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Der Autor

Pierre-Alain Niklaus, geboren 1970 in Basel, studierte soziale Arbeit in Genf. 2002–2009 Leiter der Anlaufstelle für Sans-Papiers in Basel. Verfasser der ersten Studie über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sans-Papiers in der Deutschschweiz (2004), Mitherausgeber des Buches Zukunft Schwarzarbeit? Jugendliche Sans-Papiers in der Schweiz (2007). Studie über Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von Sans-Papiers (2012). Er arbeitet heute in der Vermittlung von Nachbarschaftshilfe und lebt in Basel.

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 525 0

Inhalt

Unsichtbare Haushaltshilfen

Aus dem Schatten treten

Zwischen Gesetz und Wirklichkeit

Hausarbeit als Broterwerb – ein altes Phänomen

Die gute Fee im Internet

»Es ist, als ob man nur zur Hälfte leben würde«

»Wir nehmen, was man uns gibt«

Die Härtefallregelung

Die Menschen hinter den Härtefällen

Repression und rechtsfreie Räume

Lösungen gibt es – nur nicht in der Schweiz

Rückblick – Ausblick

Literatur

Unsichtbare Haushaltshilfen

400 000 Haushalte in der Schweiz1 leisten sich eine Putzhilfe. In manchen Fällen übernimmt diese Person auch für einige Stunden die Kinderbetreuung oder die Hilfe bei der Pflege älterer und kranker Menschen. Meist sind es Frauen. Von diesen Haushaltshilfen ist selten die Rede. Viele sind unsichtbar. Dies aus gutem Grund. Sie halten sich ohne Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung in der Schweiz auf. Sie sind sogenannte Sans-Papiers. Ihre Zahl wird auf 100 000 oder mehr geschätzt. Etwa die Hälfte von ihnen sind Frauen. Wer sind sie? Wer stellt sie ein? Weshalb?

Da ist zum Beispiel Christine H. Sie ist Schweizerin, über siebzig Jahre alt und lebt in Basel in einer geräumigen 5½-Zimmer-Wohnung. Dort hat sie auch ihr Büro eingerichtet, denn seit ihrer Pensionierung arbeitet sie privat als Psychotherapeutin weiter. Obwohl sie Hausarbeit nicht ungern macht, gab es immer wieder Zeiten, in denen sie im Haushalt Hilfe brauchte. Heute besorgt sie ihn wieder allein.

»Ich schätze die Hausarbeit. Ich habe meine Wohnung gern und mag es deshalb sauber. Eine Wohnung muss man pflegen, damit sie durchatmen kann.

Nach meiner Pensionierung arbeitete ich Teilzeit weiter und kümmerte mich gleichzeitig um meinen Vater in Zürich. Ich habe immer mehr Zeit bei ihm verbracht, weil er sehr alt geworden war, aber noch selbständig zu Hause lebte.

Da ich in dieser Situation dringend jemanden für meine Wohnung brauchte, habe ich in meinem Bekanntenkreis herumgefragt. Ich habe zuvor alles allein gemacht, und dieser Schritt fiel mir nicht leicht. Eine frühere Arbeitskollegin sagte mir, sie kenne eine Frau, die passen könnte. Sie vermittelte mir Mirjeta A., eine Mazedonierin. So bin ich zu einer Sans-Papiers gekommen.

Mirjeta A. war von ihrer Mutter als einziges Kind sehr sorgfältig aufgezogen worden und von ihrem Selbstwert her nicht unbedingt fürs Putzen motiviert. Wir stammen beide aus Künstlerfamilien, wir waren beide in Not, das hat irgendwie gut gepasst. Wir haben dreissig Franken pro Stunde vereinbart, sie war sehr zufrieden. Sie kam vier Stunden pro Woche.

