, die Technik fast abbezahlt. Aber um die frisch erworbene zweite Zuckerfabrik mit Rohstoff zu versorgen, waren neue Ländereien erforderlich. Das verlangte neue Technik und wieder neue Fachkräfte, die es gewohnt waren, nach den sprichwörtlichen deutschen Maßstäben zu arbeiten.

In der Ukraine werden durchschnittlich ca. 190 Dezitonnen Zuckerrüben pro Hektar geerntet. Georgij ist schon längst über die doppelte Menge hinaus. Der Zuckergehalt von Hackfrüchten liegt gewöhnlich unter 14 Prozent, bei Georgij & Co. aber über 20. Viele Landwirtschaftsbetriebe kämpfen mit dem Diktat der Zuckerfabriken, bei Georgij bilden sie ein Glied in der Verwertungskette. Deshalb ist er jetzt Millionär.

Wie ich später von Sascha, einem älteren Kumpel aus Kinderzeiten, erfahren sollte, hat auch er sein spätes Glück in der Landwirtschaft gefunden. Eigentlich sollte er längst in Rente gehen – er war »Milizionär« –, doch das wollte er nicht. Er blieb weiter im Dienst, bis die Regierung eines Tages die Bezüge kürzte. Jetzt musste er sich etwas einfallen lassen. Er pachtete einige Hektar Land und beschloss, dort Sonnenblumen wachsen zu lassen. Tausende Hrywnja investierte der alte Sascha in das Vorhaben. Im ersten Jahr ging die Sache fast schief. Der Neubauer holte jedoch nach dem Verkauf der Ernte immerhin seine Investition wieder rein, die Rechnung ging also plus / minus Null aus. Aber es war eine schwarze Null, und auf der Positivseite stand eine wichtige Erfahrung. Sascha riskierte es noch einmal und baute im folgenden Jahr wieder Sonnenblumen an. Diesmal erntete er 20 Dezitonnen pro Hektar. Inzwischen waren die Preise für Sonnenblumenöl und dementsprechend auch für Sonnenblumenkerne gestiegen. Saschas Erlös aus der Ernte belief sich auf das Zehnfache seins investierten Geldes. »Ich bin jetzt ein Knecht auf dem Feld«, kommentiert der glückliche Schatzsucher seinen unternehmerischen Aufbruch, und seine Augen glänzen zufrieden.

Wie es scheint, gibt die ukrainische Erde etwas zurück, wenn man viel Mühe und genug Geld in sie hineinsteckt. Was Saschas Sonnenblumen angeht, so ist das Ende der möglichen Erträge längst nicht erreicht. Die Region Charkiw ist eines der günstigsten Anbaugebiete für Sonnenblumen!

Insgesamt lag 2007 die Rentabilität der ukrainischen Landwirtschaft durchschnittlich bei 20 Prozent. Das ist die höchste Rentabilität seit Jahrzehnten. Also doch »Kornkammer Europas« in spe? Neben Zuckerrüben und Sonnenblumen wird über Rapsanbau nachgedacht. Es gibt Unternehmen, die bereits bis zu 200 000 Hektar Land langfristig vom Staat gepachtet haben. Auch Ausländer zeigen an ukrainischem Grund und Boden Interesse. Bei einem Preis von über 500 Dollar pro Tonne Raps auf dem Weltmarkt rechnen die Firmen mit Millionengewinnen.

Natürlich sieht es nicht überall so rosig aus. Die Getreideernte liegt im Landesdurchschnitt bei 13 bis 16 Dezitonnen pro Hektar (2008 in Deutschland 46,5 Dezitonnen Roggen, 76,5 Weizen pro Hektar), in einigen Gebieten jedoch nur bei sieben. Das ist nicht mehr als in den spärlichen und von Hunger gezeichneten Nachkriegsjahren. Aber auch früher nie gesehene 50 Dezitonnen und mehr sind keine Seltenheit mehr. Das Erfolgsgeheimnis: Die Landwirtschaftsmaschinen der Ukrainer heißen derzeit nicht mehr »Niva« und »Kolos«, früher die meistverbreiteten sowjetischen Fabrikate, sondern »John Deer«, »Case« und »Lexion«.