Dass ich mich um meinen Vater kümmerte, hat sie unglaublich beeindruckt. Sie hatte gedacht, in der Schweiz sei das unmöglich, hier schauten die Leute nur für sich. Als ich mich dann einer Operation unterziehen musste, hat sie von sich aus angeboten, sie würde während dieser Zeit zu meinem Vater gehen. Sie hat ihn kennengelernt und dies dann wirklich auf sich genommen. Sie hat für ihn gekocht und dafür gesorgt, dass er seine Medikamente nahm. Geputzt hat sie nicht, mein Vater hatte die Spitex und eine Putzfrau. Sie war mehr wie eine Gesellschaftsdame. Ich habe sie dafür bezahlen wollen, aber sie hat gesagt, in der Familie dürfe man nichts verlangen in ihrem Land. Ich durfte ihr nur die Reise und das Essen bezahlen.

Es entstand ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Das ist für mich das Wichtigste. Als sie von einer Nachbarin verraten wurde, wohnte sie eine Zeitlang bei mir, ich glaube, es waren etwa eineinhalb Monate. Sie half mir dann auch mit meinem Vater, den ich zu mir genommen hatte. Er war sehr schwach geworden und sah fast nichts mehr. Manchmal rief er sechs- bis zehnmal in der Nacht nach mir. Und ich konnte fast nicht mehr weggehen. Die Spitex unterstützte mich zwar, doch es reichte nicht. Ich fragte bei einem privaten Pflegedienst nach, aber er war zu teuer. Bei Bekannten lernte ich dann eine Frau aus Brasilien kennen. Larissa G. war ausgebildete Krankenpflegerin und sprach auch Italienisch. Sie kam stundenweise, für dreissig Franken, und hat mich entlastet. Im Schnitt kam sie zwanzig Stunden pro Woche zu meinem Vater. Sie hat ihn gepflegt und Gymnastik mit ihm gemacht. Wenn er schlafen wollte, war sie da. Sie war einfach bei ihm, manchmal ist sie auch über Nacht geblieben. Manchmal hat sie gekocht und ab und zu Hemden gebügelt. Das hat sie gern gemacht. Larissa G. war da, als mein Vater starb. Ich war nicht da. Und sie als Krankenschwester hat das wunderbar gemacht. Nach dem Tod meines Vaters hat sie zu mir gesagt, in ihrem Land lasse man die Leute, die jemanden verloren haben, vierzig Tage nicht allein. Sie hat vierzig Nächte hier geschlafen. Das ist wahnsinnig.

Ich habe wirklich schöne Dinge erlebt mit diesen beiden Frauen. Mit Mirjeta A. war es so, dass wir immer zuerst zusammen Kaffee getrunken haben. Dann haben wir oft gemeinsam gearbeitet. Wenn der Morgen um war, haben wir zusammen gegessen. Wir hatten es lustig, wir kamen gut aus. Hausarbeit bringt die Menschen zusammen.

Die beiden Frauen waren sehr unterschiedlich. Für Mirjeta A. war das Putzen immer ein wenig ein Problem, es hat an ihrem Ehrgefühl genagt. Bei mir hat sie dann trotzdem sehr gut geputzt. Aber man merkte, dass sie über ihren eigenen Schatten springen musste. Für Larissa G. war die Arbeit wichtig, weil sie so ihre Kinder unterstützen konnte, besonders ihre eine Tochter, die schwer an Krebs erkrankt war. Zudem konnte sie bei mir auch ein wenig in ihrem Beruf arbeiten.

Die Sans-Papiers kommen nicht grundlos. Sie haben alle einen Grund, ob man das verstehen will oder nicht. Ich bin per Zufall in diese Kreise geraten und habe mich verpflichtet gefühlt zu helfen. Mirjeta A. habe ich beispielsweise weitere Arbeitsstellen vermittelt bei Freunden, wo ich sicher war, dass sie auch als Mensch wertgeschätzt würde.

Ich denke, jede Frau hat irgendwie von klein auf mit Arbeit im Haushalt zu tun. Dies hilft ihr dann, hier Arbeit zu finden. Die Hausarbeit kann eine erste Brücke sein, um Fuss zu fassen. Die Sans-Papiers leben in einem Graubereich. Diesen wird es immer geben. Die Schweiz, und auch kein anderes Land, wird nie so offen sein, immer alle aufzunehmen, die kommen möchten. Dennoch wird es immer solche geben, die irgendwie, ob berechtigt oder unberechtigt, kommen.