Wendige »Bisnesmeny« haben auch den Duft des Milchgeldes aufgespürt. Die alten Bäuerinnen in den Dörfern, die mit ihren Kühen 80 Prozent der Milchproduktion des Landes sicherten, sterben aus. Jüngere, die bereit sind, Kühe zu füttern, Ställe auszumisten und zweimal täglich zu melken, finden sich zunehmend seltener. Deshalb sank die Produktion, und der Preis für Milch stieg von 60 bis 70 Kopeken pro Liter im Jahr 2002 auf drei Hrywnja 2007. Jede beliebige Käsesorte ist heute nicht billiger als in Deutschland. Der jährliche Konsum der Milchprodukte wächst konstant um zwei Prozent.

Große Firmen, die ihr erstes Geld mit Sonnenblumen und Zucker verdient haben, kaufen jetzt alte Milchfarmen auf, bauen neue und pachten Land. Schließlich müssen die Kühe gut gefüttert werden. Fachleute sind der Meinung, die Rentabilität solcher Firmen liege bei 60 Prozent. Einzige Sorge: In der landreichen Ukraine fehlen freie landwirtschaftliche Flächen. Das hat eine wahre Goldgräberstimmung ausgelöst: Obwohl der Verkauf von landwirtschaftlichen Nutzflächen noch nicht erlaubt ist, sind die meisten Ländereien bereits an neue Bauern verpachtet. Deutsche, Österreicher, aber vor allem Polen sind in der Ukraine auf der Suche nach freien Feldern unterwegs. Sie pachten einige Tausend Hektar mit der Option auf das Vorkaufsrecht und hoffen auf einen satten Gewinn in kürzester Zeit. Zukünftige Probleme sind vorhersehbar: Ein Pächter ist kein Eigentümer! Ein Eigentümer sorgt für den Boden, wechselt Anbaukulturen, düngt ausreichend und vielseitig, bearbeitet den Boden schonend. Ein Pächter hinterlässt die Spuren von Heuschrecken, die über ein Feld herfallen.

Der Zug kommt in Barwinkowe, meiner Heimatstadt, an. Wie immer holt mich mein Bruder vom Bahnhof ab. Wir laufen durch den Park, am Kulturpalast des Maschinenbauwerks »Roter Strahl« vorbei, einst größter Arbeitgeber der Stadt. Auch mein Bruder hat dort als Gummivulkaniseur angefangen.

Der dreistöckige Kulturpalast beeindruckt mit seiner pompösen Architektur wie eh und je. In seinem großen Foyer fanden zu meiner Zeit Tanzstunden statt. Schon als Kind lernte ich hier den ukrainischen Hopak, aber auch Wiener Walzer, Tango und Polonaise. Jugendzirkel hatten ihre Studios im Palast, und er führte die größte Bibliothek des Ortes. »Die Bibliothek gibt es nicht mehr«, sagt mein Bruder bekümmert, als ob er meine Gedanken lesen würde. »Kein Geld.«

Früher wurden die Kultureinrichtungen durch das Werk finanziert, und ein Kindergarten noch dazu. Jetzt gibt es keine Arbeit mehr im Werk, die Werkbänke und Maschinen wurden von der Verwaltung verschleudert, das Riesenareal ist geplündert wie in Kriegszeiten, und es gibt nur noch für einige wenige Arbeit.

»Und die Kreisbibliothek?«, frage ich, »existiert sie wenigstens noch?«

»Die gibt es noch«, antwortet mein Bruder, »aber sie haben kein Geld für neue Bücher. Die Buchausleihe ist deshalb kostenpflichtig. Jetzt tauschen wir oft Bücher unter Freunden.«

Nicht nur für Lesefans wie meinen Bruder ist das ein herber Einschnitt. Es wurde viel gelesen im Land und jetzt gibt es nicht mal mehr einen Buchladen im Ort. Und kaum Abwechslung. Nur Arbeit, Fernsehen und Schnaps.