Ich bin keine, die politisch tätig sein kann. Ich habe lernen müssen, dies zu akzeptieren. Heute weiss ich, dass es auch eine andere Art und Weise gibt, sich zu engagieren.«

Seitenwechsel. Rosa M. ist fünfunddreissig Jahre alt und lebt mit ihren zwei Töchtern in Winterthur. Die ältere ist vierzehn, die jüngere noch keine drei. Rosa M. arbeitet als Raumpflegerin und Kinderbetreuerin in der Agglomeration Zürich. Sie stammt aus Ecuador. Als Waisenkind wächst sie bei ihrer Grossmutter auf. Als die Grossmutter stirbt, zieht Rosa M. zu einer Tante nach Venezuela. Sie besucht das Gymnasium, schliesst es jedoch nicht ab. Sie arbeitet fortan als Eisverkäuferin und in einer Bäckerei. Weitere Etappen in ihrem Leben: Heirat, Geburt der ersten Tochter, Scheidung. Der Exmann kümmert sich nicht um die gemeinsame Tochter. Rosa M. kann kaum auf familiäre Unterstützung zurückgreifen und verdient zu wenig, um sich und ihre Tochter durchzubringen. Per Zufall erfährt sie, dass eine frühere Schulfreundin von ihr schon seit drei Jahren in Zürich lebt, als Sans-Papiers. Dank Familienangehörigen, die in Spanien leben, kann diese junge Frau von der kollektiven Regularisierung der illegal in Spanien lebenden und arbeitenden Migrantinnen und Migranten profitieren, die im Jahre 2001 durchgeführt wird. Sie verlässt Zürich, um sich legal in Spanien niederzulassen. Sie schickt Rosa M. Geld für die Reise in die Schweiz und organisiert eine Wohnmöglichkeit. So erleichtert sie ihr den Start in der Schweiz.

»Zwei Monate nach unserer Ankunft in der Schweiz hatte ich bereits mehrere Arbeitsstellen gefunden. Und ich konnte mit meiner Tochter in eine eigene Wohnung ziehen.

Meine erste Stelle fand ich über die Frau eines Bekannten. Er hat in Venezuela in der gleichen Stadt gelebt wie ich. Er ist mit einer Schweizerin verheiratet. Am Arbeitsplatz erzählte ihr eine Kollegin, die zwei kleine Kinder hat, dass sie eine Haushaltshilfe suche. So wurde ich zum ersten Mal für diese Arbeit empfohlen. Zu einer weiteren Arbeitsstelle kam ich durch eine Freundin, die in ihr Heimatland zurückgekehrt ist. Sie hatte ihre Stelle übers Internet gefunden, und als sie zum letzten Mal dort putzen ging, nahm sie mich mit. Ich bekam die Stelle. Nach und nach kamen weitere Stellen hinzu. Und ich hatte gedacht, es werde schwierig sein, mit einem Kind Arbeit zu finden! Aber dem war nicht so: Ich habe nie eine Anzeige aufgegeben, immer bin ich weiterempfohlen worden. Ich habe immer genug Arbeit.

Am liebsten arbeite ich für Familien. Familien ziehen nicht so schnell weg wie Einzelpersonen. Besonders gern arbeite ich für eine Familie aus den USA, die kurze Zeit vor mir in die Schweiz gekommen ist. Beide Eltern sind in einem Grosskonzern tätig. Sie haben zwei kleine Kinder. Ich arbeite an einem Morgen pro Woche vier Stunden bei ihnen. Wenn ich dort die Wohnung verlasse, muss ich mich sehr beeilen, um zur nächsten Arbeitsstelle zu gelangen. Dort koche ich und betreue die zwei Kinder eines Paares. Ich putze auch die Wohnung. Die Frau ist Ärztin in Zürich, der Mann ist Musiker. Während der Woche lebt er in Lausanne und reist auch sonst viel herum. Den Eltern ist eine gute Betreuung ihrer Kinder wichtig. Deshalb haben sie mich angestellt. Meine Tochter isst jeweils mit uns zusammen Mittag. Vor acht Jahren fing ich an, für diese Familie zu arbeiten. Zu Beginn betreute ich die Kinder von Montag bis Mittwoch den ganzen Tag sowie donnerstags und freitags nachmittags. Jetzt, da die Kinder älter sind und zur Schule gehen, arbeite ich etwas weniger für diese Familie.

Ich arbeite nicht bei allen Arbeitgebern gleich gern. Es gibt sehr angenehme Orte zum Arbeiten, wo wir beispielsweise zuerst Kaffee trinken und über die Kinder und alles Mögliche sprechen. Es gefällt mir, wenn ich beinahe zu einem Teil der Familie werde. Ich putze aber auch Wohnungen, wo ich meine Chefs nie sehe. Ich habe den Schlüssel, gehe jede Woche hin, putze, nehme das Geld und gehe wieder.

Ich habe auch Stellen, die nicht so angenehm sind. Ich arbeite zum Beispiel für einen Mann, der einen Coiffeursalon hat. Läuft das Geschäft gut, ist er freundlich; läuft es schlecht, beschimpft er mich manchmal. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich dort vielleicht nicht mehr hingehen. Andererseits arbeite ich schon lange für ihn. Er ist Ausländer, lebt aber schon sein ganzes Leben in der Schweiz. Sichere Arbeitsstellen sind mir wichtig, daher ertrage ich seine Stimmungsschwankungen.

In den letzten zehn Jahren habe ich auch viele temporäre Arbeitsstellen gehabt. Fast immer waren es Personen in guten Berufen, oft Ausländer, die nach wenigen Jahren in der Schweiz weiterzogen. Auch alleinstehende Männer, die den ganzen Tag auswärts arbeiten. Zu Hause ist es dann meist chaotisch, die Wohnungen sind sehr dreckig. Ich finde das nicht so angenehm. Es gibt auch Leute, die nicht merken, wenn du zehn Minuten zu früh kommst und sofort anfängst zu arbeiten. Wenn du aber früher fertig bist, wird dies immer ganz genau registriert.

Im Allgemeinen bin ich zufrieden mit meiner Arbeit, ich möchte in keinem andern Beruf arbeiten. Ich verdiene meist etwa fünfundzwanzig Franken pro Stunde. Nur bei einer Arbeitsstelle habe ich einen fixen Monatslohn, den ich auch in den Ferien erhalte. Ein Wunsch an die Arbeitgeberinnen? Ein Lohn während der Ferien wäre das Wichtigste, denn oft fahren viele zur gleichen Zeit weg, und dann verdienst du gar nichts. Auch Arbeitsausfälle wegen Krankheit oder wie nach der Geburt meines zweiten Kindes sind Zeiten ohne Verdienst. Und die Rechnungen flattern ja trotzdem regelmässig ins Haus …

Wenn ich arbeite, sind mir Verantwortungsbewusstsein, Pünktlichkeit und Respekt wichtig. Ich denke gern selber mit, mache Vorschläge, was am Arbeitstag oder das nächste Mal Besonderes für den Haushalt gemacht werden könnte. Ich warte nicht einfach passiv auf Anweisungen. Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sollen merken, dass ich den Haushalt regelrecht umsorge, dass ich meine Arbeit liebe. Ich möchte nicht einfach nur Geld verdienen, ich möchte die Menschen glücklich machen! Ich empfinde es als etwas sehr Angenehmes, ja Befriedigendes, eine Wohnung geputzt und aufgeräumt zu verlassen.

Möglichst wenig Leute sollen über unsere illegale Situation Bescheid wissen. Ich erzähle deshalb neuen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern meist nicht, dass ich ohne Bewilligung in der Schweiz lebe. Ich frage nur, ob sie mich deklarieren wollen. Wenn sie darauf bestehen, verzichte ich auf die Arbeitsstelle. Aber eine Kranken- und Unfallversicherung habe ich, das ist sehr wichtig, vor allem die Unfallversicherung, denn so sind die Leute, die mich anstellen, einigermassen beruhigt.