Damit liegt das Städtchen voll im Trend: Gab es 1991 in der Ukraine noch über 3000 Buchläden, so sind es heute nur noch knapp 500 – statistisch gesehen also ein Buchladen auf 100 000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland oder im Nachbarland Polen fällt ein Buchladen auf etwa 10 000 Einwohner. Intelligente ukrainische Leser haben ausgerechnet, dass die Ukraine zehn Jahre lang jeden Tag einen Buchladen eröffnen müsste, um das heutige Niveau dieser Länder zu erreichen.

Der große Saal des Kulturpalastes diente vor allem als Versammlungsort für feierliche Anlässe. An Festtagen stand auf der Bühne ein roter Tisch für das Präsidium.

Eine Zeit lang hatte hier sogar ein Volkstheater sein Zuhause! Das war eine kleine Sensation in Barwinkowe! An den Abenden, an denen keine andere Veranstaltung geplant war, flimmerten im Kulturpalast Filme über eine Leinwand. Insgesamt hatten wir in der Stadt drei Kinos und im Sommer noch ein Freiluftkino dazu. Das war nicht ungewöhnlich; es gab in der Ukraine 25 000 Filmtheater.

Der Filmvorführer im Palast, ein gewisser Onkel Wanja, sorgte immer wieder für neue Filme, und die Kassenfrau Tante Natascha ließ uns Kinder auch mal in eine Abendvorstellung. Oder wir gingen zum Freiluft-Sommerkino und krochen hinter die Leinwand. Dort konnte man fast ungestört den Film genießen, nur der Projektor blendete.

Heute gibt es kein einziges Kino mehr im Städtchen. Im ehemals Besten namens »Stern« residiert jetzt ein Bestattungsunternehmen. Das Kino liegt symbolisch bestattet in den ausgestellten Särgen. Da bleiben nur Fernsehen oder DVD. Die Auswahl ist gewaltig, aber auf russische Filme beschränkt und auf Produktionen aus Hollywood, Hollywood und immer wieder Hollywood. Um einen ukrainischen Film zu sehen, muss man schon in die Hauptstadt fahren. Zurzeit werden sehr wenige ukrainische Filme produziert, und von den mit Mühe produzierten existieren nur wenige Kopien.

Aber bevor ich wieder nach Kyiw aufbreche, möchte ich noch etwas Dringliches erledigen. Dazu fällt mir eine Redensart ein: »Puschkin ist tot und mir ist auch schon ganz übel.« Die Ukrainer haben eine andere Einstellung zum Kranksein. Es gilt als Fauxpas, mit Schnupfnase herumzulaufen und am Esstisch zu schniefen. Einen Kollegen mit Husten versteht man nicht als Held, sondern als Infektionsherd. Wenn ein Ukrainer Fieber hat (das ist schon über 37,0 Grad der Fall), rennt er nicht gleich zum Arzt (oder nur um einen Krankenschein zu bekommen), sondern legt sich ins Bett und unternimmt alles, um schnellstmöglich gesund zu werden. Deshalb gibt es Apotheken wie Sand am Meer und viele kennen sich dort wie in ihrer eigenen Westentasche aus. Man wird also in den Herbstmonaten viel weniger erkälteten Leuten begegnen als in Deutschland

Ich habe zwar keinen Schnupfen, aber da ich im Urlaub bin und viel Zeit habe, gehe ich in Barwinkowe zum Arzt. Irgendetwas scheint schon seit langem mit meinem Herzen nicht in Ordnung zu sein. Man kennt das: Es schmerzt noch nicht wirklich, aber es macht unruhig. Ich bin ohne Auslandsversicherungsschein, ohne Krankenkarte, auch ohne das bei so einer Gelegenheit zwingend fällige Schmiergeld. Ich komme mit meinem Bruder. Der ist selbst Arzt, und freundschaftliche Beziehungen zählen hier so viel wie oder sogar mehr als Geld.