Ich fühle mich wohl in der Schweiz, ich bin zwar nicht reich, lebe aber gut. Kaum eine Schweizer Familie würde in einer so kleinen Wohnung leben mit zwei Kindern, aber in Südamerika ist das völlig normal. So empfinde ich das nicht als Problem. Ich vermisse nichts aus meinem Herkunftsland, ich fühle mich integriert. Aber eine Aufenthaltsbewilligung hätte ich schon gern, denn mit einer Bewilligung könnte ich freier leben.

Am meisten Sorgen macht mir die fehlende Bewilligung wegen meiner Tochter. Sie ist in der Adoleszenz, sie geht mit Jugendlichen ihres Alters aus, und es könnte ja etwas Blödes passieren. Ich kann mir kaum vorstellen, in einigen Jahren immer noch als Sans-Papiers zu leben, mit zwei Kindern, die ältere Tochter dann schon erwachsen. Die Unsicherheit ist schwer zu ertragen. Das fängt damit an, nicht zu wissen, ob man schon am nächsten Tag kontrolliert wird. Nicht zu wissen, ob man vielleicht genau jetzt von jemandem denunziert wird. Ich habe Angst, deportiert zu werden, ich habe Angst, dass meine Tochter in der Schule diskriminiert wird. Bisher habe ich – Gott sei Dank – die Situation im Griff. Niemand hat etwas gemerkt.

In der Schweiz habe ich illegal mehr wirtschaftliche und persönliche Möglichkeiten als legal in meinem Herkunftsland. Die Arbeit der Sans-Papiers in den Schweizer Haushalten ist doch sehr wichtig. Es gibt so viele Personen, die nicht putzen und auch nicht als Kinderbetreuerinnen arbeiten wollen. Die Politik sollte den Immigrantinnen mehr Respekt entgegenbringen. Es sollte nicht sein, dass Leute ausgeschafft werden, ohne dass ihre Situation geprüft wird, ohne dass beachtet wird, welch wichtige Arbeit sie machen. Wir Sans-Papiers sollten nicht schlechter gestellt werden als Leute, die von der Sozialhilfe leben. Unsere Situation empfinde ich als ungerecht.«

Die beiden Berichte geben Einblicke in Lebenswelten, die vielen Menschen in der Schweiz verborgen bleiben. Diese versteckte Wirklichkeit soll mit dem vorliegenden Buch erfahrbar und verständlich gemacht werden, denn die Fragen, die durch Geschichten wie jene von Rosa M. und Christine H. für jeden Einzelnen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes aufgeworfen werden, sind zu wichtig, als dass nicht darüber gesprochen werden sollte.

Für dieses Buch habe ich ausführliche Gespräche mit zehn Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern von Sans-Papiers geführt sowie mit sieben Migrantinnen und Migranten, die irregulär in Haushalten arbeiten.2 Die Arbeitgebenden sind Familien mit Kindern, Alleinstehende und ältere Menschen – Schweizerinnen und Schweizer, aber auch Menschen, die selber vor kurzer oder längerer Zeit in die Schweiz eingewandert sind. Darunter sind Karrieremenschen und sozial Engagierte, gut und weniger gut verdienende Menschen; die einen haben schon lange Hausangestellte, bei anderen handelte es sich um eine einmalige Erfahrung. Durch die Gespräche erhielt ich eine Ahnung davon, wieso hierzulande vermutlich um die 100 000 oder mehr Haushalte Menschen beschäftigen, die sich gar nicht in der Schweiz aufhalten dürften, und sich damit strafbar machen. Die interviewten Hausangestellten (darunter auch ein Mann) stammen aus Südamerika, Westafrika und Vorderasien. Alle sprachen bereitwillig über ihren Lebens- und Arbeitsalltag in der Schweiz, über ihre Einstellung zur Arbeit, die Schwierigkeiten eines Lebens in der Illegalität und über ihre Emigration.

Neben den Gesprächen fliessen auch die intensiven Erfahrungen in diesen Bericht mit ein, die ich von 2001 bis 2009 mit Sans-Papiers, Behörden und unterschiedlichsten Menschen aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen gemacht habe. Nach der Gründung der Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel im Herbst 2002 lernte ich über die Beratungsarbeit Hunderte von Sans-Papiers näher kennen. So verschieden die Schicksale dieser Menschen gewesen waren, bevor sie das Büro der Anlaufstelle betraten, so unterschiedlich entwickelten sich ihre Lebensgeschichten danach weiter.

Manchen ist es bis heute nicht gelungen, ihren Aufenthalt zu regeln. Alicia R. zum Beispiel, eine Bekannte von Rosa M., hatte in Kolumbien die Kinder einer Familie aus der Schweiz betreut und deren Haushalt geführt. Als die Familie nach mehrjährigem, beruflich bedingtem Aufenthalt im Jahre 1989 Kolumbien wieder verliess, ermunterten sie Alicia R., doch mit ihnen in die Schweiz zu kommen, was sie tat. Neunzehn Jahre später wagte Alicia R. den Versuch, ihren bis dahin ungeregelten Aufenthalt zu legalisieren. Sie reichte ein Härtefallgesuch ein. Obwohl ihr Wohnkanton dem Legalisierungsgesuch positiv gegenüberstand, wurde das Begehren vom Bundesamt für Migration abgelehnt. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte dann ihre Beschwerde ohne grosse Diskussion ab. Die Hoffnung, nach so langer Zeit endlich ein normales Leben führen zu können, wurde enttäuscht.

Anderen Sans-Papiers gelang es hingegen, nach Jahren der Unsicherheit beispielsweise über eine Heirat ihren Status zu legalisieren. Andere wiederum wurden unter Zwang ausgeschafft, reisten freiwillig zurück oder in andere Länder weiter.

Wie die Schweizer Behörden mit Sans-Papiers umgehen, ist beschämend. Mehr als einmal wurde mir beinahe entschuldigend gesagt, Frau XY habe eben Pech gehabt, man wolle die Sans-Papiers gar nicht aktiv verfolgen, aber jetzt könne man nicht anders, als dem Gesetz Genüge zu tun. Wer mit Sans-Papiers arbeitet, macht aufschlussreiche, oft auch erschütternde Erfahrungen – mit knallharten Richtern, mit überforderten Polizisten, mit Willkür und »rechtsfreien Räumen«. Solche Erlebnisse waren für mich Ausgangspunkt und Motivation für weiter gehende Recherchen zum Themenkomplex Schwarzarbeit und Illegalität. Die Erkenntnisse daraus flossen ebenfalls in dieses Buch ein.

Gesetze werden von Politikern gemacht. Wo rechtsfreie Räume entstehen, muss nach den Ursachen gefragt werden. Sind die Gesetze schlecht? Ist die Realität einfach eine andere? Sind die Bestimmungen des Ausländerrechts schlicht und ergreifend nicht durchsetzbar? Was bedeutet das? Was müsste geschehen, damit es anders wird? Der Kanton Genf versuchte 2005, pragmatisch im Rahmen einer einmaligen Aktion die in privaten Haushalten tätigen Sans-Papiers zu regularisieren und die Arbeit in Haushalten als eigentlichen Wirtschaftssektor zu verstehen. Wie es dazu kam, wie der Vorstoss versandete und was das zu bedeuten hat, darüber gab mir Martine Brunschwig Graf (Liberale Partei Genf), die damals im Genfer Staatsrat als Regierungspräsidentin für das Dossier zuständig war, Auskunft.3 Für sie gibt es für diese Politik nur ein Wort: hypocrisie, zu Deutsch: Heuchelei.