Der Kardiologe untersucht mich. Er plaudert währenddessen mit mir über Gott und Europa, nimmt sich Zeit, schickt mich aber weder zum Röntgen noch zur Blutabnahme. Er horcht mich ab, palpiert, klopft, wie ein Schamane schaut er mir auf die Zunge und in die Augen … und stellt seine Diagnose – dieselbe wie mein deutscher Hausarzt, allerdings nach deutlich kürzerer Zeit und mit erheblich weniger Aufwand.

Wohl dem, der einen Arzt zum Bruder hat! Ist man auf die von der Verfassung garantierte »kostenlose« medizinische Versorgung angewiesen, nimmt man besser einen grünen amerikanischen Geldschein mit, sofern man einen hat. Man zahlt dem Arzt etwas für seine Diagnose, den Schwestern für die Injektionen. Man bezahlt den Chirurgen für die Operation, man schiebt dem Pfleger etwas zu, man zahlt für den Verband, man zahlt für Medikamente und bringt auch besser seine Bettwäsche und sein Essen von zu Hause mit. Doch das alles bietet noch keine Garantie dafür, dass man auch die bestmögliche Betreuung bekommt. Es schafft lediglich ein besseres Gefühl.

Die Ukraine hat traditionell sehr gute Ärzte. Sie erhalten eine ausgezeichnete Ausbildung und haben meines Erachtens noch nicht verlernt, den Menschen und seinen Organismus als Ganzes zu betrachten. Zur Diagnostik, aber auch zur Behandlung von mittelschweren Krankheiten würde ich mich ohne Sorge in ein ukrainisches Krankenhaus begeben. Vorausgesetzt, ich könnte für meine Behandlung bezahlen. Die Probleme kommen, wenn es zur eindeutigen Diagnose moderner medizinischer Geräte bedarf.

In der Regel gibt es zwar in jedem Krankenhaus ein Röntgengerät, die Bilder sind aber nicht sofort abrufbar und nur schwer leserlich. In der Regel gibt es fast in jedem Krankenhaus auch ein Ultraschallgerät, doch ist nicht damit zu rechnen, dass es in jedem Fall funktioniert bzw. dass einen Arzt gibt, der damit entsprechend umgehen kann. Deshalb sind für manche Untersuchungen bisweilen Fahrten in eine andere Stadt oder sogar in ein anderes Gebiet notwendig.

In den großen Städten gibt es durchaus modern eingerichtete, aber private Kliniken. Die Preise für einfachste Diagnosen liegen dort so hoch, dass nur vermögende Bürger diese Dienste in Anspruch nehmen können – schätzungsweise etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Diese Dienste werden gern angenommen, aus der Überzeugung heraus, dass das, was teuer ist, nur gut sein kann. Deshalb gehen die Reichen in die privaten Kliniken – zahlen für eine Entbindung 6000 Dollar oder für eine Krebsbehandlung mehrere Tausend.

In den Großstädten tun sich die besten medizinischen Kräfte, Professoren und Dozenten der Hochschulen, Chefärzte staatlicher Kliniken, zusammen und gründen private Diagnosezentren, um ihren niedrigen staatlichen Verdienst aufzubessern.

Jeder kennt die Zustände im Gesundheitswesen des Landes, und der Wunsch nach einer solidarischen Krankenversicherung wird größer. Doch die Einführung einer funktionierenden Krankenversicherung geht nur schleppend voran. Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei Gründe: Zum einen fehlt es an Erfahrungen und dem richtigen Management (mit einem Know-how-Transfer aus Deutschland wäre dem abzuhelfen), zum anderen – und das ist aus meiner Sicht die größere Schwierigkeit – haben die Menschen meiner Heimat kein Vertrauen in Versicherungen. Und das aus gutem Grund!

Um das Problem zu verdeutlichen, sei eine Episode mit meiner Mutter erzählt: Ich sitze in meinem Geburtshaus, als sie schimpfend ins Zimmer tritt.

»Was ist?«, frage ich.

»Der Versicherungsmann war da und wollte unser Haus versichern, der Halunke. Als ob ich nichts Besseres zu tun habe, als mein Haus zu versichern!«

Meine Mutter hat das Haus, in dem sie seit Jahrzehnten wohnt, »privatisiert«: In den frühen 90er Jahren wurden Häuser spottbillig an die Bewohner abgegeben, ja fast verschenkt; niemand in der Ukraine spricht in diesem Falle von »Verkauf«. Wie alle neuen Besitzer ist auch meine Mutter jetzt für alles zuständig, unter anderem auch für die Versicherung.

»Ist das Haus überhaupt nicht versichert?«, frage ich vorsichtig, und eine böse Vorahnung entströmt meiner »angedeutschten« Seele.

»Natürlich nicht. Warum soll ich das Geld für nichts und wieder nichts aus dem Fenster werfen?«

»Auch nicht gegen Feuer, Wasser und Sturm?«, bete ich die in Deutschland gelernten Grundsätze her.

»Nein!«

Meine Mutter ist eine vernünftige Frau. Aber sie ist 85. In dem Alter ist man ab und an nicht mehr so einsichtig und flexibel wie in jungen Jahren. Deshalb lasse ich mich mit ihr auf keine Diskussion ein und gehe zu einer Bank, die auch Versicherungsdienste anbietet. Ich werde das Haus im Namen meiner Mutter gegen das Nötigste versichern, damit nicht nur sie, sondern auch ich in der Ferne Ruhe habe.

Die Filiale ist klein, ich rede mit dem Filialleiter.

»Haus? Versichern? Wozu denn das?«, fragt er mich verdutzt.

Ich erkläre ihm, dass man große Sachwerte (Immobilien) gegen gängige Gefahren absichern sollte, damit man im Schadensfall nicht ohne Dach überm Kopf auf der Straße steht.

»Ja«, sagt der einsichtige Filialleiter, »wir können Ihr Haus versichern. Aber ich kann natürlich nicht garantieren, dass, wenn das Haus abbrennt, Ihrer Mutter die Versicherungssumme ausgezahlt wird.«

Ich kontere und schlage vor, das Haus sehr großzügig zu versichern, zum Beispiel, für umgerechnet 20 000 Dollar. (Das Haus kostet vermutlich viel weniger.)

»Wissen Sie«, erklärt mir der freundliche Versicherungsmann und schaut mich an wie ein Arzt den Patienten, »wir können das Haus für jede beliebige Summe versichern. Ich rate Ihnen dennoch von dem Abschluss ab, weil die Verträge so formuliert sind, dass die Versicherungsgesellschaft immer Ihr Selbstverschulden nachweisen und die Summe nicht auszahlen wird.«

Für den Fall, dass ich diese Logik nicht verstehe, legt er nach: »In unserer Stadt gibt es keine versicherten Häuser. Die Menschen glauben nicht daran, dass sie irgendwann mal ohne Wenn und Aber ihr Geld bekommen. So sieht es aus!«

Die Ukrainer haben in den 90er Jahren zu viele schmerzliche Erfahrungen mit Betrügern gemacht. Anleger und Versicherungsnehmer wurden so oft geprellt, dass sie heute niemandem mehr glauben, der ihnen Geld abnehmen will und dafür irgendwelche zukünftigen Leistungen verspricht. Warum sollten sie da jetzt an eine Krankenversicherung glauben?