Aus dem Schatten treten

Blenden wir zurück. Anfang 2001 weiss kein Mensch, was ein Sans-Papiers ist. Danach geht es Schlag auf Schlag: Am 25. April 2001 erhalten Dutzende Familien aus dem Kosovo in der Kirche Bellevaux in Lausanne Kirchenasyl. Die Bewegung »En quatre ans on prend racine« (»In vier Jahren schlägt man Wurzeln«) kämpft nach Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel auf diese Weise gegen die Wegweisung der betroffenen Familien, die schon seit vielen Jahren mit ihren Kindern im Kanton Waadt leben. Das Kirchenasyl ist eine Reaktion auf die als übertrieben hart empfundene Rückführungspolitik des Bundesamtes für Migration.

In Fribourg treffen sich zur gleichen Zeit Migrantinnen und Migranten, die zum Teil schon seit Jahren in der Illegalität leben. Sie schliessen sich zum Collectif des Sans-Papiers de Fribourg zusammen. Gemeinsam mit einer Unterstützungsgruppe (Collectif de Soutien aux Sans-Papiers) beschliessen sie, aus dem Schatten zu treten: »sortir de l’ombre«. Sie besetzen an Pfingsten 2001 die Kirche Saint-Paul in Fribourg und erklären, erst wieder abzuziehen, wenn die Schweiz eine kollektive Regularisierung aller Sans-Papiers durchführe. Sie veröffentlichen das Manifest der Sans-Papiers von Fribourg und der ganzen Schweiz.

Viele Sans-Papiers legen ihre Angst ab, demonstrieren in aller Öffentlichkeit, geben Interviews in Zeitungen, Radio und Fernsehen. Zum Beispiel Maria B. aus Ecuador. Sie verliess Südamerika 1997 und reiste in die Schweiz ein. Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt, dennoch blieb sie. Die öffentlichen Auftritte von Maria B. sind eindrücklich. Sie ist 2001 an jeder Sans-Papiers-Demonstration anwesend, spricht immer selbstbewusster in aller Öffentlichkeit vor grossen Menschenmengen, gibt ein Interview nach dem anderen. Je mehr Menschen Maria B. kennt und je mehr Menschen sie kennen, desto sicherer fühlt sie sich. Sie überzeugt unzählige andere Sans-Papiers, ihre Angst abzuschütteln und aus dem Schatten zu treten. Mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit fordert sie lautstark die kollektive Regularisierung aller Sans-Papiers in der Schweiz. Gegenüber einer Journalistin der Wochenzeitung WOZ4 sagt Maria B.: »Wie ich bis heute überlebt habe, weiss ich selbst nicht. Ich verdiene ein paar Franken mit Hausarbeit. Kochen, Putzen, Bügeln, Gartenarbeit, Kinder hüten. Wir nehmen, was man uns gibt, wir haben keine Wahl. Wir arbeiten, wenn es Arbeit gibt, auch sechzehn Stunden am Tag oder mehr. Für fünf Franken die Stunde, manchmal zehn, vielleicht auch einmal zwanzig Franken.« Zum ersten Mal, seit sie in der Schweiz sei, habe sie das Gefühl zu existieren. »Vorher waren wir wie Schatten.«

Nur ein Schatten seiner selbst zu sein: Dieses Gefühl kennen viele. Auch Gérard F. und seine Frau, die aus Bulgarien in die Schweiz geflüchtet sind, nachdem die Mafia ihr Restaurant abgebrannt hatte, weil sie das geforderte Schutzgeld nicht zahlen wollten. Nach Ablehnung ihres Asylgesuchs tauchen sie unter. Er arbeitet für fünf Franken pro Stunde bei Bauern, sie putzt für fünfundzwanzig Franken stundenweise private Haushalte im Laufental. Gérard F. erzählt eindrücklich, wie sich die Angst vor Polizeikontrollen anfühlt, wie demütigend der Arbeitsalltag als Schwarzarbeiter ist, wie die Sorge einen ständig begleitet, dass man erkranken oder verunfallen könnte. Auch für Gérard F. und seine Frau stellt die Sans-Papiers-Bewegung einen Wendepunkt dar. Sie schöpfen wieder Mut; eine gewisse Zuversicht, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft kehren in ihr Leben zurück.