Geschäfte macht man in der Ukraine heute nach dem Prinzip: Geld gegen Ware. Ein Wohnungskauf wird zum Beispiel nicht beim Notar, sondern in einer Bankfiliale vollzogen. Notar, Käufer und Verkäufer kommen zum Schalter, dort wird der Vertrag unterschrieben, das Geld auf Blüten geprüft und eingezahlt.

Bewegte Geschichte

Die 2004, in der Zeit des »orangenen« Aufbruchs, offenbar gewordenen Gegensätze der prowestlichen und prorussischen Lager haben tief sitzende Wurzeln in der Geschichte der Ukraine und finden ihren Niederschlag in der gefühlten Spaltung des Landes in Ost- und Westukraine. Das Gebiet der Westukraine war Teil der westlich gelegenen Mächte – von Polen, Litauen, Ungarn, Österreich, Rumänien, der Tschechoslowakei. Dieser Teil gesellte sich – nicht ganz freiwillig – erst 1939 zur Sowjetunion, und damit zur Ostukraine, nach dem Pakt von Hitler und Stalin, in dem Polen zum wiederholten Male aufgeteilt wurde. Seit die sowjetische Rote Armee 1939 Polen überfiel und die (vorwiegend ukrainisch besiedelten) Gebiete okkupierte, gibt es den Begriff »Westukraine«.

Einige dieser Gebiete (Bessarabien und die nördliche Bukowyna) forderte man 1940 unter Gewaltandrohung von Rumänien und schloss sie der Ukraine an.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verschob sich die sowjetische Westgrenze endgültig. Damit fielen einige ehemals tschechoslowakische und polnische Gebiete an die Sowjetunion und formell auch an die Ukraine. Dafür bekam Polen zum Ausgleich Gebiete im Westen – auf Kosten des Kriegsverlierers Deutschland. Polen wurde gewissermaßen gen Westen »verschoben«.

Allgemein bezeichnet man mit dem Begriff »Westukraine« die heutigen Gebiete Wolhynien, Iwano-Frankiwsk, Lwiw, Riwne, Ternopil, Tscherniwzi und Transkarpatien mit einer Gesamtfläche von über 110 000 Quadratkilometern. Das ist um einiges größer als Bayern und Baden-Württemberg zusammengenommen oder in etwa so groß wie die frühere DDR.

Die Verschiebung der westukrainischen Grenze auf die Curzon-Linie1 von 1919 war ursprünglich ethnisch ausgerichtet, was aber nicht bedeutete, dass der neue Grenzverlauf nicht doch private Tragödien mit sich brachte. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es auf beiden Seiten der Grenze zu »ethnischen Säuberungen«, das heißt, zu Vertreibungen von polnischen Bauern aus den Gebieten östlich der Curzon-Linie und von Ukrainern westlich der Linie.

Vor allem diese Umsiedlungen und Vertreibungen von Polen und von Ukrainern – aber auch andere, weiter zurückliegende Konflikte zwischen beiden Nationen – sorgen bis heute für Zündstoff in den polnisch-ukrainischen Beziehungen. Bewegt man sich aber in der westlichen Ukraine, spürt man eine Art Hassliebe: Einerseits fühlen sich viele Westukrainer mit ihren polnischen Nachbarn durch ihre gemeinsamen kulturellen, religiösen und sprachlichen Wurzeln verbunden; viele sprechen Polnisch und Polen ist ihnen näher als Russland. Andererseits schmerzen bis jetzt die Wunden der damaligen Deportationen.

Vertreibung ist ein grauenhafter Akt, das wissen Deutsche nur zu gut. Nach der gewaltigen Verschiebung der Grenzen als Folge des Zweiten Weltkriegs mussten nicht nur Deutsche ihre östlichen Gebiete, die von nun an zu Polen gehörten, verlassen, sondern wurden auch Polen aus den jetzt sowjetisch gewordenen Westgebieten und Ukrainer aus den polnischen Ostgebieten repatriiert. Darüber wurden bereits im September 1944 Verträge zwischen den ukrainischen und polnischen Regierungen geschlossen. Sie sahen einen freiwilligen Bevölkerungsaustausch vor. Die Umsiedlung der Ukrainer aus den polnischen Gebieten war aber von Gewaltausbrüchen begleitet. Um die Räumung zu beschleunigen, wurde den Ukrainern oft das Land entzogen, wurden ukrainische Schulen, Klubs, ukrainische griechisch-katholische Kirchen (katholische Kirche des orthodoxen Ritus) geschlossen. Polnische Quellen besagen, dass zwischen Oktober 1944 und August 1946 etwa eine halbe Million Menschen zwangsumgesiedelt wurden.

Gleichzeitig flüchteten auch Polen aus eben jenen sowjetisch gewordenen Gebieten mit ihrem Hab und Gut in Richtung Polen. Hatte das zumindest aus damaliger Sicht noch den Anschein von Legitimität, so ist das bei der lange generalstabsmäßig vorbereiteten »Aktion Weichsel«, die am 28. April 1947 in Polen begann, fraglich. Als Vorwand zu dieser Aktion nutzte die polnische Regierung den Mord am stellvertretenden Verteidigungsminister, der der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) zugeschrieben wurde, die in den ukrainisch besiedelten polnischen Gebieten auch nach Ende des Weltkrieges für eine eigenständige Ukraine kämpfte. Daraufhin rückten in diese Gebiete sechs Divisionen (etwa 17 000 Soldaten) der polnischen regulären Armee, unterstützt von Militäreinheiten des polnischen Sicherheitsdienstes, ein, um Ukrainer abzuschieben. Namenslisten der ukrainischen Familien (und zwar nicht nur der rein ukrainischen, sondern auch der Mischehen) waren bereits Monate vorher angefertigt worden. Der große Unterschied zu dem früher durchgeführten »Volksumtausch« lag darin, dass Ukrainer nicht Richtung Osten, in ihre ethnischen Gebiete der Sowjetunion, sondern gen Westen, in die ehemals deutschen – und jetzt frei gewordenen – Provinzen, in die neuen Wojewodschaften Olsztyn (Allenstein), Koszalin (Köslin), Szczecin (Stettin), Wrocław (Breslau), Zielona Góra (Grünberg), Poznań (Posen) und Gdańsk (Danzig) abgeschoben wurden. So wurde manch ein Ukrainer deutscher Nachbar. Im Grunde genommen war dies eine Strafmaßnahme, bei der alle Ukrainer in Sippenhaft genommen wurden. Das geschah übrigens in Absprache mit zwei kommunistischen Nachbarn, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, die Schützenhilfe leisteten und die West- bzw. Südgrenze Polens abriegelten.

Die polnischen Machthaber trauten den neuen Umsiedlern nicht und wollten die Aktivitäten der Unabhängigkeitsarmee nicht auch in die Westregionen des Landes hinaustragen. Daher beschloss das polnische kommunistische Politbüro, die Ukrainer im Nordwesten Polens mit einem Mindestabstand zur Landesgrenze von 50 Kilometern und zur Seegrenze von 30 Kilometern neu anzusiedeln. Sie durften zudem nicht mehr als zehn Prozent der Bevölkerung in den jeweiligen Heimatorten ausmachen, um eine rasche Assimilation der Deportierten sicherzustellen. Verwandte und Nachbarn wurden möglichst getrennt. Diejenigen, die sich wehrten oder in ihre Heimatregionen zurückkehrten, verhaftete man.

Die »Aktion Weichsel« in den Sommermonaten des Jahres 1947 verlief nach Augenzeugenberichten außerordentlich brutal. Etwa 150 000 Ukrainer wurden umgesiedelt. 4000 von ihnen, die sich zu widersetzen versuchten, darunter auch Frauen und Kinder, kamen zeitweilig ins ehemalige Außenlager des KZ Auschwitz-Birkenau Jaworzno. Hunderte von Menschen sind dabei umgekommen.